Die rote Linie

Für einen Ludwigshafener ist es unmöglich, sich Billy Hutters Karlheinz objektiv zu nähern. Ein subjektiver Versuch

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zugegeben, ich stamme selbst aus Ludwigshafen am Rhein. Meine ganze Familie hat dort – teilweise seit Generationen – gelebt. Ich bin zwar in Lateinamerika aufgewachsen, habe aber über ein Jahrzehnt monatelange ‚Heimaturlaube‘ in der Stadt verbracht; meine Großeltern wohnten im überregional zu Bekanntheit gelangten Vorort Oggersheim, direkt gegenüber vom Bungalow unseres damaligen Bundeskanzlers. Sonst habe ich von Deutschland im Grunde nichts gesehen, bis ich 18 Jahre alt war; es gab für mich nur Ludwigshafen (und das auf der anderen Rheinseite liegende Mannheim, zum Einkaufen, wie der Ludwigshafener gerne versichert)). Vielleicht, sogar ganz sicher, ist mir auch Karlheinz in den späten 80er Jahren mal über den Weg gelaufen, da hat er ja anscheinend öfter in der Fußgängerzone herumgelungert, vor dem großen weißen Horten-Gebäude, quasi das Zentrum der damals noch florierenden Einkaufsmeile. Vor ein paar Jahren bin ich dort nach langer Zeit wieder entlanggelaufen, die Geschäfte entweder gespenstisch leer – auch der ehemalige Horten – oder zu 1-Euro-Tempeln oder Handy-Läden umfunktioniert. 

Warum dieser nostalgische Einstieg? Weil es in Karlheinz genau darum geht: Um die Geschichte einer Stadt. Es ist die Geschichte einer Stadt, die wohl kaum jemand kennt, der nicht gerade aus ihr stammt. Das Buch erinnert stark an Dominik Grafs und Michael Althens wunderbaren Dokumentarfilm München – Geheimnisse einer Stadt aus dem Jahr 2001, mit dem Unterschied, dass die Orte, welche der Erzähler des Films aufzählt und die von den Figuren heimgesucht werden, den meisten Deutschen ein Begriff sind. Aber wer kennt schon den Hemshof, seinen miesen Ruf und die Mythen, die ihn umranken, die aus Billy Hutters Feder fast ein wenig an die Vororte von Buenos Aires erinnern, welche der junge Borges beschreibt: Messerstecher, die aus den Kneipen kommen, ein eigenes Volk, Zutritt für auswärtige verboten. Und dann die Beleidigung, die sich in Ludwigshafen noch in den 80er Jahren Hochkonjunktur hatte: „Du Hemshöfer“. Meine Mutter stammt aus dem Hemshof, ich kenne das.

Auch Billy Hutter ist ein Ur-Ludwigshafener. Er stammt aus der linken Szene, arbeitete als Entrümpler, heute restauriert er Möbel und betreibt eine Art kleines Heimatmuseum, das aus Dingen besteht, die er bei seinen Entrümpelungen gefunden hat. Eines Tages, es muss Anfang der 90er gewesen sein, beauftragt ihn eine Frau, die Wohnung ihres verstorbenen Bruders zu entrümpeln. Hutter findet vor allem eines vor: Unendlich viele Zettel. Notizen, Rechnungen, Quittungen. Und kleine Taschenkalender, vollgeschrieben mit Worten und Zahlen. Er wird neugierig. Vieles muss entsorgt werden, doch vieles hebt er aus einer Laune heraus auf – später wird er sich ärgern, nicht alles gerettet zu haben – und beginnt es zu ordnen, zu studieren. Er rekonstruiert ein Leben. Und es ist auf der einen Seite ein durchschnittliches, völlig unspektakuläres Leben, das er da zusammenbastelt. Andererseits ist es ein erschreckend verpfuschtes Leben, das Leben eines vollkommen einsamen, gescheiterten Menschen, der eine manische Art privater Bürokratie entwickelt. Karlheinz kontrolliert alles: Seine Jahresausgaben sind bis auf den geringsten Pfennigbetrag notiert. Jeder Ausflug mit dem leitmotivisch auftretenden „Opel-Auto“ seiner Eltern statistisch ausgewertet. Später auch jeder Puff-Besuch, denn Karlheinz hat nie eine Frau kennengelernt, er hat immer in der Wohnung seiner Eltern gewohnt und sich, soviel scheint sicher, im Jahr 1990 mit 60 Jahren umgebracht, wohl als Folge eines Rechtsstreits mit seiner Schwester – Karlheinz hatte scheinbar das Vermögen des zuletzt dementen Vaters mit windigen Börsengeschäften veruntreut. 

Karlheinz sammelte Regenmäntel. Hutter hat unzählige, meist noch verpackte Exemplare im Nachlass entdeckt. Warum er das tat, warum er sich dem weiblichen Geschlecht nur im Bordell nähern konnte, warum er nach vielen erfolglosen Jahren sein Studium abbrach, all dies versucht Hutter aus den Aufzeichnungen zu lesen, doch bestehen diese, wie gesagt, nur aus Statistiken, Erhebungen, endlosen Zahlenreihen. Die Kalender berichten fein säuberlich über jede Fahrt mit dem „Opel-Auto“, den jährlichen Familienurlaub in Bayern oder Österreich. Nie abgeschickte Postkarten zeugen hingegen etwa von Interesse an einer Nudistensekte, doch konnte sich Karlheinz nie zu einem Aufenthalt in deren Camp durchringen. Ein Leben voller nicht gelebter Möglichkeiten. 

Doch Hutters Buch ist viel mehr als der Versuch, Karlheinz‘ Lebensgeschichte zu rekonstruieren. Es ist auch Hutters Geschichte und vor allem ist es die Geschichte der Stadt, die beide ihre Heimat nennen. Hutter beschreibt minutiös die mutmaßlichen Wege seines Protagonisten: Dessen Schulweg als kleiner Junge, seinen Weg zur Arbeit, seine Spaziergänge durch die Stadt, schließlich auch seinen Weg von der Familienwohnung zum Rhein, wo er sich schließlich ertränkt. Hutter erzählt immer wieder von der BASF, welche die Geschichte der Stadt entscheidend geprägt hat, er beschreibt wie und warum man die Fabrik in der Stadt selbst niemals sieht, aber lange Zeit olfaktorisch wahrgenommen hat. Und er berichtet von dem speziellen Verhältnis, das die Einwohner zur „Anilin“ (so nennt man die BASF dort) pflegen. Er philosophiert, wie bereits erwähnt, über den Hemshof und seine gefährlichen Bewohner, und den eine unsichtbare Grenze vom Rest der Stadt trennt, die Karlheinz (als feiner Doktorensohn) zumindest als Kind und Jugendlicher niemals überschritten hat. Er fragt sich (was ich mich auch schon immer gefragt habe), ob Ludwigshafen in den 70er und 80er Jahren wirklich die reichste Stadt in Deutschland war, und warum man trotzdem diesen hässlichen Bahnhof gebaut hat, in der kurzlebigen Überzeugung, den modernsten Bahnhof Europas sein eigen zu nennen. Dieses imposante Bauwerk schmückt übrigens auch – in einer Aufnahme aus den 60er Jahren – das Buchcover. 

Was mich persönlich an diesem Buch so berührt, ist, dass ich Hutters Geschichten alle kenne, seine Anspielungen verstehe, dass ich auch Figuren wie diesen Karlheinz kenne, auch wenn mir all das nicht unmittelbar präsent war. Vielmehr war es in meiner Erinnerung abgespeichert, und mit jedem Satz Hutters kam ein Stückchen mehr zum Vorschein. Das wirft jedoch die Frage auf: Wie liest jemand, der nicht aus Ludwigshafen stammt, dieses Buch? Es könnte sein, so meine Befürchtung, dass er Hutters bewusst chaotisch und nur rudimentär chronologisch angeordneten Szenen, gar nicht folgen kann. Dass ihm die Stadt und somit auch ihr Bewohner Karlheinz fremd bleiben. Denn eines ist ja sicher: Gerade weil Karlheinz als Jedermann beschrieben wird, ist ein gewisses Maß an Symbolkraft in diese Figur hineinzulesen: Steht er nicht für den beliebigen deutschen Nachkriegsspießer, der in einer beliebigen mittelgroßen deutschen Stadt aufwächst? Könnte Karlheinz nicht auch aus Bremen, Nürnberg, Bochum oder Osnabrück stammen? Und hier muss die Antwort lauten: Leider nicht. Hutter schreibt zwar vorgeblich über Karlheinz, aber im Grunde schreibt er über Ludwigshafen. Und trotzdem: Vielleicht lohnt es sich gerade deswegen, dieses Buch zu lesen. Vielleicht tut der Autor der Stadt einen großen touristischen Gefallen, immerhin ist „Karlheinz“ schon in vielen großen Tageszeitungen äußerst wohlwollend besprochen worden. Vielleicht kommen wirklich bald die Touristenströme in den Hemshof, wer weiß das schon?

Vor ein paar Jahren war ich mit meinem Vater unterwegs und wir mussten noch ein wenig Zeit totschlagen. Da hat er mich, ich glaube zum ersten Mal in meinem Leben, durch den Hemshof gefahren und mir unter anderem das Geburtshaus meiner Mutter und das Gebäude, in dem sie ihre erste gemeinsame Wohnung hatten gezeigt. Irgendwie kam es mir auch vor, als hätte ich eine Schwelle überschritten, jene unsichtbare Karlheinz’sche rote Linie übertreten. Ich kam mir ein wenig vor – auch wenn es albern kling – wie als ich vor zehn Jahren in New York plötzlich hinter einer Unterführung in Hell’s Kitchen landete; eine andere Welt, nur wenige Meter von betretenen Pfaden. So in etwa fühlt sich dieses Buch für diejenigen an, die Teil dieser Welt sind. Die anderen? Schwer zu beurteilen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Billy Hutter: Karlheinz.
Metrolit Verlag, Berlin 2015.
240 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783849301064

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch