Wie wir lernen, das Verdrängte zu lieben

Ein interdisziplinärer Sammelband belegt die aktuelle akademische Konjunktur des „Unheimlichen“

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Phänomene des Unheimlichen, des Spukhaften oder des Horrors sind längst integrale Bestandteile unserer Kultur – als lebensweltliche Schrecknisse wie als ästhetische Artefakte unterschiedlichster Couleur. In der Literatur, der bildenden Kunst und der Architektur ist das Unheimliche ebenso heimisch wie im Kino und in Fernsehserien. Die akademische Aufarbeitung des Unheimlichen ist dagegen ein verhältnismäßig junges Phänomen. Spätestens seit den so deklarierten „uncanny 90ʼs“ aber nimmt die kulturwissenschaftliche Reflexion dieses Gegenstandes, insbesondere im Bereich der am Poststrukturalismus geschulten Theoriebildung, großen Raum ein. Diese späte Wiederkehr eines zwar nicht neuen, aber lange Zeit eher marginalisierten Begriffs ist nicht zuletzt seinem Facettenreichtum und der damit einhergehenden disziplinären Vielfalt der Anknüpfungspunkte zu verdanken. Im Nachdenken über das Unheimliche überlagern sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – poetologische, epistemologische, religionsphilosophische, ethnologische, literatur-, kunst- und medientheoretische, psychoanalytische, ästhetische, politische, motivgeschichtliche und anthropologische Fragestellungen. Das weite Feld des Unheimlichen hat für jede Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaft etwas zu bieten, kein Fachvertreter muss sich als armer Verwandter an den Tisch seiner reicheren Kollegen setzen. Das Unheimliche ist gleichsam ein Theorieimport ohne exportierenden Akteur, da es erst durch vielfältige disziplinäre Austauschbewegungen zu seiner wissenschaftlichen Bedeutung gelangte und keinem Bereich eindeutig ursprünglich zuzuschreiben ist. Allen voran würde das Sigmund Freud bestätigen, betonte er doch in seiner ebenso diffusen wie grundlegenden Abhandlung „Das Unheimliche“ (1919) die Überlagerung von Ästhetik und Psychoanalyse, von Individual- und Kulturpsychologie, flankiert von einem eigenwilligen hermeneutischen Versuch und Überlegungen zu Etymologie und Fiktionalität.

Gegenwärtig hat die akademische Konjunktur des Unheimlichen einen neuen Höhepunkt erreicht. Ein Beleg – unter mehreren anderen – ist der von Nicola Mitterer und Hajnalka Nagy herausgegebene Tagungsband „Zwischen den Worten. Hinter der Welt“. Ein Beleg auch für die nahezu grenzenlose thematische Breite, die vom Unheimlichen abgedeckt wird. Was diesen Band von vergleichbaren Unternehmungen abhebt, ist daher weniger ein ohne Frage vorhandener interdisziplinärer Anspruch, als seine – wenn auch nicht bei allen Beiträgen durchschlagende – didaktische Ausrichtung. Das ist sein Alleinstellungsmerkmal unter entsprechenden Konkurrenzprodukten, denn die Herausforderungen des Umgangs mit dem Unheimlichen im schulischen Unterricht wurden bislang nicht hinreichend bedacht. Hier werden zumindest erste Ansätze geliefert.

In einer ebenso gelehrten wie herausfordernden Einleitung legen Mitterer und Nagy dar, dass „jeder Versuch, das Unheimliche zu analysie­ren, notwendigerweise scheitern muss“ – das wäre ein ernüchternder Befund für jedwede analytische Anstrengung und der Todesstoß für diese Publikation, würden sich die Herausgeberinnen nicht beeilen, hinzuzufügen, dass dennoch „das Bemühen darum, eine Ant­wort zu finden – hier wie in der Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen ganz generell – nicht obsolet“ sei. Tatsächlich zeichnet sich das Unheimliche auch dadurch aus, Festschreibungen widerspenstig zu begegnen. Insgesamt wird von diesem Band nolens volens die Frage aufgeworfen, in welcher Weise und in welchem Ausmaß der bedeutungsgenerierende Beitrag des Rezipienten für das Unheimliche entscheidend ist. Kann das Unheimliche überhaupt anders als assoziativ und von individuellen Dispositionen geprägt behandelt werden, ist eine wissenschaftliche Eingrenzung dieses schillernden Komplexes überhaupt möglich? Vorschnell die Waffen strecken und in schlechte postmoderne Beliebigkeit und Resignation verfallen sollte man dennoch nicht. Wie schließlich auch einige der Beiträge beweisen, ist einer interpretierenden und theoretisierenden Annäherung an das Unheimliche ein „Scheitern“ keineswegs irreduzibel eingeschrieben.

Die in der Einleitung genannten Bezugsgrößen lassen den Gestus des notwendigen Scheiterns indes begreiflich erscheinen: Hermeneutische Gewissheiten und unproblematische Sinnstiftungen waren die Sache von (post-)strukturalistisch geprägten DenkerInnen wie Hélène Cixous und Jacques Lacan bekanntermaßen (und glücklicherweise) nicht. Die Einleitung ist dieser bisweilen etwas manierierten Denk- und Schreibrichtung auch stilistisch verpflichtet, gibt damit aber nicht den Ton des gesamten Bandes vor. Besonderes Gewicht legen Mitterer und Nagy darauf, dass das Unheimliche sich „zwangsläufig in unser aller Leben drängt“, dass wir uns mithin nicht damit beruhigen können, es nur mit ästhetischen und daher womöglich immer schon domestizierten Gegenständen zu tun zu haben. Im Gegenteil: Es scheint sogar so zu sein, dass etwa in der Literatur nur ein Nachhall einer existenziellen und vor allem stets präsenten Wirkungsweise des Unheimlichen zur Erscheinung gelangt, da Wahrnehmungs- und Leseprozessen immer etwas Unheimliches eigne. Ob diese Emphase angebracht und analytisch hilfreich ist, mag freilich anders bewertet werden können.

Darüber hinaus ist den Herausgeberinnen die Beobachtung wichtig, dass gerade junge Menschen vom Unheimlichen fasziniert seien, womöglich, weil Jugend per se eine für das Unheimliche typische Schwellensituation sei – was der didaktischen Perspektive eine besondere Relevanz verleiht. So ist es kompositorisch einleuchtend, dass der Band mit einem Beitrag von Marlies Breuss über „Gedanken und Empfindungen einer Deutschlehrerin“ schließt. Eröffnet wird die Parade der Unheimlichkeit bemerkenswerterweise von einem literarischen Text. Margit Hahns Erzählung „Der Lackmantel“ bringt einige der zentralen Topoi des Unheimlichen geradezu mustergültig zur Sprache: Unsicherheit, anonyme Bedrohung scheinbarer Heimeligkeit, das Ausloten individueller Abgründe, Auflösung linearer Ordnungen, die Infragestellung der eigenen Wahrnehmung und Vernunft sowie die verstörende Erfahrung, dass das Selbst immer schon vom Anderen, Fremden infiziert erscheint.

Die Reihe der wissenschaftlichen Texte beginnt mit einem (bereits an anderer Stelle publizierten) englischsprachigen Aufsatz von Anneleen Masschelein, der grundlegende Arbeiten zum Themenbereich zu verdanken sind. Im Rückgriff auf ihre älteren Studien, aber durchaus mit Blick auf aktuellere Entwicklungen, skizziert Masschelein, wie das Unheimliche, obschon es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch mehrere Theoriegebäude spukte, erst am Ende des Jahrhunderts als (Un-)Konzept ausgearbeitet wurde. Sehr kenntnisreich wird die Etablierung des Begriffs nachgezeichnet, wobei als zentrale Etappen die Überlegungen von Tzvetan Todorov, Jacques Derrida und Hélène Cixous hervorgehoben werden.

Christoph Leitgeb stellt das sprachphilosophische Gedankenexperiment vom „Gehirn im Tank“ vor und verfolgt dieses Motiv in literarischen Texten, was ihn schließlich im Rückgriff auf Todorov und Lacan zu Ansätzen einer auf das Unheimliche ausgerichteten Theorie der Fiktionalität bringt. Anschließend beschreibt Endre Hárs, anknüpfend an Überlegungen von Giorgio Agamben, die unheimlichen Konsequenzen des anthropologischen Projekts des 18. Jahrhunderts, das sich bei der philosophischen Ergründung des genuin Menschlichen immer wieder auf Mittelwesen gestützt habe, wodurch die Unheimlichkeit der conditio humana sichtbar werde. Gerade Vernunft und Erkenntnisfähigkeit ließen den Menschen die Unstetigkeit seiner eigenen Gattung erkennen, so dass ihnen unheimliche Potenziale zukämen.

Jens Guthmanns Beitrag unternimmt, so der Untertitel, „Streifzüge durch das Unheimliche in der Bildenden Kunst“ – ausgehend von der These, dass es das Unheimliche in der Bildenden Kunst eigentlich nicht geben könne. En passant wartet dieser kluge Text mit einer stimmigen Eingrenzung des Unheimlichen auf: Es handele sich nicht um eine konkrete, auf einen speziellen Gegenstand gerichtete Angst. „Vielmehr ist es eine Ahnung davon, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Es geht wohl darum, unsere Aufmerksamkeit zu erhöhen, um handeln zu können, wenn sich der Grund der Differenz offenbart.“ So gefasst, wird das Unheimliche als ästhetisches Grundprinzip begreifbar.

Als einen „Topos der Kinder- und Jugendliteratur“ betrachtet Christina Ulm das Unheimliche (wobei zu diskutieren wäre, ob der Topos-Begriff hier glücklich gewählt ist). Ihr theoretischer Ansatz ist die „liminale Anthropologie“, da Motive und Weltentwürfe der unheimlichen Literatur fast immer von Übergängen und Grenzwahrnehmungen handelten. So werden etwa Vampire und Werwölfe als „Figurationen der Grenze“ verstanden. Erna Pfeiffer wiederum vergleicht die literarische Fantastik mit dem „Magischen Realismus“. Die Frage, ob sich beim Magischen Realismus, der das Wundersame nicht als befremdend oder bedrohlich darstellt, überhaupt ein Gefühl des Unheimlichen einstellen kann, wird leider nur flüchtig aufgegriffen.

Die Breite des Feldes wird unterstrichen durch den filmwissenschaftlichen Beitrag von Johannes Binotto, der bereits eine einschlägige Monografie zum Thema vorgelegt hat. Film sei „Medium des Unheimlichen par excellence“. Zudem bestehe die eigentliche Innovation des Unheimlichen nicht in der Betonung von Motiven, sondern in der Präsentation und Wahrnehmung des Raumes. Der Verfasser versteht es, seine Behauptungen an Filmen von Fritz Lang, Dario Argento, David Lynch und Jonathan Glazer eindrucksvoll zu belegen. Binottos Aufsatz ist einer der schlüssigsten und stimulierendsten Texte des Bandes, auch über seine filmischen Beispiele hinaus. Nur vage mit dem Unheimlichen verbunden ist der darauffolgende Beitrag, in dem Gerda E. Moser eine überzeugende (und geradezu erschütternde) ideologiekritische Lektüre der „Fifty Shades of Grey“-Trilogie präsentiert.

Ulf Abraham, eine Kapazität auf dem Gebiet der literarischen Fantastik und ihrer Didaktik, spürt dem methodischen Ort des Unheimlichen in literarischen Verstehensprozessen nach und entwickelt dabei das Konzept einer „textbesessenen Lektüre“. Auch wenn man nicht allen theoretischen Aspekten zustimmen mag, handelt es sich um hilfreiche Beobachtungen, die den für unheimliche Wirkungen unabdingbaren Rezeptionsmodus fokussieren. Ursula Klingenböck hingegen liest zwei Romane von Thomas Glavinic im Hinblick auf eine „Poetik des Unheimlichen“. Ihren theoretischen Hintergrund bilden postmoderne Plädoyers für das „Nicht-Verstehen“, da „das nicht Verstehbare ein Konstituens des Unheimlichen“ sei. Das Unheimliche wird, über die Glavinic-Lektüre hinaus, zu einer Provokation hermeneutischer Modelle.

Auch wenn bei einigen Beiträgen der Bezug zum Unheimlichen eher lose und assoziativ ist: In der weiteren akademischen und didaktischen Beschäftigung mit dem Unheimlichen wird dieser Band sicher eine wichtige Position einnehmen. Allerdings befeuert die thematische Vielfalt und terminologische Offenheit die stets dräuenden Gefahren der Beliebigkeit und mangelhaften terminologischen Präzision. Ein omnipräsenter Begriff kann rasch zum Allerweltswort werden, das seine Tauglichkeit zur kulturtheoretischen Reflexion einbüßt. Insbesondere dann, wenn der Begriff selbst nicht mehr hinterfragt, sondern benutzt wird, als verstünde er sich von selbst. Wenn etwa – wie hier geschehen – die von abgegriffenen Klischees geprägten „Twilight“-Romane, die in ihrer affirmativ-reaktionären Grundhaltung rein gar nichts Verunsicherndes haben, mit gleichem Recht als „unheimlich“ bezeichnet werden wie verstörende Filme von David Lynch, dann ist die Arbeit am Begriff zu einer bloßen Applikation eines Labels verkommen, das mit plattestem Grusel gleichbedeutend ist. Sollte das Unheimliche mit wohlfeiler Vampir-Romantik oder dem Fantastischen im Allgemeinen zu verrechnen sein, dann ist absehbar, dass der aktuelle Konjunktur-Zyklus dieses Begriffs auf eine veritable Krise zusteuert. Der Popularität des Unheimlichen in der Gegenwartskultur würde dies freilich nichts anhaben: Offenbar können wir nicht anders, als die ästhetisch aufbereitete und hervorgerufene Verunsicherung und die Auseinandersetzung mit unseren verdrängten Ängsten zu lieben.

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Nicola Mitterer / Hajnalka Nagy (Hg.): Zwischen den Worten. Hinter der Welt. Wissenschaftliche und didaktische Annäherungen an das Unheimliche.
Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde.
Studien Verlag, Innsbruck 2015.
248 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783706554183

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