Noch immer hochaktuell

Neu zusammengestellte Anthologien laden dazu ein, den Dadaismus zu entdecken

Von Jonas NesselhaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Nesselhauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was am 5. Februar 1916 im Cabaret Voltaire in Zürich, im oberen Stockwerk des Eckgebäudes zur Spiegelgasse, einer jener steil ansteigenden Quergassen und lediglich einen Block vom Limmatquai und dem Rathaus entfernt, tatsächlich passierte, lässt sich nur noch schwer rekonstruieren. Es gehört zum legendären Gründungsmythos des Dadaismus, dass an jenem Abend das bisherige Verständnis von Kunst strapaziert und ein neues ästhetisches Denken geschaffen wurde – durch die oft zitierte Umkehrung von Sinn und Unsinn.

Die wohl bekannteste Fotoaufnahme dieser Zeit zeigt den Künstler Hugo Ball in einem metallisch wirkenden Kostüm auf der Bühne, umrahmt von zwei Notenständern; sein Oberkörper befindet sich in einem senkrechten Kreiszylinder, der bis zu den Knien reicht; Arme, Beine und Kopf sind ebenso in kleinere kubistische Rollen gesteckt, so dass nur das Gesicht zwischen diesen geometrischen Formen (inklusive eines auf den Schultern aufliegenden, trapezförmigen Umhangs) hervorschaut. Dieses höchst aerodynamische Raketenmännchen – tatsächlich ein ‚magischer Bischof’ – verlas Lautgedichte, die das Publikum (wohl vorwiegend Studenten) sicher zunächst befremdeten, etwa:

ombula
take
bitdli
solunkola
tabla tokta tokta takabla
taka tak
Babula m’balam
tak tru – ü
wo – rum

Niemand hätte wohl erahnen können, welche nachhaltige Wirkung die „Künstlerkneipe Voltaire“ (so zunächst die Ankündigung) und die dort präsentierten Lautgedichte und Performances hatten. Junge Künstler wie Hans Arp, Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Marcel Janko und Tristan Tzara, die oftmals bereits im Kontext des Expressionismus ausgebildet beziehungsweise tätig waren und nun vor dem 1914 begonnenen Weltkrieg in die Schweiz emigrierten, erhoben den revolutionären „Dada“ zur universellen Kunst- und Lebensform, die schnell auf quasi alle Gattungen der bildenden und darstellenden Künste Anwendung fand und in andere Länder exportiert wurde (etwa nach Berlin, Paris und New York).

Natürlichen waren auch die Manifeste und Aktionen anderer Avantgarden dieser Zeit um eine größtmögliche und allumfassende Übertragbarkeit bemüht und fanden in anderen Ländern Verbreitung: Der technologie-, fortschritts- und kriegsbegeisterte (italienische) Futurismus um Filippo Tommaso Marinetti wollte ebenfalls möglichst alle Lebenslagen – von der ‚Kunst‘ des Kochens bis hin zur ‚Kunst‘ des Verführens in „La cucina futurista“ (1932) beziehungsweise „Como si seducono le donne“ (1917) – abdecken, und der Surrealismus bemühte sich in seiner zunächst stark freudianischen Prägung etwa um die Erweiterung menschlicher Sinnesbereiche (Traum und Unterbewusstsein) oder die explizite Öffnung des Kunstbegriffs auf ‚primitive‘ Werke. Doch der Dadaismus war in den Augen seiner Künstler mehr als nur eine Kunst, er war ein allumfassender und der Bürgerlichkeit wie dem verheerenden Krieg entgegengestellter Lebensbegriff, gleichzeitig alles und nichts, und stets jedem Definitionsversuch enthoben. So lässt sich auch heute noch der eigentlich entscheidenden Frage „Was ist Dada?“ nur mit den Ansätzen der zeitgenössischen Künstler nachspüren: „Dada wurde in einem Lexikon gefunden, es bedeutet nichts.“ (Richard Huelsenbeck) – „Dada ist ein Geisteszustand.“ (André Breton) – „dada ist die einzige Sparkasse, die in der Ewigkeit Zins zahlt.“ (Raoul Hausmann)

Ob es nun ironisch oder doch sehr bezeichnend für den kommerzialisierten Kunstbetrieb ist, dass jetzt, ziemlich genau 100 Jahre später, dem Dadaismus eine so große Aufmerksamkeit widerfährt, sei dahingestellt. Den Dadaisten der ersten Stunde hätte es sicher gefallen, schlossen sie ihre erste offizielle dadaistische Erklärung doch mit dem Satz: „Gegen dies Manifest sein heißt, Dadaist sein!“

Die bis heute andauernde starke Faszination dieser widersprüchlichen, revolutionären, allumfassenden lebensphilosophischen Kunstrichtung zeigt sich in diesem Frühjahr an unzähligen Fernsehdokumentationen, Sonderbeilagen in Zeitungen und Magazinen[i], Ausstellungen und Veranstaltungsreihen[ii] und schließlich an Neuerscheinungen von kunsthistorischen oder literaturgeschichtlichen Darstellungen, Biografien zur Bewegung oder Anthologien mit Texten und Manifesten.

So legt der Reclam Verlag die Sammlung Dada total. Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder als gebundenes Buch wieder neu auf, bringt aus seiner Reihe „… zum Vergnügen“ aber auch gleichzeitig eine handliche Anthologie dadaistischer Texte auf den Markt, die von Hermann Korte und Kalina Kupczynska herausgegeben wird. Die in vier Sektionen geordneten, über 60 kurzen Texte geben einen guten Überblick und stellen für eine erste Annäherung an Dada einen idealen Einstieg dar. Die versammelten Manifeste, Gedichte und Essays aus der Zeit zwischen 1916 und Mitte der 1920er-Jahre werden durch einige Fotografien ergänzt und von einem kurzen einleitenden Vorwort der Herausgeber begleitet. Die Auswahl bringt exemplarisch das literarische Schaffen der ersten Dada-Generation zusammen und umfasst sowohl die Gründungsmitglieder aus Zürich als auch Künstler der späteren ‚Dependancen‘  Berlin (George Grosz, Raoul Hausmann), Hannover (Kurt Schwitters), Köln (Johannes Theodor Baargeld, Max Ernst) und Paris (André Breton, Benjamin Péret).

Im Gegensatz zum unaufgeregt-nüchternen Reclam-Büchlein stellt der von Andreas Puff-Trojan und H.M. Compagnon herausgegebene Dada Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction mit seiner Zusammenstellung von Textbildern, Lautgedichten und Manifesten ein sensationelles Leseereignis dar. Zwar sind die ausgewählten Texte oftmals deckungsgleich, und natürlich beinhaltet diese im Manesse Verlag erschienene Anthologie ebenso etwa Kurt Schwitters „An Anna Blume“, Tristan Tzaras ‚Anleitung‘ „Um ein dadaistisches Gedicht zu machen“ oder die zentralen Manifeste und Pamphlete, doch die hochwertige bibliophile Ausstattung und die spielerisch-raffinierte typografische Gestaltung lassen Dada hier zum wahrhaftigen Erlebnis werden. Abgerundet wird diese bildhafte Präsentation der Texte durch einen umfangreichen und lesenswerten Appendix.

Ob als preiswertes Taschenbuch oder als hochwertiger Almanach – ein Verdienst beider Anthologien ist es, den Dadaismus nun vielleicht auch einer nächsten Generation von Lesern (und damit Entdeckern sprachlicher Experimentierkunst) erfahrbar zu machen. Denn trotz der zeitlichen Distanz wirkt die rebellische Anti-Bewegung der jungen Künstler, vom Krieg entsetzt, vom klassischen Kunstverständnis entfremdet und von der Gesellschaft enttäuscht, auch gut 100 Jahre später noch hochaktuell. Vor allem aber motiviert Dada, die Grenzen der Kunst auszuloten, und schließlich steckt ja auch in Unsinn und Wahnsinn doch noch immer Sinn.

Anmerkungen:

[i] Aus der Masse seien lediglich der umfangreiche Themenschwerpunkt im Art Magazin (Januar 2016) und die spannend gestaltete Sonderausgabe des Feuilletons („FUELLT EI ON“) der Süddeutschen Zeitung (06./07. Februar 2016) hervorgehoben.

[ii] Natürlich auch in Zürich, wo beispielsweise Sonderausstellungen im Kunsthaus, dem Landesmuseum und dem Museum Rietberg den Dadaismus wieder anschaulich machen, und das Cabaret Voltaire bis in den Sommer hinein Performances, Lesungen und Diskussionen veranstalten wird.

Titelbild

Karl Riha / Jörgen Schäfer (Hg.): DADA total. Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder.
Reclam Verlag, Ditzingen 2015.
384 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783150110416

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hermann Korte / Kalina Kupczynska (Hg.): Dada zum Vergnügen.
Reclam Verlag, Stuttgart 2015.
173 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-13: 9783150192153

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Andreas Trojan / H. M. Compagnon (Hg.): DADA-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction. Lautgedichte – Textbilder – Manifeste.
Zweifarbig geprägter und gedruckter Pappband.
Manesse Verlag, München 2016.
176 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783717540915

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