Das Unheimliche
Vorbemerkungen zum Schwerpunkt
Von Manuel Bauer und Seminar Lehrredaktion
Ist vom „Unheimlichen“ die Rede, wird ein ebenso breites wie diffuses semantisches Feld aufgerufen. Horror, Schauer, Schrecken, allerlei Spukhaftes und Gespenstisches, aber auch Fremdheits- und Entwurzelungserfahrungen sind mit diesem allgemein gebräuchlichen und dennoch schwer fassbaren, sich stets entwindenden und doch beständig wieder auftauchenden – und dadurch gewissermaßen selbst unheimlichen – Begriff verbunden, der sich in der Nachbarschaft zum Phantastischen, Grotesken, Numinosen oder Erhabenen bewegt und rege Austauschbewegungen mit diesen Bereichen unterhält.
Einer der ersten Autoren, dessen unheimliche Geschichten ein breites Publikum erreichten, war Horace Walpole, der vor allem für seine gothic novel „Das Schloß Otranto“ (1764) berühmt wurde. Zahlreiche Adepten schlossen sich seinem Beispiel an und bereiteten ihren Rezipienten mit einem Konglomerat aus unheimlichen Gestalten, Orten und Begegnungen bald wohliges, bald verstörendes Unbehagen. Vom Schauerroman der Spätaufklärung über die „Schwarze Romantik“ und die Klassiker der literarischen Phantastik bis hin zu modernen Horrorproduktionen in der Literatur und in audiovisuellen Medien hat das Unheimliche nichts von seiner Faszinationskraft verloren.
Neben seiner alltagssprachlichen Verwendung und Präsenz hat sich eine seit einigen Jahren intensiv geführte Debatte um das Unheimliche entsponnen, die maßgeblich durch den Bezug auf Sigmund Freuds gleichnamigen Aufsatz aus dem Jahr 1919 geprägt ist. Freud will das Unheimliche als eine spezifische Art des Angsterregenden begriffen wissen, die durch die Wiederkehr des Verdrängten, von infantilen Vorstellungen oder von überwunden geglaubten animistischen Denkformen bedingt wird. Insbesondere Vertreter des Poststrukturalismus im Gefolge von Jacques Derrida und Jacques Lacan haben die Aufnahme des Begriffes in den kulturtheoretischen Kanon forciert. Dass auch Denker wie Rudolf Otto und Martin Heidegger sich in je spezifischer Weise auf das Unheimliche berufen haben, war der Karriere des Begriffes ebenso förderlich wie seine Flexibilität, die das Feld der europäischen Schauerliteratur mit ihren stereotypen Bausteinen bei Weitem übersteigt.
Brisante Aktualität kommt dem Gefühl des Unheimlichen zudem nicht allein als ästhetischem Phänomen zu. Die Freude am gepflegten Gruseln endet abrupt, wenn die eigene Realität vom Unheimlichen eingeholt wird. Nukleare Störfälle, die alle Vorstellungen übertreffende Flüchtlingsthematik oder Terrorangriffe wie am 13. November 2015 in Paris evozieren inmitten der nur scheinbar heimeligen europäischen Kultur und Lebenswelt allzu wirkliche unheimliche Befindlichkeiten – ausgehend von Bedrohungen, die in einer westlichen Gesellschaft für überwunden gehalten wurden, aber allenfalls vergessen oder verdrängt waren und nun unheilvoll wiederkehren. Das Unheimliche ist längst wieder heimisch geworden.
Die Beziehung von akademischer Theoriereflexion, lebensweltlicher Aktualität und der fiktionalen Evokation von Angst ist immer eine enge geblieben – nicht umsonst hat Freud seine Theorie des Unheimlichen ausgehend von einer Beschäftigung mit E.T.A. Hoffmann entwickelt, dem „unerreichte[n] Meister des Unheimlichen in der Dichtung“. Die ungebrochene literarische Konjunktur des Unheimlichen, die sich in neuen oder wiederaufgelegten Publikationen von und zu Klassikern (neben Hoffmann und Walpole beispielsweise H.P. Lovecraft, Nathaniel Hawthorne und Paul Leppin) niederschlägt, wird flankiert von aktuellen wissenschaftlichen Beschäftigungen mit dem Unheimlichen und Gespenstischen. Dieser Schwerpunkt trägt der Breite des Spektrums Rechnung, indem theoretische Überlegungen, Beobachtungen zu Freuds Text und Bemerkungen zum Unheimlichen in der Gegenwartsliteratur sowie der japanischen Kulturgeschichte neben Rezensionen zur wissenschaftlichen Diskussion über das Unheimliche sowie Werken zu diesem Themenfeld versammelt sind. Die Texte des Schwerpunktes sind auf ihre eigene Weise ebenfalls unheimlich, indem sie wieder ans Tageslicht befördern, was uns schon längst vertraut, vergessen oder abgeschlossen schien, und dabei eindringlich die Unvergänglichkeit vermeintlich verdrängter Elemente in unserer hochglobalisierten Welt betonen. Eine Beschäftigung mit dem Unheimlichen ist immer auch eine Beschäftigung mit dem Verdrängten und nur scheinbar Überwundenden, mit dem Fremden, das doch zum Eigenen zählt.
Hinweis: Der Schwerpunkt „Das Unheimliche“ wurde zusammen mit den Studierenden des Seminars „Lehrredaktion“, unter Leitung von Manuel Bauer, an der Philipps-Universität Marburg initiiert und erarbeitet. Im praxisorientierten Seminar, das Bestandteil des Master-Studienganges „Deutsche Literatur“ ist, wurden den Studierenden Einblicke in den Literaturbetrieb, speziell in die Arbeitsabläufe der Redaktion von literaturkritik.de, gegeben und von diesen unterschiedliche kulturjournalistische Texte eingeworben (zum Teil auch selbst geschrieben), in Redaktionssitzungen gemeinsam diskutiert, redigiert und zu diesem Schwerpunkt zusammengestellt.