Spektrale Vielfalt

Ein interdisziplinärer Sammelband sucht und findet Gespenster in Literatur, Geschichte, Theater und Performance – und einige wenige sogar im Denken

Von Jan MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass einem das Alleralltäglichste im praktischen Umgang manchmal – schlagartig und unerwartbar – fremd und unheimlich werden kann, ist selbst eine alltägliche Erfahrung: Man fällt nur kurz „aus seiner Welt“, immer aber mit der dramatischen Folge, dass sich nachher die Gewissheit des Umgangs mit Anderen und mit Dingen nie mehr im selben Sinn fraglos einstellen mag. Für die Philosophie sind solche Erfahrungen seit alters ein Skandal – Anlass der Reflexion und ein theoretisches Ärgernis, weil sie allemal die Antworten, mit denen man die praktische Irritation theoretisch auszuräumen sucht, selbst betreffen und „heimsuchen“. Was einerseits einfach und klar scheint (und praktisch meistenteils ja auch einfach und klar ist), nötigt im Nachdenken zu Relativierungen, Neu- und Umschreibungen, weil sich zeigt, dass das, was aus der einen Perspektive unproblematisch ist (nämlich „einfach so und da“), in der anderen Perspektive zum Rätsel wird (nämlich von „uns“ nicht unabhängig, sondern historisch, sprachlich, praktisch durchwirkt).

Jacques Derridas Buch über „Marx’ Gespenster“ verfolgt die Irritationen, die sich gerade dann besonders aufdrängen, wenn man „materialistisch“ nachdenken möchte – wenn man also meint, dass die Art unseres sozialen und politischen Zusammenlebens, die Art und Weise seiner Reproduktion, den Anfangspunkt abgeben sollte für das Nachdenken über Moral und Sittlichkeit, oder über Gehalt und Validität wissenschaftlicher Aussagen. Dann ist man – so Derridas einerseits beeindruckend deutlicher, und andererseits in seiner Verspieltheit selbst geistesgeschichtlich bemerkenswert vergesslicher Einsatzpunkt – regelrecht zu schließen gezwungen, dass die Marx’sche „Ontologie“, also Marxens Antwortvorschlag auf die Frage, was es heißt, dass die Sachen irgendwie „da“ und „so“ sind, richtiger als eine (im Klang ununterscheidbare) „Hantologie“ verstanden werden sollte: als ein Antwortvorschlag, der gerade dann, wenn man seine Stoßrichtung teilt, dazu zwingt, auch die Verwicklungen, die sich aus ihm ergeben, als seriöse und beunruhigende Herausforderungen ernst zu nehmen. Denn die Merkformel, dass „das Sein“ „das Bewusstsein“ bestimme, hat eine denkerische Irritation ja nie verständlich ausgeräumt, sondern stets nur provozierend formuliert.

Derrida gibt der Irritation noch eine weitere Gestalt: Hamlets Verhalten zum Geist seines Vaters gibt das Bild ab, an dem per analogiam der Begriff unseres Verhaltens zum So-Sein der Sachen verständlich werden soll, und sich gerade dadurch als unerhört verwickelt erweist: Die Sachen sind fraglos da – so wie der Geist. Wie der Geist nur für den da ist, der ihn sieht, so sind die Sachen irgendwie nur für uns da. Umgekehrt bringen wir das So-Sein der Sachen nicht hervor – so, wie Hamlet nicht den Geist hervorbringt. Eher müsste man sagen, dass wir uns von den Sachen angesprochen finden; das So-Sein der Welt gibt uns Gründe, auf bestimmte Art zu denken und zu handeln – eine vielleicht treffende, aber erläuterungsbedürftige Metapher (die Sachen „sprechen“ nicht). Wir befinden uns denkerisch in Hamlets Lage: Der Vater spricht ihn an, gibt ihm Gründe – und zugleich ist es nicht (eigentlich) der Vater, sondern sein Geist; Hamlet findet sich praktisch betroffen vom Blick des Gespensts, aber doch nicht im eigentlichen Sinn, denn der Geist trägt Rüstung mit geschlossenem Visier, hinter dem die Augen verborgen sind. Er findet sich praktisch angeblickt, denn er reagiert und handelt so – aber ist er wirklich angeblickt? Gibt es da ein eine sehende Person hinter dem Visier? Andererseits: Wäre es sinnvoll, ernsthaft daran zu zweifeln, wenn er sich doch praktisch erblickt findet? Hamlet scheitert an diesen Verwicklungen. Derridas Diskussion der Gespenster, die – als genau analoge denkerische Verwicklungen – den Umgang mit dem Marx’schen Projekt „heimsuchen“, soll unter dem Eindruck des historischen Scheiterns der staatssozialistischen Projekte eine Diskussion darüber eröffnen, wie man besser scheitern könnte.

Man muss an diese präzise Funktion erinnern, die die Gespenster-Figur in Derridas Überlegungen erfüllt: ein Denk-Bild für klar und deutlich benannte begriffliche Problemlagen zu sein. Sonst wäre man unweigerlich enttäuscht darüber, dass die Beiträge des vorliegenden Bandes mit dem Titel „‚Lernen, mit den Gespenstern zu leben‘. Das Gespenstische als Figur, Metapher und Wahrnehmungspositiv“ sich für diese begriffliche Problemlage, die Derrida beschäftigt, ganz überwiegend nicht interessieren, und deshalb auch nicht zu ihr beitragen wollen. „Das Gespenstische“ wird eher über den Daumen gepeilt als „Denkmodell und Wahrnehmungspositiv erprobt und verhandelt“. In fünf inhaltlich nicht immer homogenen Sektionen forschen die BeiträgerInnen also dem Auftauchen und der Funktion von Gespensterfiguren in Philosophie, Geschichte(n), Orten, dem Theater und den Medien nach, stets eingeleitet von knappen Bemerkungen der Herausgeber_innen, die indes die Beiträge zu oft als Exemplare eines in bedauerlicher Ferne von Derridas Reflexionsstand behaupteten „Denkmodells“ verorten wollen. Es lohnt sich deshalb, die Beiträge unabhängig von diesen überwiegend doxographischer Ehrerbietung verpflichteten Klammern zu lesen – denn tatsächlich überzeugen sie als kenntnis- und geistreiche Reflexionen der Mannigfaltigkeit von kulturellen Gespenstermotiven.

So finden sich im Band erstens Beiträge, die das Auftauchen von „Gespenstern“ in Geschichte, Literatur und Kunst zum Anlass haben. Erika Thomalla rekonstruiert die in populären europäischen Journalen geführte „Gespensterdebatte um 1800“ als ein diskursives Brennglas, in dem sich das Unbehagen an technischen und wissenschaftlichen Neuerungen der Aufklärung gebündelt artikulieren kann. Sladja Blazan liest die Gespenstergeschichten Washington Irvings als eine „Form […], die ihm erlaubt, afroamerikanische und nordamerikanisch-indianische Charaktere ins Zentrum seiner Narration zu stellen, ohne ihnen einen Aktionsradius zugestehen zu müssen“; Vera Kaulbach („Wiedergänger im Ersten Weltkrieg“) nutzt den – nur noch ganz entfernt auf das Sammelbandthema angewiesenen – Topos des „zwischen Leben und Tod stehenden Wiedergängers“ als Probe, die Weltkriegsromane als Verhandlungen des „porös gewordenen männlichen Körpers“ erweist. Michael Ostheimer („Von der Hanto- zur Hamletologie“) interpretiert überzeugend die Aufnahme des Hamlet-Stoffs in der bundesrepublikanischen Literatur von Alfred Döblin über Walter Jens und Wolfgang Hildesheimer bis Stephan Wackwitz als die literarische Erprobung und Zurückweisung eines traditionellen Stoffs im Bemühen, ein Modell für den Streit um die individuelle, familiäre und gesellschaftliche Teilnahme am nationalsozialistischen Verbrechen zu finden. Wie der Gespenster-Stoff als Mittel gesellschaftlicher Erinnerung, wenn auch kontrovers, gelingt, zeigt Micha Braun an den „Praktiken gespenstischer Erinnerung bei polnischen Künstlern nach 1989“ („Echo/ Ghost“); die Rede vom „Gespenstischen“ in den Arbeiten etwa Zbigniew Liberas ist dabei nur mehr ein Bild für die Form des (kollektiven, ästhetisch vermittelten) Erinnerns: Es wiederholt und transformiert in der Wiederholung das Erinnerte und macht es damit konstitutiv angreifbar für Geschichtsklitterung, aber auch progressiv orientierte Erinnerungspolitik. Einen verwandten Gedanken entwickelt Karin Peters in einer eleganten Interpretation von Adolfo Bioy Casares’ Roman „Morels Erfindung“ („Von Geisterhand“), in der sie die phantastische Erzählung über einen Schriftsteller, der, auf einer von technisch projizierten Phantomen bevölkerten Insel gestrandet, sich aus Liebe zu einer Projektion selbst zum Phantom macht, in den Horizont der postkolonialen Emanzipation argentinischer Literatur in der „literarischen Weltrepublik“ stellt. Eva Krivanec schließlich zeichnet die parallele Entwicklung von Fertigkeiten und Techniken des Bauchredens am Beispiel dreier Bauchredner aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert vor und interpretiert diese Performance-Art im Licht der Faszination, die das „Freundlich-Gespenstische“ dieser Kunstform auf das (immer komplizenhafte) Publikum ausübte („Dislozierte Rede“).

Eine zweite Gruppe bilden Beiträge, die das Gespenster-Motiv als ein Denkmodell nutzen, um ganz anders gelagerte Sachlagen zu illustrieren. So die im engeren Sinn theaterwissenschaftlichen Beiträge: Sebastian Schulz etwa erläutert als „Das Gespenst der Choreographie“ die sich seit dem späten 16. Jahrhundert anbahnende Spannung zwischen einer affektiv-begehrenden Leiblichkeit und den Gestalten, diese Leiblichkeit in einer symbolischen Ordnung (exemplarisch: der Tanz-Ordnung) zugleich zu artikulieren und (vergeblich) zu bannen; wenn auch Schulz’ Rückgriff auf Überlegungen Jacques Lacans etwas zu extern-instrumentell, weil zu wenig an den konkreten psychoanalytischen Problemstellungen orientiert gerät, ist doch seine Funktionsbestimmung für eine „reflektierte Choreographie“ an- und aufregend. Desgleichen Mateusz Chaberskis Plädoyer dafür, in der Inszenierung von „gespenstischen“ (also mit dem Gespenstermotiv operierenden) Performances nicht nur die Relation zwischen „Geist“ und „Publikum“, sondern auch die zwischen beiden und dem konkreten Ort der Inszenierung mitzubedenken („Who Haunts Whom?“): Das Bemühen, die instabile Erfahrung der Zuschauerin selbst zum Thema zu machen, könne der konkreten Ortsgebundenheit von „Geistererscheinungen“ nicht entraten. Hans-Friedrich Bormann („Who’s there?“) zeichnet an der Geschichte der theatralen Darstellung von Hamlets Vater nach, dass die Inszenierung von Geistern auf dem Theater nicht nur spezifische Schwierigkeiten mit sich bringt (man müsse die „Erschütterung der anderen Protagonisten […] plausibel“ machen, weil – ganz handfest gesprochen – eben doch immer nur Menschen auf der Bühne stehen) und zugleich die Möglichkeit einer kritischen Darstellung eröffne, weil an der Geisterfigur der „Vorgang der Darstellung“ selbst sichtbar werden könne. Das ist plausibel – kommt aber diese „kritische“ Funktion exklusiv den Geisterrollen zu, oder gehört sie nicht eher zum theatralen Darstellen (zum Begriff der „Darstellung“) überhaupt – auch wenn, unbestritten, die Geisterfiguren sie besonders anschaulich machen? Dafür sprächen die Überlegungen Carola Hillbrands („Gespenst | Er | Leben“), die in der „theatralen Sprache“ und ihren Ausdrucksformen ein Mittel sieht, die skandalöse Erfahrung der sogenannten „sauberen“ (also ohne feststellbare Spuren erlittenen) Folter zu artikulieren.

In all diesen Beiträgen ist die „Gespenster“-Figur eine Illustration von einander scheinbar widersprechenden Perspektiven, die man in der angemessenen Beschreibung des Gegenstands einnehmen muss: Es wird etwas präsentiert, indem es als verschwindend gezeigt wird; etwas zeigt sich in seiner Abwesenheit. Im Unterschied zu den Beiträgen des ersten Typs, die das Auftauchen von „Gespenstern“ in ihren Gegenständen jeweils als Versuche interpretieren, mit solchen Spannungen fertigzuwerden, nutzen die Beiträge des zweiten Typs die Figur eher, um solche Spannungen im Bild zu bannen. Unbefriedigend bleibt das nur, wenn man sie im Licht der Beiträge des dritten Typs liest (ein Licht, in das sie sich freilich selbst oft stellen). In diesen letzteren Beiträgen steht das „Gespenst“ ganz ausdrücklich als Denkmodell im Zentrum. Sie gelingen, wann immer die hinter der Beschäftigung mit dem „Gespenst“ stehenden theoretischen Problemlagen selbst zum Thema werden: Bei Stefan Apostolou-Hölscher („Derridas Gespenster“), der sein Unbehagen an Derridas Marx-Deutung durch die Rekonstruktion von dessen Streit mit Michel Foucault begründet und zu dem Schluss kommt, Derridas skrupulös-interpretierende Ausdeutung eines „Marx’schen Erbes“ gerate – im Unterschied zum Projekt Foucaults – letztlich eben doch zu einer akademistischen Übung in politischem Eskapismus (eine Konsequenz, die dem Rezensenten allerdings eher aus der polemischen Anlage des Essays als aus der Argumentation Derridas zu folgen scheint); oder bei Christian Sternad („Die Zeit ist aus den Fugen“), der Derridas Überlegungen mit Emmanuel Lévinas’ Ethik der Andersheit engführt – eine Argumentation, die mehr Derrida an Lévinas angleicht, als umgekehrt Derridas Kritik an dessen anspruchsvoller Phänomenologie der Zeitlichkeit im Licht einer konstitutiven Erfahrung der „Sterblichkeit“ ernstnimmt, aber Lust macht, Lévinas als „gespenstischen“ Autor wiederzulesen.

Weniger befriedigend hingegen sind Beiträge, die Derridas zugespitzte Problemformulierungen aufnehmen, um sie zu vermeintlichen „Lösungen“, oft in Gestalt vermuteter „Paradoxien“, umzuwidmen. Sie sind nicht etwa ärgerlich, weil sie Derrida anders interpretieren, als der Rezensent es sich wünschte, sondern weil sie ohne Not Gelegenheiten zur produktiven Reflexion verschenken. Was soll man von der Beschreibung halten, das Gespenst lasse sich, obwohl „es eher den Charakter eines Dings hat, […] nicht dingfest machen“? Hätte das Gespenst „eher“ dinglichen Charakter, dann könnte sich Hamlet allenfalls gleichsam von ihm angesprochen fühlen. Unheimlich ist aber doch gerade, dass Hamlet sich im Ernst als von einem anderen Subjekt angesprochen findet – nicht, dass er dieses Subjekt nicht verdinglichen kann. Man kann das so formulieren, dass die „unklare Ontologie des Gespensts […] zugleich die Ontologie des Theaters“ sei, „das ebenfalls ist und nicht ist“. Aber sagt man damit mehr, als dass man zwischen dem Darstellen und dem Dargestellten unterscheiden kann? Zum Rätsel wird das nur für den, der sich einer empiristischen Ontologie verschreibt, die neben Sicht- und Anfassbarem nichts Wirkliches in der Welt gelten lässt. Dann aber wäre es allemal dringender, über andere „unheimliche“ Sachen nachzudenken, die unser Leben viel handfester bestimmen: dass Versprechen Verpflichtungen erzeugen, dass soziale Institutionen existieren, dass Musik diejenigen bewegt, die sie zu hören gelernt haben. Man könnte das alles aufs „Gespenstische“ zurückbeziehen – ob man damit etwas über diese Sachen lernt, ist aber fraglich.

Damit soll nicht gesagt sein, dass „Gespenster“ nicht ernsthaft und produktiv zu denken geben könnten; versteht man sie aber lediglich „als Dinge, die so tun, als wären sie für sich, also sich selbst bewusste Dinge“, dann hat man schon mit der ersten unbedachten Formulierung alles zugedeckt, was an ihnen faszinieren kann: Denn würden Gespenster nur „so tun, als ob“ sie Personen sind, dann wären sie nicht interessanter als elektrische Müllroboter mit Clownsgesichtern. Irritierend sind sie doch nur, weil sie Personen sind: weil wir uns von ihnen angesprochen und betroffen finden. Dass sie gleichwohl irgendwie „abwesend“ sind, sich nicht befragen lassen und gleichsam wie aus der Vergangenheit in unser Leben hineinragen, macht sie nicht „paradox“, sondern nur ausgesprochen interessant. Die Beiträge dieses Bandes eröffnen im Ganzen erhellende und verblüffende Perspektiven darauf, wie, wann und in welcher Gestalt dieses Interesse spätestens seit der europäischen Aufklärung Eingang in die unser Selbstverständnis (mit)bestimmenden Kulturprodukte gefunden hat. Dass, von den beiden hervorgehobenen Beiträgen abgesehen, im Weiteren keine Auseinandersetzung mit den für Titel und Vorhaben stichwortgebenden Überlegungen Derridas stattfinden, wird die geneigte Leserin deshalb verschmerzen – und über manche spielmarkenhafte autoritäre Anrufung von für sich genommen diskussionswürdigen Theoremen, die sich am Orte weder als sachlich noch als argumentativ geboten (oder auch nur als nützlich) verstehen lassen, mild hinweglesen.

Titelbild

Lorenz Aggermann / Ralph Fischer / Eva Holling / Philipp Schulte / Gerald Siegmund (Hg.): „Lernen, mit den Gespenstern zu leben“. Das Gespenstische als Figur, Metapher und Wahrnehmungsdispositiv in Theorie und Ästhetik.
Neofelis Verlag, Berlin 2015.
378 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783943414479

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