Eurasische Räusche

Vladimir Sorokin gestaltet in „Telluria“ eine Kontinuität des angstfreien und blinden Selbstvertrauens als Drogenerfahrung

Von Raphaela BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Raphaela Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist es, das Vladimir Sorokins neuesten Weltentwurf im Innersten zusammenhält? Das ist die erste, sich aufdrängende Frage nach der Lektüre des rauschartig-bunten Zukunftsromans „Telluria“. Der Entwurf des mit der heutigen Wirklichkeit nicht zu identifizierenden zukünftigen Eurasiens, in dem technologische Neuerungen steampunkartig mittelalterlich daherkommen, Riesen, Zwerge und bizarre Peniswesen ebenso selbstverständlich zur menschlichen Sphäre gehören wie genmanipulierte Mischformen von Menschen mit anderen Säugetieren, hat eine große Stärke: Er macht extrem neugierig auf diese oft so fremde und doch wieder auf erschreckende Weise vertraute Welt, auf die unterschiedlichen Schicksale der vielgestaltigen Geschöpfe, auf die Organisation der Staaten, die geopolitischen Gegebenheiten – auf all die Rätsel, die der Roman aufgibt, die aber leider zu keinem Zeitpunkt gelöst werden. Denn das ist die große Schwäche dieser schillernden Vision: Sie bleibt ein postmodernes Spiel, in dem viele Ideen und Handlungsstränge angedeutet, aber nie ausgeführt werden, so dass sie beliebig und austauschbar werden.

Dabei sind postmoderne Zukunftsvisionen derzeit en vogue und gerade für Sorokins Schaffen keineswegs neu. Steht doch „Telluria“ in einer Reihe mit den Romanen „Der Tag des Opritschniks“ (2008), „Der Zuckerkreml“ (2010) und zuletzt „Der Schneesturm“ (2012) des einstigen Konzeptkünstlers und enfant terrible der russischen Literatur. Sorokin ist berühmt als Provokateur und Unbequemling, der mit Vorliebe keine massenverdaulichen Gewaltszenen und Schreibexperimente gestaltet. Nachdem der zuletzt äußerst erfolgreiche „Schneesturm“ mit seiner stringenten Erzählhandlung, Novellenartigkeit und pseudorealistischen Erzählweise allerdings schon vermuten ließ, Sorokin habe sich und seiner erzählerischen Maßlosigkeit neuerdings Zügel anlegen lassen, knüpft „Telluria“ wieder an seine ursprünglichen stilistischen Mixturen an.

Die Bandbreite der 50 Kapitel zeigt die bei Sorokin bereits bekannten Anleihen an traditionelle Erzählungen aus dem russischen Realismus, geht aber mit Fantasy-Versatzstücken, Familiensaga-Splittern, Abenteuer-Erzählung, Science-Fiction, Ego-Shooter-Szenen, Songs, Gedichten und politischen Manifesten sehr weit darüber hinaus. Das alles ist durchaus virtuos, pompös, kreativ und phantasievoll, bisweilen witzig oder extrem verstörend, aber es will sich nicht zu einer Romaneinheit verdichten. Stattdessen treibt Sorokin ein postmodernes Spiel, das bei der 56. Biennale darin gipfelt, dass er einen tellurischen Pavillon unterstützte, der die Verbindung der offenkundig uchronisch-dystopischen Welt des Geschriebenen mit der visuellen Präsenz und Realität der bildenden Kunst darstellte. Die Illusion soll also die eines posteuropäischen Eurasien sein, das kaleidoskopartig in seinen verschiedenen Facetten gezeichnet wird.

Die Idee ist gut, allein: das Einzige, das die an sich miteinander unverbundenen Einzelkapitel „zusammenhält“, ist die Präsenz der rätselhaften Droge Tellur. In jedem Kapitel hat sie einen ‚Auftritt‘. „Telluria“ ist insofern nicht das geopolitische eurasische Reich, sondern das durch die Droge und die Berichte um sie zusammengehaltene, gleichermaßen geistige, rauschhafte wie dann letztlich auch lokal begrenzte Reich des Konsums. Denn gleichzeitig zur ausgedehnten Konsumsphäre Eurasien existiert es doch: das kleine Land Tellurien, an seinen Grenzen vor unbefugten und rauschbegierigen Eindringlingen gut geschützt. Dort wird es abgebaut, das Tellur, die Droge selbst, die dem Konsumenten unter großer Gefahr für Leib und Leben ganz und gar buchstäblich als Nagel oder Keil in den Schädel geschlagen wird.

Dass das Land wie auch seine Droge den Bereich des Traums, der Visionen, der Machtgier, auch den der Selbstfindung- und Erweiterung im wörtlichen wie übertragenen Sinne verbinden, zeigt sich in der Vielfalt der Tellureinsätze. Denn bei Tellur handelt es sich nicht um eine Droge im üblichen Sinne: Der leitmotivisch eingesetzte metallische Stoff, dessen Wirkung zwischen dem Erwecken der untergründigsten Wünsche und Sehnsüchte der Psyche, der Wiederbegegnung mit Toten, dem Erleben eigener Stärken, unbedingtem Optimismus und Selbstvertrauen oszilliert, vermag eine riesige Bandbreite von Wahrnehmungen freizusetzen wie etwa die Erfahrung großen Glücks, die Überwindung von Schmerz, die extremsten Ausprägungen großer Langeweile oder den Eindruck pseudogöttlicher, spiritueller Erkenntnis. Tellur macht nicht im physischen Sinne abhängig, sondern es weckt schon vor der Einnahme bei der Mehrzahl der präsentierten Bewohner Eurasiens ihre ureigenen Begehrlichkeiten. Es verstärkt das, was in Ihnen bereits vorhanden ist, es lässt sie dabei aber ihre Unzulänglichkeiten derartig vergessen, dass sie sich fühlen und verhalten können wie die heldenhafte Version ihrer Selbst.

Die Wirkung ist daher so breit gefächert wie die Wünsche und Lebensentwürfe der Individuen. Und so ist „Telluria“ ein Text, der die verrücke, unvereinbare Vielfalt der eurasischen Welt in ihrem heimlichen und unheimlichen Potenzial abbilden will, der anregend winzige Einblicke in 50 kleine Subwelten gibt, der ein Porträt einer großen Welt in ganz kleinen Momentaufnahmen sein will, der aber leider genau deshalb kein Roman ist. Sorokin erzählt alles ein wenig und doch nichts richtig und lässt einen Leser mit Freude an Verknüpfungen und Verwicklungen von Handlungen ebenso enttäuscht zurück wie nach einem Klickmarathon durch das ewigwährende Labyrinth des genauso eklektizistischen Weltenabbilders World Wide Web.

Titelbild

Vladimir Sorokin: Telluria. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen vom Kollektiv Hammer und Nagel.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015.
400 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783462048117

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