Der Fährmann aus Łódź

Zum Tod von Karl Dedecius

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Das Stadtwappen von Łódź wird von einem Boot bestimmt. Und wie ein Fährmann vermittelte Karl Dedecius sein ganzes Leben lang zwischen zwei sich gegenüberstehenden Seiten. Dedecius wurde 1921 in Łódź (Łódź = Boot) geboren und hatte bereits seine Kindheit und Jugend mit deutschen wie mit polnischen Freunden verbracht. Dieses Neben- und Miteinander polnischer und deutscher Kultur und Sprache, die er beide beherrschte, kennzeichnen sein Leben als auch sein Lebenswerk.

Als sogenannter Beutegermane hatte Dedecius in der Wehrmacht gedient und war in russische Kriegsgefangenschaft geraten. Er hätte bereits 1945 als Pole entlassen werden können, aber Dedecius lehnte ab: „Man kann seine Staatsbürgerschaft wechseln, aber nicht seine Eltern, seine Volkszugehörigkeit, seine Erziehung, seinen Glauben“. Im Lager lernte er, dass er mit dem Übersetzen von Gedichten einen eigenen Beitrag zur Verständigung mit den slawischen Nachbarn leisten kann. Die dringende Notwendigkeit zur gegenseitigen Verständigung war im Lebensweg von Dedecius angelegt. Nationalen Chauvinismus und rassischen Fanatismus hatte er in seiner Jugend zur Genüge kennengelernt. Auch ihm und seinen Verwandten waren Flucht und Vertreibung aus der Heimat nicht erspart geblieben. Sein Vater war in den Wirren des Kriegsendes in seinem Łódźer Vorstadthäuschen ermordet worden.

Nach seinem Wechsel von der DDR in die Bundesrepublik im Dezember 1952 widmete sich Dedecius nach und nach der Präsentation polnischer Dichter und Schriftsteller – eine Pionierarbeit in einem vom Kalten Krieg zerrissenen Europa. Allen wichtigen polnischen Autoren, darunter auch späteren Nobelpreisträgern wie Czesław Miłosz und Wisława Szymborska, waren von ihm Stimmen verliehen worden. Solch bedeutenden Autoren wie Julian Przyboś, Zbigniew Herbert, Tadeusz Różewicz oder dem Aphoristiker Stanisław Jerzy Lec verhalf Dedecius außerhalb der polnischen Grenzen überhaupt erst zu Anerkennung und Ruhm.

Aber auch russische Dichter wie Gennadij Ajgi oder Joseph Brodskij wurden von Dedecius für das deutsche Publikum entdeckt. Mit der betagten Lilja Brik, der Geliebten von Majakovskij, führte er einen lebhaften Briefwechsel und hatte sie sogar einmal in Moskau besuchen können.

Mit Vorliebe widmete sich Dedecius den Verfemten und zurückgedrängten Autoren, ohne sich vor Komplikationen mit den realsozialistischen Funktionären zu scheuen. Üble Attacken von Stalinisten wie auch deutschen Rechtsextremisten ertrug Dedecius souverän: „Tiefe Verwurzelung in der verlorenen ‚Heimat‘, durch die dort genossene Natur und Erziehung, Bildung, Reife. Die Herkunft aus mehreren Vater- und Mutterländern zugleich. Das Gehör für Sprachen, Kulturen, Volkscharaktere. Für die Probleme der Identität“.

Über 25 Jahre hinweg hatte Dedecius neben seinem bürgerlichen Beruf in einer großen Versicherungsfirma seine Freizeit dem Übersetzen und Präsentieren von polnischer Literatur gewidmet. Im Laufe von Jahrzehnten war er in eine Vermittlungsrolle hineingewachsen, die er mit der Gründung des Deutschen Polen-Instituts auf der Mathildenhöhe bei Darmstadt im Dezember 1979 in eine offizielle Gestalt überführt hatte.

Das beharrliche Hinweisen auf die Stimmen unserer östlichen Nachbarn war erhört worden und konnte dank dieses Instituts in einer wirksameren Form fortgeführt werden. Das siebenbändige „Panorama der Polnischen Literatur“ oder die „Polnische Bibliothek“, die unter Federführung von Dedecius mit 50 Bänden im Suhrkamp Verlag erschienen ist, stellen eindrucksvolle Ergebnisse dieser Arbeit dar.

In seinen im Jahr 2006 erschienenen Erinnerungen „Ein Europäer aus Łódź“ kann man das Wunder nacherleben, wie aus der grenzüberschreitenden Wahrnehmung von Kunst und Literatur Begegnungen werden, die zu Frieden und Versöhnung führen.

Besonders dankbar war Karl Dedecius dafür, dass er mit der Implosion des „real existierenden Sozialismus“ das Ende der politischen Teilung in Europa noch erleben durfte. Der Kreis hat sich für ihn nicht zuletzt in symbolischer Weise geschlossen, als ihm in Łódź 1990 die Ehrendoktorwürde verliehen und im Jahr 2002 ein neugegründetes Gymnasium zu seinen Ehren benannt wurde. 2003 bekam er als erster Deutscher die höchste polnische Auszeichnung, den Orden des Weißen Adlers, verliehen.

Am 26. Februar 2016 ist Karl Dedecius im Alter von 94 Jahren in Frankfurt am Main gestorben.