Versöhnliches über Flucht, Sinnkrise und Eingemachtes

Dörte Hansens „Altes Land“

Von Carina BergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Berg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit nun fast einem Jahr steht Dörte Hansens Roman Altes Land in den Top Ten der Spiegel-Bestsellerliste – ein beachtlicher Erfolg für ein Romandebüt. Man sagt ja gerne, Bestseller seien schwer kalkulierbar, denn es gebe kein Patentrezept für große Publikumserfolge, aber zumindest im Nachhinein sollten sich einige Gründe dafür ablesen lassen, weshalb die Geschichte um das knorrige Bauernhaus im Alten Land und seine verschrobenen Bewohner zum literarischen Dauerbrenner geworden ist.

Das titelgebende Alte Land ist Schauplatz für eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und Heimatsuche. Holzschnittartig präsentiert der Roman die Lebensgeschichten zweier Frauenfiguren, die auf unterschiedlichste Art und Weise aus ihrem bisherigen Leben gerissen und zu dem Versuch gezwungen werden, einen Neuanfang an einem fremden, abweisenden Ort zu wagen. Jener Ort ist das alte Bauerngehöft von Ida Eckhoff in der Elbmarsch, das als stiller Protagonist zum Zufluchtsort wider Willen wird. Vera Eckhoff, geborene von Kamcke, kommt nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Alter von fünf Jahren als ostpreußisches Flüchtlingskind auf den Hof und behauptet sich dort mit stoischem Schweigen und zur Not mit einem kräftigen rechten Haken als „Polackenbalg“. Zwar erbt sie den Hof als Adoptivkind von Ida Eckhoffs kriegsgezeichnetem Sohn, legt ein Einserabitur ab und wird Zahnärztin, doch wird das Gehöft nicht zur Heimat. Vera Eckhoff ist anders als die Dorfbewohner: Sie geht zur Jagd, sägt ohne mit der Wimper zu zucken Rehe klein, hält furchteinflößende Hunde, geht Nacktbaden und – ihr wohl größtes Vergehen gegen die wohlgeordnete Dorfwelt – lässt den Hof verfallen. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Ankunft zieht Anne, Veras Nichte, zu ihrer kauzigen Tante in das marode Bauernhaus. Ihre Musikkarriere und ihre Ehe sind gescheitert; ihr vermeintlich alternatives Mittelklasseleben in Hamburg-Ottensen zwischen missglückter kreativer Selbstentfaltung und zwanghafter Selbstoptimierung hat sich als Sackgasse entpuppt.

Man könnte meinen, die Handlung, die mehrere Generationen und somit einschneidende Stationen deutscher Geschichte der letzten sechzig Jahre umspannt, liefere einen opulenten Erzählstoff. Allerdings hetzt der Roman im ständigen Wechsel zwischen Vor-und Rückblenden hin und her, so dass streckenweise der Eindruck entsteht, dass Geschichte hier nicht eigentlicher Handlungsinhalt oder –träger, sondern Staffage ist. Die Fluchtgeschichte von Hildegard von Kamcke und ihrer Tochter Vera wird in wenigen, dafür aber umso stärker emotional aufgeladenen Szenen beschrieben. Die tragischen Erlebnisse während der Flucht und die Erfahrung der Heimatlosigkeit werden in knappen Flashbacks angerissen, die sich auf einem sehr schmalen Grat zwischen zurückhaltender Darstellung realgeschichtlicher Grausamkeiten und klischeehaften Bildern bewegen. So erfährt man, dass Hildegard von Kamcke ihr totes Baby im Kinderwagen auf der Fluchtstrecke zurücklassen musste; diesem furchtbaren Verlust kann die Mutter nur ihre aufrechte preußische Haltung entgegensetzen und mit herrschaftlich erhobenem Kopf bäuerliche Arbeit verrichten, um nicht den „Habitus der Habenichtse anzunehmen“. Denn die Erinnerungen an Vergangenes und Verlorenes wiegen schwer in Hansens Roman. Die Alpträume und bitteren Streitereien seiner Bewohner scheinen mit dem Haus eins zu werden und sich in die alten Mauern und das Gebälk zu fressen. Das Bauernhaus, über dessen Tür der plattdeutsche Spruch „Dit Huus is mien un doch nich mien, de no mi kummt, nennt’t ook noch sien“ prangt, bietet den Figuren nur eine zeitweilige Heimat.

Obwohl Entwurzelung und Selbstsuche die verbindende Thematik nicht nur der Haupt-, sondern auch der Nebenfiguren ist, ist Altes Land kein Flucht-, sondern ein Heimatroman. Die Stärke des Romans liegt in den eigenwilligen Naturbeschreibungen und der entlarvenden Kritik an der grassierenden Landlust der kreativ-hippen Städter, was die Fluchtthematik eher zum Versatzstück aus dem literarischen Fundus neuerer deutscher Erzählliteratur werden lässt. Hansens Version des Alten Landes ist bevölkert von schrulligen Typen. So gibt es da beispielsweise Burkhard Weißwerth, einen Hamburger Journalisten, der sich zur Entschleunigung seines durchgetakteten Stadtlebens mit seiner Frau auf das Land zurückgezogen hat. Während seine Frau, zunehmend von den Verheißungen der ländlichen Idylle desillusioniert, weiterhin ihre Öko-Marmeladen kocht, jagt er auf seinem Liegerad ‚authentischen‘ Dorfgeschichten hinterher, die er in seinem geplanten Magazin „Land&Lecker“ präsentieren kann. In diesen Passagen zeigt Hansen eine großartige und vor allen Dingen amüsante Beobachtungsgabe, die den neo-romantischen Landhype, der vor allem in gentrifizierten Stadtvierteln wie Hamburg-Ottensen (oder jedem anderen Buggy-und-Bionade-Kiez deutscher Großstädte) um sich greift, entlarvt. Sie lässt Hobby-Dörfler wie Weißwerth, mit überteuerten Manufactum-Klamotten ausstaffiert, das Echte, Authentische und Ehrliche auf dem platten Land suchen. Dass ihm beim Anblick der Herstellung von Hausmacher Wurst speiübel wird und die ortsansässigen Bauern zu seinem Erstaunen die ach so interessanten alten Apfelsorten aus gutem Grund nicht anbauen, weil sie viel zu anfällig für Krankheiten sind, lässt viele Leser wahrscheinlich in einem kurzen Moment des Ertapptseins schmunzeln.

Jedoch wird diese ironische Kritik an der unreflektierten Landlust letztendlich zum Problem für den Roman, da er für Veras und Annes Suche nach Identität und Zugehörigkeit genau die Lösung anzubieten scheint, die er an Hand der Figur des landbegeisterten Journalisten als absurd markiert: die romantisierende Vision eines einfachen, selbstbestimmten Lebens in der Einsamkeit des Landes. Mit den beiden Protagonistinnen hat Hansen zwei Frauenfiguren geschaffen, die ihren erlebten Schicksalsschlägen und ihrem Einzelgängertum zum Trotz am Ende in einer Symbiose leben, die als Kernfamilien-Ersatz den dringend gebrauchten Halt zu geben vermag. Denn selbst das Bauernhaus, das im Roman konsequent als Anti-Heim beschworen wird, durch das Wind und Regen pfeifen und in dem sich Sedimentsschichten unaufgearbeiteter Familiengeschichte buchstäblich ablagern, steht am Ende versöhnlich still. Zu diesem ersehnten und beruhigenden Stillstand haben die Frauen selbst beigetragen. Anne, gelernte Schreinerin, nimmt sich des Hauses an und macht es wieder „schier“, also so hübsch und sauber, wie es sich der vergrämte Nachbar Hinni Lührs schon seit Jahren sehnlichst wünscht.

In diesem Sinne ist Altes Land nicht nur ein Heimatroman, sondern vor allem auch ein Frauenroman. Denn bezeichnenderweise sind die Männer der Romanwelt zu nichts zu gebrauchen. Die Männer, die den Roman als Nebenfiguren bevölkern, sind Versagertypen: Ehebrecher und familiäre Fremdkörper, entmannte und bemitleidenswerte Kriegsheimkehrer am Rande des Wahnsinns oder zu belächelnde Witzfiguren, die ihren aufgeblasenen Träumen hinterher eilen – Männerfiguren, die in ihrer fast klischeehaften Darstellung das emanzipatorische Moment von Veras und Annes Anstrengungen, wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen, überdeutlich hervortreten lassen. In dieser plakativen Gegenüberstellung von männlichen Taugenichtsen und den gebrochenen, aber umso stärkeren Frauen, mag wohl eine Erklärung für den großen Absatz liegen, den der Roman seit letztem Frühjahr findet. Sicherlich liegt in dieser Verfahrensweise auch das humoristische und emotionale Potential, das die Geschichte den Leserinnen bietet. Dass die versprochene Fluchtthematik, über die der Roman vermarktet wird, auf einer sehr persönlichen und äußerst unpolitischen Ebene ausgebreitet wird, dürfte außerdem verkaufsfördernd sein. Hansens Altes Land bietet eine unterhaltsame Lektüre, die man ernst nehmen kann, aber nicht muss.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Dörte Hansen: Altes Land. Roman.
Knaus Verlag, München 2015.
286 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783813506471

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