Einsam in der Gruppenaufnahme
Erotiker, Selbsterschaffer, Blauer Reiter: Wilfried F. Schoeller deutet Franz Marc
Von Anett Kollmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Leben von Franz Marc, Meister der Moderne, beginnt 1690 – zumindest in der Darstellung von Wilfried F. Schoeller. Der ehemalige Bremer Literaturprofessor datiert um dieses Jahr herum die Geburt des Ururgroßvaters des Künstlers, um anschließend die Familiengeschichte als „flittrigen Episoden-Wirrwarr“ nachzuzeichnen. Diese biologisch-soziale Detektion des Künstlergens mag wissenschaftliche Gründlichkeit sein oder akademische Parade, währt aber glücklicherweise nur zwei Seiten. Es zeigt schon, worauf Schoeller hinauswill: Er sucht nach Spuren und Mustern im Leben (und Vorleben) des Malers, um Person und Kunst in diesen Strukturen zu deuten. Der Porträtierte gewinnt so an Profil, eine Klammer, die aber zuweilen in Gefahr steht, zum Schema zu werden.
Beispielsweise erkennt Schoeller in Marcs Wesen eine schon in der Herkunft angelegte Bipolarität. Aufgewachsen in zwei religiösen Milieus, protestantisch und katholisch, quasi ‚zweisprachig‘, prägten ihn die stumme Abwehr der calvinistischen Leibfeindlichkeit – siehe Liebesleben – ebenso wie ein lächelndes Zutrauen in die Natur – siehe Tierbilder. Die wechselnden Berufswünsche des Heranwachsenden zwischen Pfarrer, Philologe oder Künstler widersprechen jedoch dem zweidimensionalen Muster. Die bipolare Deutung, an der Schoeller Marcs Lebensereignisse misst, geht auch im Liebesleben des Künstlers nicht auf. Einerseits sei er der geschlagene Melancholiker, seinen seelischen Regungen gleich einem katatonischen Stupor hingegeben, andererseits der zielgerichtete Regisseur der Erotik. Der „Erotiker“ Marc lebte längere Zeit in einer komplizierten Ménage-à-quatre mit drei Frauen, die jeweils mehrere Jahre älter als er waren. Sein Biograf drängt die Geliebten aufgrund des Altersunterschied allesamt in Mutterrollen gegenüber dem Liebhaber und liefert gleich noch eine Typologie: Annette Simon als „hohe Frau“, Marie Schnür als „attraktive ältere Geliebte“ und Maria Franck als „Juno, die einen aufnimmt, auch wenn man fehlt“. Analog zu diesem Schematismus – und genauso falsch – könnte man Marc ebenso als erotisches Sehnsuchtsobjekt einer gelangweilten Ehefrau, einer verlassenen Mutter und eines späten Mädchens deuten. Erkenntnisgewinn bergen solcherart auktoriale Schemata nicht.
Dabei erklärt der Autor noch im Vorwort: „Wir überlassen den Göttern mit ihren Linsenaugen den Durchblick und lassen uns stattdessen von Facettenauge der Insekten leiten“. Libellengleich soll aus den ungezählten Blickpunkten des Insektenauges ein Lebensbild entstehen und das Verfahren des Künstlerbiografen aus seiner bisherigen chronologischen Beschreibung des Lebens als „eine Jakobsleiter zum Gelingen“ befreit werden. Abgesehen davon, dass die besten Biografien schon immer vieläugig beziehungsweise vielstimmig waren, ist Schoellers Vorsatz lobenswert, wenn auch nicht in aller Konsequenz eingelöst. Außerdem sollte er nicht nur für die Darstellung eines Individuums wie Franz Marc Anwendung finden. Scheitern, Widersprüche und Lebensrätsel birgt in aller Wahrheit jede Biografie, nur dass klassische Biografik immer noch auf Triumph getrimmt ist. In Abweichung dazu (und wohl auch wahr) ist aus Marcs Leben wenig Triumphales zu berichten. Liebeschaos, Geldmangel, Erfolglosigkeit; ab 1907 lichtet sich langsam der Nebel über Marcs Genie als Maler – er findet seinen Stil und seine Sujets. Eine neuartige Auffassung von Tiermalerei und kreatürlichem Leben wird zu seinem Markenzeichen, das sein Image noch heute prägt. Bilder dieser Phase füllen Postkartenständer und Posterkataloge. Seine späteren abstrakten Farbexplosionen, die einen weiteren künstlerischen Wandel ankündigen, wirken wie Versprechen an die Kunstwelt, die aufgrund seines frühen Todes leider uneingelöst blieben. Einer Spekulation über seine ungemalten Bilder kann und sollte man sich, entgegen Schoellers Auffassung, jedoch trotzdem entziehen.
Marc war ein „Selbsterschaffer“, eine Singularität in den Münchner Künstlerkreisen, finanziell erfolglos, auch als Kunstlehrer, und künstlerisch unverstanden, selbst von den örtlichen modernen Malerkollegen. Seine Götter waren neben Vincent van Gogh die Franzosen Paul Gauguin und Paul Cézanne. Erst 1910 trifft er mit August Macke einen deutschen Gleichgesinnten und verschafft sich in den folgenden Jahren Zugang zum Kunstbetrieb. Unter den Modernen blieb er bis zu seinem Tod eine Einzelerscheinung. Schoellers postuliertes Vorhaben, aus der Biografie „immer wieder eine Gruppenaufnahme der Avantgarde“ zu machen, „ein Kollektivbild […] öfter ausgeweitet zum geistesgeschichtlichen Panorama“, scheint deshalb gewagt. Der Anspruch wird aber nicht überstrapaziert und die in Biografien gleichen Kalibers nicht selten gestellt wirkenden Szenarien werden so vermieden. Der Biograf ordnet mit kurzen geschickten Winken, die den Kundigen ausreichen und den Unkundigen nicht auffallen, obgleich die Anwesenheit des Regisseurs immer spürbar bleibt.
Trotz aller Kritik ist Schoellers Monografie gelungen und lesenswert, erzählerisch gut strukturiert sowie in der Sache vertrauenswürdig und zeitgemäß. Darüber hinaus ist sie in ihrem analytischen Ansatz ein ergänzendes Gegenstück zur empathischen Marc-Biografie Brigitte Roßbecks aus dem vorigen Jahr. Beide, Roßbeck wie Schoeller, räumen auf der Grundlage neuer Quellen mit Vorurteilen auf und porträtieren einen Künstler in der ihm ganz eigenen Einzigartigkeit.
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