Begegnung auf dem Mittelmeer

Merle Krögers Roman „Havarie“

Von Christof RudekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christof Rudek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Luxusliner kreuzt durchs Mittelmeer. Ein alter Frachter verlässt den Hafen von Oran. Eine Gruppe Flüchtlinge macht sich in nebliger Nacht mit dem Schlauchboot von Algerien auf den Weg nach Europa. Später werden sie, ohne Benzin auf dem Meer treibend, dem Kreuzfahrtschiff begegnen – und bevor das Boot der spanischen Seenotrettung eintrifft, ihre gefährliche Reise fortsetzen, versorgt mit frischem Sprit und mit einem neuen, schwerkranken Passagier an Bord.

„Havarie“ erzählt von diesen Ereignissen und mehr noch von den Figuren, die darin verwickelt sind. Die gut vierzig kurzen Kapitel des Buches werden aus der Perspektive von jeweils einer von elf Figuren erzählt – darunter ein nepalesischer Sänger, der mit seiner Band auf dem Luxusschiff für seichte Unterhaltung sorgt, eine junge Security-Angestellte, die sich in ihn verliebt und nach seinem Verschwinden verzweifelt nach ihm sucht, der indische Security-Chef des Schiffes, ein Karrierist der schlimmsten Sorte, ein algerischer Schlauchbootflüchtling, seine Freundin, die seiner ungewissen Ankunft von Frankreich aus an die spanische Mittelmeerküste entgegenreist, eine alte, parkinsonkranke Dame aus Deutschland, die Ende des zweiten Weltkriegs selbst mit ihrer Familie auf der Flucht war, ein Mitarbeiter der spanischen Seenotrettung, ein ukrainischer Frachtschiffingenieur und einige mehr. Dabei steht oft nicht der Blick dieser Figuren auf das aktuelle Geschehen im Vordergrund, sondern deren häufig von Gewalterfahrungen geprägten Lebens- und Familiengeschichten, an die sie sich erinnern. So entsteht neben der ausschnitthaft präsentierten Haupthandlung ein Mosaik von Geschichten, und während die eigentliche Handlung sich innerhalb von etwa vierundzwanzig Stunden abspielt, greift das erinnerte Geschehen bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert zurück.

Merle Kröger verknüpft in ihrem vierten Roman gekonnt Perspektiven, Geschichten und Handlungsstränge, die Figurendarstellung wirkt authentisch und psychologisch stimmig. Ein Kriminalroman, wie es auf Umschlag und Titelseite heißt, ist das Buch nur bedingt. Mehrere Figuren handeln zwar moralisch fragwürdig, ja kriminell, und teilweise folgt man dem Geschehen mit Spannung. Allerdings kreist das Buch nicht um ein oder mehrere klar umrissene Verbrechen und Ermittlungen spielen keine Rolle. Eher geht es darum, wie politische Gewalt, kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur und der Egoismus Einzelner in menschliche Schicksale eingreifen – und das überall auf der Welt. Ein wenig überladen wirkt das Buch in dieser Hinsicht schon: Neben der Flüchtlingsproblematik und den Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen, die selbst auf einem Luxuskreuzer zu finden sind, werden zahlreiche Krisen, Katastrophen und Gewaltexzesse aus der Weltgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts angesprochen – der Tod eines Kindes durch ein britisches Plastikgeschoss in Nordirland 1976, die Ermordung von elf Lehrerinnen in Algerien 1997 durch religiöse Fundamentalisten, ein Pogrom an Muslimen in Indien 2002, der spanische und der syrische Bürgerkrieg, der ukrainisch-russische Konflikt seit 2014, der Untergang der Wilhelm Gustloff gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, der Tsunami in Asien 2004 und einige mehr. Dennoch ist „Havarie“ ein lesenswerter Roman, nicht nur für Krimifreunde. Wer allerdings eine Kreuzfahrt plant, dem könnte beim Lesen die Lust darauf vergehen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Merle Kröger: Havarie.
Argument Verlag, Hamburg 2016.
227 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783867542241

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