Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Freuds Poetik des Unheimlichen

Von Achim GeisenhanslükeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Achim Geisenhanslüke

Freud und das Unheimliche

Der Begriff des Unheimlichen, der ästhetisch in der Nähe zu verwandten Begriffen wie dem Phantastischen, Grotesken oder Erhabenen steht,[1] hat seine entscheidende Prägung durch Sigmund Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“ aus dem Jahr 1919 bekommen. Zwar kann Freud in seinen Überlegungen zu einer psychoanalytischen Ästhetik des Unheimlichen auf Vorarbeiten von Ernst Jentsch zurückgreifen, der bereits 1906 einen Aufsatz „Zur Psychologie des Unheimlichen“[2] vorgelegt hatte. Auch die Bindung des Unheimlichen an Texte von E.T.A. Hoffmann kann Freud von Jentsch übernehmen. Dennoch setzt er in seinem Aufsatz ganz eigene Akzente, die auf seine Auffassung von der Struktur des Unbewussten zurückgehen. Dabei überlagern sich die beiden Aspekte der Individualanalyse und der Kulturtheorie, die Freuds gesamtes Werk bestimmen, auch im Begriff des Unheimlichen.[3] Auf der einen Seite erkennt Freud im Kontext eines individualpsychologischen Ansatzes im Unheimlichen eine bestimmte Form der Wiederkehr des Verdrängten. Auf der anderen Seite erscheint das Unheimliche im Kontext einer allgemeinen Kulturtheorie als Wiederkehr einer archaischen Kulturstufe, die ihre nur scheinbar überwundene Macht bis in die Moderne ausdehnt. Obwohl beide Aspekte für Freud zusammenhängen, bestimmen sie zwei unterschiedliche Ausrichtungen der Theorien des Unheimlichen, die bis in die heutige Rezeption reichen: Auf der einen Seite stehen texttheoretische Überlegungen zum Unheimlichen, wie sie sich insbesondere in der dekonstruktiven Fortführung psychoanalytischer Theoreme finden lassen. Auf der anderen Seite stehen kulturwissenschaftliche Ansätze, die im Unheimlichen eine bestimmte Form der Fremderfahrung ausmachen, der es im Kontext einer interkulturellen Theorie der Kultur und Literatur zu begegnen gilt.

Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“, der als Gründungsurkunde für alle auf ihn folgenden Theorien des Unheimlichen gelten kann, ist allerdings alles andere als ein einheitlicher Text, der sich einem unmittelbaren Verstehen erschließt. In ihm überlagern sich vielmehr unterschiedliche Fragestellungen, die nicht einfach miteinander zu vereinbaren sind. So verweist Freud schon im ersten Satz seines Aufsatzes zunächst auf die philosophische Disziplin der Ästhetik, die er nicht auf eine Theorie des Schönen beschränkt sehen und um den Begriff des Unheimlichen erweitert wissen möchte. Zugleich rekurriert er in einer sprachwissenschaftlichen Analyse auf die Wortgeschichte des Unheimlichen, wobei er sich vor allem an Daniel Sanders „Wörterbuch der deutschen Sprache“ aus dem Jahr 1860 orientiert. Und schließlich bindet er seine Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen von Beginn an in die theoretischen Grundlagen der Psychoanalyse ein, wenn er die Bedeutung des Kastrationskomplexes und des Angstaffektes für die Entwicklung des Begriffes hervorhebt. Aber noch auf anderer Ebene ist der Aufsatz „Das Unheimliche“ von einer Vielschichtigkeit geprägt, die sich nicht leicht unter einen Begriff subsumieren lässt. Als Reaktion auf die traumatischen Erfahrungen, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte, wird das Unheimliche bei Freud zur Chiffre für eine geschichtliche Signatur, die auch die Stellung der Psychoanalyse in ihrer Zeit erfasst und sich bis zu der Neuausrichtung der Trieblehre in „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) auswirkt. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, wird Freud mit dem Unheimlichen auf gewisse Weise auch die von ihm selbst begründete Wissenschaft der Psychoanalyse unheimlich, und das gleich auf mehreren Ebenen.

Das Unheimliche und die Romantik

Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist zunächst aufschlussreich, dass Freud seine Theorie des Unheimlichen an die romantische Literatur anschließt. Der Referenztext, auf den er sich bezieht, ist E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ von 1816. Wie kaum ein anderer literarischer Text ist Hoffmanns Erzählung durch die psychoanalytische Lesart geprägt, die Freud im Zusammenhang mit dem Begriff des Unheimlichen entwickelt hat.[4] In seinem Aufsatz, der zugleich auf bestimmte Art und Weise den Begriff der Wiederholung akzentuiert, den Freud in „Jenseits des Lustprinzips“ genauer konturieren wird, führt er das Unheimliche als eine Kategorie ein, die „zum Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden gehört“.[5] Schon die Begriffe des Schreckhaften, der Angst und des Grauens, die Freud in seinem Aufsatz bemüht, um das Unheimliche zu charakterisieren, weisen einen inneren Bezug zur Literatur der Romantik auf, aber auch – wie bereits angedeutet – zu Theorien des Phantastischen, des Grotesken oder des Erhabenen.

Überraschend ist in diesem Zusammenhang jedoch seine Initialthese, das Unheimliche verweise auf das Heimliche zurück. Freud spezifiziert seinen Begriff des Unheimlichen, indem er die Auffassung vertritt, „das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“ (GW XII, 231) Das Unheimliche, so lautet Freuds paradoxe Bestimmung, ist eine bestimmte Art des Heimeligen. In seiner äußerst wirkungsmächtigen Interpretation stellt Freud daher auch nicht andere Themen wie etwa das des Automaten ins Zentrum seiner Interpretation, sondern die titelgebende Figur des Sandmannes und das damit verbundene Thema des Augenausreißens, das Freud in den Kontext des Kastrationskomplexes rückt. So vertritt er die These, „daß das Gefühl des Unheimlichen direkt an der Gestalt des Sandmannes, also an der Vorstellung, der Augen beraubt zu werden, haftet“. (GW XII, 242) Die Rückführung des Unheimlichen auf die väterliche Instanz des Sandmanns verbindet er mit dem kindlichen Kastrationskomplex, um zugleich die These zu vertreten, dass Hoffmann einen besonderen Begriff des Unheimlichen entwickelt hat. „E.T.A. Hoffmann ist der unerreichte Meister des Unheimlichen in der Dichtung“ (GW XII, 246), behauptet Freud, ohne allerdings genau auf die spezifisch literarische Verarbeitung des Unheimlichen bei Hoffmann einzugehen. Bestimmend ist für ihn zunächst der psychoanalytische Begriff der Verdrängung als Grund des Unheimlichen. Für Freud entsteht die Angst, die das Unheimliche beim Leser auslöse und Hoffmann zum Meister des Grauens mache, aus der Verwandlung von Affekten durch Verdrängung in Angst. Das Unheimliche errege Angst, weil es unmittelbar mit der Verdrängung zu tun habe: „dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.“ (GW XII, 254) Die Frage, die sich Freud in diesem Zusammenhang stellt, ist die nach dem Beitrag der Dichtung zum Unheimlichen. Zwar vermerkt er allgemein: „Das Unheimliche der Fiktion – der Phantasie, der Dichtung – verdient in der Tat eine gesonderte Betrachtung.“ (GW XII, 264) Die spezifisch literarische Leistung Hoffmanns erfährt ihre Würdigung jedoch nur im Kontext der allgemeinen psychoanalytischen Begrifflichkeit, die Freuds Aufsatz leitet. Trotz der Ausrichtung des Unheimlichen an E.T.A. Hoffmanns Konzept romantischen Schreibens ist Freud letztlich nicht an einer philologischen Lektüre des „Sandmannes“ interessiert.

So faszinierend und einflussreich Freuds Deutung Hoffmanns bis heute bleibt, so sehr stellt sie jedoch, wie die Forschung gezeigt hat, letztlich ein theoriegeleitetes misreading eines literarischen Textes dar.[6] Entsprechend umstritten ist die Rezeption der psychoanalytischen Auslegung Hoffmanns als Meister des Unheimlichen in der Literaturwissenschaft geblieben. Wie Detlef Kremer herausgearbeitet hat, stellt sich im Blick auf Freuds Interpretation E.T.A. Hoffmanns insbesondere die Frage nach der grundsätzlichen Berechtigung der Übertragung einer psychologischen Einzelfallanalyse auf einen literarischen Text, eine Inanspruchnahme von Literatur durch Theorie, die Kremer entschieden zurückweist: „Letztlich läuft sie aber auf eine Reduktion des Textes hinaus.“[7] Der Vorwurf der Vereinnahmung des Textes durch Freuds Lesart, den Kremer mit vielen anderen Literaturwissenschaftlern teilt, besteht auf der Eigenheit der Literatur gegenüber dem Theorieangebot, das die Psychoanalyse bereithält. Trotz dieser sicherlich berechtigten Kritik ist die spezifisch psychoanalytische Grundlegung des Unheimlichen für die weitere Rezeption des Begriffes nicht zu unterschätzen. Wie Anneleen Masschelein hervorgehoben hat, bildet Freuds Aufsatz vielmehr „den bleibenden Anziehungs- und bündelnden Brennpunkt der Erfolgsgeschichte und gegenwärtigen Konjunktur des Unheimlichen in Kunst und Theorie“.[8]

Freuds Umwege der Literatur

Der Bezug zwischen Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“ und der Literatur der Romantik am Beispiel Hoffmanns ist jedoch nicht der einzige Ansatzpunkt für eine Relektüre des psychoanalytischen Ansatzes im Hinblick auf die Literatur. Vielmehr lässt sich der Aufsatz nicht nur als in mancherlei Hinsicht fehlgeleitete Interpretation eines literarischen Textes lesen, sondern selbst als poetologische Reaktion auf Fremdheitserfahrungen, die in Freuds Text auf unterschiedlichen Ebenen zur Geltung kommen. Einen wichtigen Hinweis, der in diese Richtung weist, liefert die Selbstdarstellung Freuds in seinem Aufsatz. Immer wieder unterbricht er den wissenschaftlichen Gang seiner Untersuchung durch anekdotische Hinweise auf eigene Erlebnisse, die in seinem Text mehr als eine bloß illustrative Funktion übernehmen. Bereits die erste Anekdote, die Freud in seinen Text einfügt, wirft ein seltsames Licht auf ihren Urheber:

Als ich einst an einem heißen Sommernachmittag die mir unbekannten, menschenleeren Straßen einer italienischen Kleinstadt durchstreifte, geriet ich in eine Gegend, über deren Charakter ich nicht lange in Zweifel bleiben konnte. Es waren nur geschminkte Frauen an den Fenstern der kleinen Häuser zu sehen, und ich beeilte mich, die enge Straße durch die nächste Einbiegung zu verlassen. Aber nachdem ich eine Weile führerlos herumgewandert war, fand ich mich plötzlich in derselben Straße wieder, in der ich nun Aufsehen zu erregen begann, und meine eilige Entfernung hatte nur die Folge, daß ich auf einem neuen Umwege zum drittenmal dahingeriet. Dann aber erfaßte mich ein Gefühl, daß ich nur als unheimlich bezeichnen kann, und ich war froh, als ich unter Verzicht auf weitere Entdeckungsreisen auf die kürzlich von mir verlassene Piazza zurückfand. (GW XII, 249)

Bereits das einleitende „Als“ verweist auf den narrativen Charakter von Freuds Text, der nicht nur als wissenschaftliche Abhandlung über das Thema des Unheimlichen, sondern selbst als literarische Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen verstanden werden kann. Das Problem, das sich Freud gerade in dem erzählerischen Moment seiner Untersuchung öffnet, ist „das Moment der unbeabsichtigten Wiederholung“ (GW XII, 250), das er an der eigenen Person erfährt. Was Freud in der Anekdote schildert, ist so etwas wie ein Antimärchen. Nicht umsonst wirkt die Anekdote wie eine Traumerzählung: Dreimal gerät der Held in dasselbe zwielichtige Viertel, jeder Ausweg erweist sich als ein Umweg zu dem immergleichen Ziel, das für den führerlos Wandernden zugleich ein tiefes Gefühl der Peinlichkeit bereithält. Auf der affektiven Ebene ist der Text von zwei Gefühlen begleitet: von der Scham, die das erzählende Subjekt erfährt, das auf seinen Wegen „Aufsehen zu erregen begann“, und von der Angst, die die Erfahrung der unbeabsichtigten Wiederholung auslöst. Was Freud in seiner Anekdote als das Unheimliche bezeichnet, ist ein Gefühl, das in der Vermischung von Scham und Angst eine tiefe Irritation auslöst. An die Stelle der äußerlichen Orientierungslosigkeit, das sich in den Straßen der Kleinstadt verliert, tritt eine innere Orientierungslosigkeit, die das Subjekt zu überwältigen droht. Was für diesen Verlust an Selbstkontrolle verantwortlich ist, ist die Präsenz „eines von den Triebregungen ausgehenden Wiederholungszwanges“ (GW XII, 251), dem  Freud in Anspielung auf Goethe einen „dämonischen Charakter“ (GW XII, 251) zuspricht. Das Unheimliche verkörpert für Freud eine schicksalhafte Macht, die eine Macht über das Leben ausübt, die dem Ich verborgen bleibt und sich in Affekten wie Scham und Angst ausdrückt, die das Subjekt in seinem Anspruch auf Autonomie auszulöschen drohen.

Die bedrohliche Macht, die von dem Unheimlichen ausgeht, bestätigt auch eine zweite Anekdote, die Freud in seinen Aufsatz einfügt. Zwar versteckt er sie in einer Fußnote, dennoch gibt sie einen weitreichenden Aufschluss über das Verhältnis des Urhebers der Psychoanalyse zu sich selbst im Zeichen des Unheimlichen:

Ich saß allein im Abteil eines Speisewagens, als bei einem heftigeren Ruck der Fahrtbewegung die zur anstoßenden Toilette führende Tür aufging und ein älterer Herr im Schlafrock, die Reisemütze auf dem Kopfe, bei mir eintrat. Ich nahm an, daß er sich beim Verlassen des zwischen zwei Abteilen befindlichen Kabinetts in der Richtung geirrt hatte und fälschlich in mein Abteil gekommen war, sprang auf, um ihn aufzuklären, erkannte aber bald verdutzt, daß der Eindringling mein eigenes, vom Spiegel in der Verbindungstür entworfenes Bild war. Ich weiß noch, daß mir die Erscheinung gründlich mißfallen hatte. (GW XII, 262f.)

Die zweite Anekdote nimmt ein Moment auf, das Freud bereits in seiner Analyse der Erzählung von E.T.A. Hoffmann mit dem Unheimlichen verbunden hatte: das Motiv des Doppelgängers. Freud sitzt in einem Zugabteil, als unvermittelt ein fremder Mann bei ihm einzutreten scheint. Die Anekdote hält deutlich das Moment des Schreckens fest, das mit dem unverhofften Auftauchen des Fremden verbunden ist. Erst als er mit dem Eindringling zu sprechen versucht, erkennt Freud, dass es sich bei dem Fremden um sein eigenes Spiegelbild handelt. Das Spiegelbild verweist er zwar in den unbestimmten Bereich der „Erscheinung“ eines gespensterhaften Doppels, das in den Raum einzudringen versucht, den Freud als den eigenen wahrnimmt und vor Angriffen zu verteidigen sucht. Indem er darüber hinaus betont, dass die Erscheinung ihm „gründlich mißfallen“ habe, zeigt er jedoch zugleich, dass er sich auf gewisse Weise selbst unheimlich geworden ist. Das Unheimliche ist bei Freud mehr als eine ästhetische Kategorie in der Tradition des Phantastisch-Erhabenen. Im Unheimlichen liegt zugleich eine für ihren Urheber nicht unbedingt schmeichelhafte Selbstreflexion der Psychoanalyse bereit, die nicht nur eine Wissenschaft des Unheimlichen, sondern eben auch eine unheimliche Wissenschaft ist.

Poetik des Unheimlichen

Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“ ist mehr als ein Seitenblick der Psychoanalyse auf die Literatur. Trotz der kontroversen Rezeption, die der Text in der literaturwissenschaftlichen Forschung erhalten hat, gibt der Aufsatz Aufschluss über Freuds komplexes Verhältnis zur Literatur. Denn die Welt der Dichtung ist für Freud in exakt dem Sinne, den er dem Unheimlichen gegeben hat, etwas Unheimliches: Sie ist ihm fremd und nah zugleich. Die Tatsache, dass Freud in der Literatur eine der wichtigsten Inspirationsquellen für die Psychoanalyse gefunden hat, ist häufig hervorgehoben worden. „Ich gehe aus von der Tatsache, daß Sigmund Freud eines der wichtigsten Elemente seines ganzen psychoanalytischen Modells an bestimmten literarischen Gegenständen gefunden, an ihnen exemplifiziert und nach ihnen benannt hat“[9], stellt schon Peter von Matt fest. Zwar hat Norbert Altenhofer eben diese zentrale Bedeutung der Literatur für die Psychoanalyse bestritten (die „Stellung des literarischen Werks im Gegenstandsbereich der Psychoanalyse ist periphär“[10]), dennoch muss auch Altenhofer zugeben: „Freuds hermeneutisches Problembewußtsein ist ungleich tiefer als seine literarischen Interpretationen erkennen lassen – unter anderem, weil diese in der Regel nur der Illustration von Argumenten und nicht ihrer methodischen Explikation dienen.“[11]

Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt, richtet sich nicht nur auf den hermeneutischen Anspruch der Psychoanalyse als einer literaturtheoretischen Methode mit eigenen Gesetzen und Grundlagen. Sie richtet sich darüber hinaus nach dem literarischen Gehalt von Freuds eigenen Schriften.[12] Das Unheimliche ist einer der Grundsteine von Freuds Poetik, weil es nicht nur etwas über die Psychoanalyse als wissenschaftliche Theorie verrät, sondern auch über ihre eigene Praxis als Literatur. Die Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen hat daher auch unmittelbare Konsequenzen für die Lektüre von Freuds eigener Abhandlung. Schon Samuel Weber hat bemerkt, „daß die Macht und Wirkungsweise des Unbewußten notwendig auch für die Schriften Freuds – die das Unbewußte theoretisch erschlossen haben – bestimmend sein müssen“.[13] Freuds Texte wie der über das Unheimliche sind demzufolge nicht einfach Abhandlungen über das Unheimliche, sie sind selbst von dem Unheimlichen betroffen, das sie sich zum Gegenstand genommen haben. Das zeigt sich an dem tastenden, immer wieder von Unterbrechungen durchstoßenen Vorgehen Freuds, sich des Begriffs des Unheimlichen zu versichern. Freuds Vorgehen gleicht so jenem Verirren, das er in seiner Anekdote schildert. Dass ihn das beständige Herumirren um das Unheimliche immer zu dem gleichen Punkt zurückzwingt, ist der Ausdruck einer tiefen Beunruhigung, die die Psychoanalyse nach dem Ersten Weltkrieg erfasst hat. Der Begriff des Unheimlichen kann so auf mehrerlei Ebene für Freuds eigene Arbeit in Anspruch genommen werden. Gegen Ende der 1910er-Jahre sieht sich Freud mit Erfahrungen konfrontiert, die es notwendig machen, die Grundfesten der psychoanalytischen Theorie neu zu vermessen. In der Folge des Wiederholungszwanges, den er schon im Unheimlichen am Werk sieht, wird Freud in „Jenseits des Lustprinzips“ den Todestrieb als neues mythologisches Zentrum seiner Theorie entdecken – unter der Voraussetzung allerdings, dass der Todestrieb jenen dämonischen Charakter behält, den Freud schon dem Unheimlichen zugesprochen hat.

Darüber hinaus enthüllt sich mit „Jenseits des Lustprinzips“ Freuds eigener Weg als eine in vielerlei Hinsicht unheimliche Hadesreise, die ihn auf symbolische Weise mit dem Tod als dem schlechthin Anderen der Erfahrung konfrontiert. Und schließlich betrifft die Erfahrung des Unheimlichen auch Freuds eigene wissenschaftliche Biografie. Dem Begründer der Psychoanalyse ist die eigene Wissenschaft fremd geworden. Von Konkurrenten wie C.G. Jung und Alfred Adler bedroht, sieht Freud in der Zeit nach dem Großen Krieg die Gefahr, dass die Psychoanalyse andere als die von ihm selbst bereiteten Wege einschlagen könnte. Damit einher geht auch die Erfahrung des eigenen Altersprozesses, die Freud in der Konfrontation mit dem unerfreulichen Spiegelbild im Zugabteil dem Leser eindrücklich vor Augen führt. Der Begriff des Unheimlichen bündelt diese schmerzhaften Erfahrungen und gibt ihnen eine neue Ausrichtung, die Freuds Ausarbeitung einer Metapsychologie in den 1920er-Jahren in vielfältiger Weise bestimmen wird. Das Unheimliche – und mit ihm die Literatur – ist keinesfalls nur ein Seitensprung der Psychoanalyse im philosophischen Feld der Ästhetik.[14] Mit dem Begriff des Unheimlichen dringt Freud in ein Gebiet vor, das er in einem heroischen Akt der Selbstbewahrung zu erschließen sucht, um einer Form der Erfahrung Rechnung zu tragen, die sich mit den bis dahin vorliegenden Mitteln der Psychoanalyse nicht entschlüsseln lässt. In dem Antimärchen, das Freud in enger Auseinandersetzung mit der Literatur der Romantik in „Das Unheimliche“ erzählt, erscheint das heroische Selbstbild der Psychoanalyse in einer unheimlichen Entstellung, die einem wahrhaftig das Fürchten lehren kann. Freud hat daraus die Konsequenzen gezogen und in den 1920er-Jahren eine erneuerte Theorie vorgelegt, die von den Begriffen des Todes und der Angst geprägt ist, die bereits der Begriff des Unheimlichen mit sich führt. Von der Wissenschaft des Unheimlichen wandelt sich die Psychoanalyse zu einer unheimlichen Wissenschaft, und es ist eben dieser doppelte Umgang mit dem Unheimlichen, der Freuds eigene sprachliche Darstellungsweise betrifft, der noch immer für die Faszination der Psychoanalyse als wissenschaftliche Theorie und literarische Praxis des Unheimlichen verantwortlich ist.

Anmerkungen:

[1] Anneleen Masschelein, „Unheimlich/das Unheimliche“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): „Ästhetische Grundbegriffe. Band 6. Tanz – Zeitalter/Epoche“, Stuttgart/Weimar 2005, S. 241–260, hier S. 241.

[2] Ernst Jentsch, „Zur Psychologie des Unheimlichen“, in: „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 8“ (1906).

[3] „Freud behauptet für die psychische Herkunft des Unheimlichen zwei Ursachen: Es entsteht entweder als Wiederkehr von verdrängten infantilen Inhalten oder im Auftauchen überwundener ‚animistischer‘ Denkformen.“ Manfred Dierks, „Das Unheimliche“ (1919), in: Hans-Martin Lohmann/Joachim Pfeiffer (Hg.): „Freud-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung“, Stuttgart/Weimar 2006, S. 204–207, hier S. 205.

[4] Neil Hertz, „Freud und der Sandmann“, in: Ders.: „Das Ende des Weges. Die Psychoanalyse und das Erhabene“, Frankfurt am Main 2001, S. 127–156. Hertz weist in seinem Aufsatz einleitend u.a. auf die inneren Verbindungen zwischen „Das Unheimliche“ und „Jenseits des Lustprinzips“ im Kontext der Ausarbeitung des Todestriebes hin.

[5] Sigmund Freud, „Das Unheimliche“, in: „Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Zwölfter Band. Schriften aus den Jahren 1917–1920“, Frankfurt am Main 1999, S. 229. Im Folgenden Seitenangaben in Klammern im Text.

[6] Zum Begriff des misreadings als struktureller Grundlage des Literarischen vgl. Harold Bloom, „Eine Topographie des Fehllesens“, Frankfurt am Main 1997.

[7] Detlef Kremer, „Freuds Aufsatz Das Unheimliche und die Widerstände des unverständlichen Textes“, in: Peter-André Alt/Thomas Anz (Hg.): „Sigmund Freud und das Wissen der Literatur“, Berlin/New York 2008, S. 59–72, hier S. 65.

[8] Anneleen Masschelein „Unheimlich/das Unheimliche“, S. 242.

[9] Peter von Matt, „Literaturwissenschaft und Psychoanalyse“, Stuttgart 2001, S. 10. Jean Starobinski hat daraus schon früh die Konsequenzen gezogen und die Frage gestellt, welchen Einfluss die Literatur für Freuds eigene Theoriebildung gehabt hat: „Ainsi, au moment de nous interroger sur la contribution que la psychanalyse peut apporter à la critique littéraire, nous sommes amenés à inverser la question, et à nous demander quels éléments la psychanalyse elle-même a pu, au cours de son élaboration, emprunter à la littérature pour les assimiler à sa propre structure doctrinale.“ Jean Starobinski, L‘ œil vivant II. La relation critique, Paris 1970, S. 259.

[10] Norbert Altenhofer, „Sigmund Freud: Lektüre zwischen Sinndeutung und Funktionsanalyse“, in: Ulrich Nassen (Hg.): „Klassiker der Hermeneutik“, Paderborn/München/Wien/Zürich 1982, S. 207–240, hier S. 207. Dagegen argumentiert schon Michael Rohrwasser: „Freuds Kommentare zur Literatur lassen sich nicht als spielerische Nebenprodukte einer jungen psychoanalytischen Wissenschaft, die fremde Gebiete erobert, abtun“. Michael Rohrwasser, „Freuds Lektüren. Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler“, Gießen 2005, S. 14.

[11] Ebd., S. 214.

[12] Vgl. in diesem Zusammenhang ausführlich Achim Geisenhanslüke, „Das Schibboleth der Psychoanalyse. Freuds Passagen der Schrift“, Bielefeld 2008.

[13] Samuel Weber, „Freud-Legende. Vier Studien zum psychoanalytischen Diskurs“. Vollständig überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Wien 2002, S. 14.

[14] „Freud weist der Literatur eine Rolle als Referenzsystem zu und ernennt ihre Produzenten zu Bündnisgenossen. Aber ihre Rolle ist bedeutsamer. Sie wird zur Quelle der Inspiration und zum Spiegel der Selbstanalyse. Die neuen Konstruktionen des Unbewussten wachsen aus der Literatur; auch noch die Selbstbilder des Entdeckers sind vor allem literarische“, betont in diesem Zusammenhang schon Michael Rohrwasser, „Freuds Lektüren“, S. 15.