Gesänge eines modernen Orpheus

Ralph Dutli gibt das Ossip-Mandelstam-Lesebuch „Bahnhofskonzert“ heraus

Von Stefan TuczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Tuczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der russisch-amerikanische Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky nannte Ossip Mandelstam einen modernen Orpheus. Diesem war der sagenhafte Jüngling, der mit seiner Musik und wundervollen Stimme jeden Zuhörer in seinen Bann schlug, in die Unterwelt hinabstieg, um seine Geliebte zurückzuholen, daran jedoch scheiterte und sich vor lauter Kummer von wildgewordenen Frauen, die seine göttliche Musik hörten, zerreißen ließ. Orpheus ist eine tragische Figur: In künstlerischer Weise ist er vollkommen, aber im Inneren ist er voller Trauer und tiefem Kummer. Brodskys Vergleich passt daher perfekt auf Mandelstam: Mandelstams Lyrik hat für andere Dichter – wie Paul Celan und Vladimir Nabokov – Vorbildcharakter, denn er hat längst die normalen Wege der Ausdrucksmöglichkeiten von Lyrik verlassen und einen übergeordneten Weg ins Vollkommene und Wahre eingeschlagen. Privat sah es für Mandelstam jedoch düster aus: Im sowjetischen Russland wurde sein Werk aufgrund seiner literarischen Kritik an Stalin verboten, er wurde festgenommen und verbannt. Der Hass und das Verbot seiner Texte schlugen sich in Krisen nieder, die mit Selbstmordversuchen endeten. Auch wenn Mandelstam privat so sehr litt, hinterließ er dennoch ein mannigfaltiges Werk, das seinen Rang als einer der wichtigsten Lyriker des 20. Jahrhunderts begründete.

Der Lyriker, Romanautor, Essayist, Übersetzer und Herausgeber Ralph Dutli hat für deutschsprachige Leser nicht nur eine kenntnisreiche Mandelstam-Biografie vorgelegt, sondern auch dessen Gesamtwerk ins Deutsche übersetzt und herausgegeben. Dutli hat sich damit verdientermaßen als Mandelstam-Kenner profiliert. Als eine Art Summe seiner Beschäftigung mit dem Autor und quasi als Einführung in das Schaffen dieses außergewöhnlichen Schriftsellers hat er nun ein Mandelstam-Lesebuch herausgegeben. In seinem Nachwort schreibt Dutli, dass der potenzielle Leser mithilfe dieses Buches das Werk Mandelstams wieder oder neu entdecken soll. Das ist ihm zweifelsohne gelungen.

Das Lesebuch selbst gliedert sich in zwölf Kapitel, die jeweils den Namen des entsprechenden Lyrikbandes, der Essaysammlung oder des Prosawerks tragen, woraus Dutli diese wunderbaren Kostproben des Œuvre schöpft. Und dies mag besonders wichtig sein: Nicht nur die vielgelobte Lyrik Mandelstams steht im Zentrum der Sammlung, sondern sie wird gleichwertig neben die essayistischen und prosaischen Arbeiten desselben gestellt. Wer nun Mandelstam bisher nur als Lyriker wahrgenommen hat, wird ihn hier auch als gewitzten und pointierten Selbstironiker kennenlernen, wenn man die Ausschnitte aus „Mandelstam lacht“ liest, und als programmatischen Essayisten des Akmeismus, wenn man sich das Kapitel „Über den Gesprächspartner“ genauer ansieht. Aber auch die autobiografische Prosa und Auszüge aus dem Briefwechsel mit Mandelstams geliebter Nadeschda, die nach seinem Tod so sehr für sein Werk kämpfte, finden sich hier. Dutlis Bemühungen, dass man Mandelstam in diesem Lesebuch in allen seinen Facetten kennenlernen kann und soll, haben sich gelohnt: Nirgendwo anders findet man ein so gehaltvolles Extrakt aus Mandelstams Werk wie hier. Auch muss man Dutli dafür loben, dass er es geschafft hat, Mandelstams monumentales Essay „Gespräche über Dante“ in ein paar wenigen wichtigen Kernsätzen zu bündeln, ihn jedoch nicht auf ein paar bloße Aphorismen zu reduzieren.

Den Abschluss des Bandes bildet das übliche Verzeichnis der deutschen Quellen, aus denen Dutli die Ausschnitte zitiert, eine Zeittafel über Mandelstams Leben sowie eine Seite mit Zitaten anderer Dichter über ihn. Das von Dutli geschriebene Nachwort informiert darüberhinaus über den (programmatischen) Inhalt und die Wichtigkeit der ausgesuchten Textstellen. Obwohl das Nachwort sehr kurz ausgefallen ist, fühlt man sich als Leser perfekt in das Schaffen Mandelstams eingeführt. Wem das an Informationen dennoch nicht genügen sollte, der kann dann zu Dutlis „Mandelstam. Eine Biographie“ (2005) greifen.

Das Lesebuch lädt zum Kennenlernen und Wiederentdecken dieses großen Schriftstellers ein, wobei nicht nur der Lyriker sondern auch der Essayist und Prosaist Mandelstam hier zu Wort kommt. Dutli beweist mit der Sammlung nicht nur seine Liebe und seine enorme Kenntnis des Autors, sondern er setzt ihm auch ein kleines Denkmal.

Titelbild

Ossip Mandelstam: Bahnhofskonzert. Das Ossip-Mandelstam-Lesebuch.
Herausgegeben von Ralph Dutli.
Übersetzt aus dem Russischen von Ralph Dutli.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2015.
389 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-13: 9783596906017

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