Porträt einer Fußnotenexistenz
Holger Pils, Britta Dittmann und Manfred Eickhölter legen mit „Ganz entre nous“ einen informativen Band über den Juristen und Lyriker Maximilian Brantl als Korrespondenzpartner Thomas Manns vor
Von Michael Pilz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer sich mit der Geschichte des literarischen Feldes im München des frühen 20. Jahrhunderts beschäftigt, wird seinem Namen sicherlich schon an der einen oder anderen Stelle begegnet sein: Maximilian Brantl, 1881 in München geboren und 1951 in Prien am Chiemsee gestorben, war seines Zeichens Rechtsanwalt und als solcher unter anderem als Syndikus des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller für die Ortsgruppe München tätig. Nicht nur aus beruflichen Gründen, sondern auch seiner bibliophilen und schriftstellerischen Neigungen wegen stand Brantl mit zahlreichen Größen des Literaturbetriebs in Kontakt und hat entsprechende Spuren hinterlassen, die freilich oft genug von den viel befahrenen Prachtstraßen weg auf die überwachsenen Pfade des Feldes führen. Hans Carossa etwa – heutzutage kaum mehr gelesen – hat Brantl in seiner Autobiografie Führung und Geleit von 1933 ein einfühlsam gezeichnetes Porträt von mehreren Seiten Länge gewidmet, und auch in Hans Brandenburgs Memoiren Im Feuer unserer Liebe von 1956, die immerhin zum spezielleren Kanon der Erinnerungsliteratur über die Schwabinger Künstler- und Literatenszene um 1900 zählen, hat Brantl seinen Auftritt. Darüber hinaus hat sein umfangreicher Briefwechsel mit dem befreundeten Heinrich Mann schon 1968 in den Weimarer Beiträgen eine von Ulrich Dietzel betreute Auswahledition erfahren.
Seine zwischen 1906 und 1947 in Kleinstauflagen, zuletzt im bibliophilen Verlag von Heinrich F. S. Bachmair in Starnberg erschienenen Gedichtbände dagegen sind heute in völlige Vergessenheit geraten – wobei „Vergessenheit“ suggeriert, dass sie zu Lebzeiten überhaupt über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügt haben würden, was aber kaum der Fall war.
Insofern ließe sich Brantl durchaus treffend mit einem Epitheton belegen, das Dirk Heißerer in einem anderen Kontext für den berühmten Zeichner und Illustrator Alfred Kubin geprägt hat, wenn er diesen als eine „Mondexistenz“ bezeichnet, „die ihr Licht von anderen Sonnen empfängt“. Denn der Schriftsteller Brantl hat wohl zu keinem Zeitpunkt seines literarischen Daseins aus eigener Kraft hinlänglich zu leuchten vermocht. Stattdessen bleibt er bis heute allenfalls noch durch den auf ihn abstrahlenden Glanz zahlreicher prominenter Namen, mit denen er auf die eine oder andere Weise in Verbindung zu bringen ist, in den matten Schimmer eines peripheren Erinnerns getaucht. Genuiner Aufenthaltsort solch randständiger Mitspieler des Literaturbetriebs sind über ihren Tod hinaus traditionellerweise die abgedunkelten Zonen der Fußnoten, Register und Apparate, in denen all jene Namen verzeichnet stehen, die einer erläuternden Marginalie für Wert befunden werden.
Dass sich dies nun seit Kurzem geändert hat und eine ausführlichere monografische Auseinandersetzung mit Brantl vorliegt, ist einmal mehr seiner literarischen Rolle als Briefpartner zu verdanken, die er nicht nur in Bezug auf Hans Carossa und Heinrich Mann, sondern eben auch auf den berühmten Bruder des letzteren gespielt hat: Weit über 80 Briefe und Postkarten haben Thomas Mann und Maximilian Brantl zwischen 1909 und 1951 gewechselt, die nun im Band 2 der Schriftenreihe Aus dem Archiv des Buddenbrookhauses in Lübeck erschienen und mit erläuternden Kommentaren versehen worden sind.
Die Erwerbung des Briefkonvoluts für die Stadt Lübeck im Jahr 1958 hatte seinerzeit für einiges Presseecho gesorgt, da die Preise für die Mann-Korrespondenz während einer aufsehenerregenden Auktion bei Hauswedell in Hamburg geradezu explodiert waren. Holger Pils, der diesen „Erwerbungskrimi“ in seinem einleitenden Aufsatz nachzeichnet, liefert damit einen erhellenden Beitrag zur postumen Rezeptionsgeschichte der Brüder Mann auf der materiellen Ebene des Autografenhandels, indem er ein eindrückliches Fallbeispiel für die Konvertierung symbolischen in ökonomisches Kapital rekonstruiert und die mediale Inszenierung des Ankaufs in den historischen Kontext der Etablierung von Dichterarchiven stellt.
Überhaupt scheinen die begleitenden Beiträge, die den Abdruck des eigentlichen Briefwechsels zwischen Thomas Mann und Maximilian Brantl rahmen, um einiges interessanter zu sein als die Korrespondenz selbst, von der zumindest die Briefe Manns ihrem Inhalt nach bereits aus der Regest-Ausgabe von Hans Bürgin und Hans-Otto Mayer bekannt waren (wenn sie auch noch nicht im vollen Wortlaut ediert vorlagen). Die Herausgeber selbst mögen dies wohl ähnlich sehen, wenn sie in ihrer Einleitung schreiben, dass es nicht etwa „nur die Prominenz des einen Briefpartners, Thomas Mann“, sondern „auch die Neugier auf den zweiten, weniger bekannten“ gewesen sei, die sie zur Herausgabe des Bandes bewogen habe. Da man sich bislang „immer für die anderen“ interessiert habe, mit denen Brantl zu tun hatte, nicht aber für ihn selbst, stand die Frage „Wer war dieser Mensch?“ zwangsläufig im Raum. Dass diese Frage nun auf weitestgehend erschöpfende Weise mit einem ausführlichen biografischen Porträt aus der Feder von Manfred Eickhölter beantwortet wird, das samt Abbildungsteil fast ein Viertel des gesamten Buches füllt, zählt zu den wirklichen Verdiensten dieser Veröffentlichung.
Eickhölter, der Zugang zu dem nach wie vor in Familienbesitz befindlichen Nachlass Brantls hatte, kann aus einem beachtlichen Fundus bislang unbekannter Primärquellen schöpfen, um die Lebensgeschichte von Thomas Manns Briefpartner nachzuzeichnen. Dabei geht er insbesondere auch auf die Kontakte Brantls zur literarischen Prominenz seiner Zeit ein – wozu außer den beiden bereits erwähnten Hans Carossa und Heinrich Mann auch Franziska Gräfin zu Reventlow zu rechnen ist –, um sich anschließend Brantls Thomas-Mann-Rezeption bis zu seinem Tod in den 1950er-Jahren zu widmen. Hinweise auf Brantls eigene literarische Aktivitäten sowie ein Porträt des Autors als Bibliophile („Ein ‚königlicher Bücherkäufer‘“) schließen die biografische Skizze ab.
Auf diese Weise entstand der Umriss einer humanistisch gebildeten und musischen Existenz, die sich zwischen der Integration in die weltläufigen literarischen Zirkel der „Kunststadt“ München einerseits und einem selbst gewählten Rückzug in die oberbayerische Provinz (während der Revolution von 1919) andererseits entfaltet hat. Als literarischer Schöngeist und Amateur in des Wortes ursprünglicher Bedeutung scheint Brantls intellektuelles Profil in Vielem exemplarisch zu sein für den bildungsbürgerlichen Habitus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dazu zählt freilich auch, dass die beigegebene Bibliografie Brantls neben seinen lyrischen Publikationen und diversen Feuilletons für die Lokalpresse nicht nur juristische Fachprosa (unter anderem über Die Veröffentlichung von Briefen!), sondern auch einen zwischen 1934 und 1936 mehrfach wiederholten Vortrag über Nietzsche als Prophet des Nationalsozialismus vor Vertretern des NS-Rechtswahrerbundes in den Ortsgruppen Rosenheim, Traunstein und Prien aufführt. Dass Eickhölters Biografie auf diesen heiklen Punkt allenfalls en passant eingeht, mag man zu den wenigen Lässlichkeiten seines biografischen Annäherungsversuches zählen. Zu ihnen wäre darüber hinaus auch die Tatsache zu rechnen, dass die beigegebene Personalbibliografie offensichtlich weitestgehend auf der (lückenhaften) Selbstarchivierungspraxis Brantls zu beruhen scheint, wie sie sein Nachlass dokumentiert. Hier hätten weiterführende Recherchen in leicht zugänglichen Quellen – wie etwa der digitalen Edition der Zeitschrift Simplicissimus – zu einem höheren Vollständigkeitsgrad führen können, zumal der Verfasser selbst in einer Fußnote vermerkt, dass nach Abschluss des Manuskripts „noch sieben Gedichte Brantls, die zwischen 1940 und 1945 im Simplicissimus abgedruckt wurden, bekannt geworden“ seien, ohne dass sie noch in das beigegebene Verzeichnis eingearbeitet wurden. Der Vermutung des Verfassers, „dass bei systematischer Suche weitere Texte zutage treten werden“, ist mit einiger Gewissheit beizupflichten.
Ob es andererseits dieser höheren Vollständigkeit beim Nachweis verstreuter Gedichtabdrucke und anderer Texte überhaupt bedarf, ist freilich eine ganz andere Frage. Denn Brantl als Schriftsteller zu lesen dürfte sich – das zeigen die gleichfalls mit abgedruckten Gedichtproben – wohl kaum mehr verlohnen; eine Kanonrevision steht also nicht ins Haus. Über ihn zu lesen, wie es die Biografie von Manfred Eickhölter nun ermöglicht, ergibt aber durchaus Sinn: Für die Topografie des literarischen Feldes einer bestimmten Epoche sind solche biografischen Grabungsarbeiten gar nicht hoch genug zu schätzen, da nur durch sie letztlich ein differenziertes Bild der zeitgenössischen Netzwerke und ihrer intellektuellen Positionen gezeichnet werden kann. Erst durch sie erhält man – frei nach Franz Grillparzer – die Gelegenheit, auch jene „obskuren“ Gestalten der Literaturgeschichte in hinreichenden Augenschein zu nehmen, ohne die manches Detail in der Biografie der „Berühmten“ kaum mehr verständlich wäre. Und sei es der ominöse, im vorliegenden Band ausgiebig dokumentierte „Teppich-Prozess“, in den Thomas Mann samt seinem Rechtsbeistand Brantl 1913 verwickelt war. Aber das ist dann – zugegeben – wirklich nur noch etwas für absolute Thomas-Mann-Aficionados.
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