Keine deutsche Camille Claudel

Clara Rilke-Westhoff war eine von wenigen Bildhauerinnen um 1900. Aber nicht nur deshalb ist ihre Biografie von Marina Bohlmann-Modersohn eine angenehme Seltenheit

Von Anett KollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anett Kollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Harter Marmor, Kalk- oder Sandstein, fester Lehm, flüssige Bronze – Bildhauerei ist keine leichte Sache und, ginge es nach der Auffassung des konservativen Kunstbetriebs, vor allem keine Frauensache. Sie erfordert körperliche Kraft, Ausdauer und Umgang mit Werkzeugen, die schwerer in der Hand liegen als Pinsel und Stift. Dennoch war sich die 1898 gerade 20-jährige Clara Westhoff sicher, dass sie Bildhauerin werden will. Sie wollte keine kleinen Stücke fertigen, wie sie in den Damenakademien modelliert wurden, sondern lebensgroße Figuren aus Lehm und Stein. Ihre erste plastische Arbeit war die Büste einer Moorbäuerin – Gesicht und Körper mit den Spuren des harten Lebens, dennoch voller Würde. Ihr Modell hatte die angehende Bildhauerin im Umfeld der Worpsweder Künstlerkolonie gefunden, wo sie sich niedergelassen hatte, um Zeichenunterricht bei Fritz Mackensen zu nehmen. Der Maler erkannte ihr bildhauerisches Talent, förderte sie, wo er konnte, und vermittelte sie zu Max Klinger nach Leipzig. Von dort aus gelangte sie, mit einer Empfehlung des Meisters in der Tasche, innerhalb eines Jahres in den Olymp der zeitgenössischen Bildhauerkunst, in das Pariser Atelier Auguste Rodins. Seine künstlerischen Auffassungen von moderner Skulptur und auch seine intensive Arbeitsweise – „toujours travailler“ – werden zu prägenden Maximen. Immer wieder reiste sie in die französische Kunstmetropole, um in dem von Rodin unterhaltenen Bildhauerseminar Impulse und Bestätigung zu erhalten. Aus Rodins Schule war zuvor mit Camille Claudel eine der begabtesten Bildhauerinnen ihrer Zeit hervorgegangen. Es ist fraglich, ob die deutsche Künstlerin während ihrer Parisaufenthalte von der tragischen Existenz ihrer französischen Berufsgenossin erfahren hat. Kunst und Leidenschaft hatten für Claudel in der Person Rodins eine verhängnisvolle Konzentration erfahren, die ihre Begabung und ihre Seele einer zerstörerischen Paranoia unterwarf.

Solch leidenschaftliche Genialität einschließlich ihrer Kehrseiten war seit Beginn des 19. Jahrhunderts zum Symptom künstlerischer Existenzen geworden. Das Klischee von der fiebrigen Gratwanderung der Künstlerseelen geistert seitdem durch die Lebensbeschreibungen. Clara Westhoff hat das Glück, mit Marina Bohlmann-Modersohn einer Biografin anheimgefallen zu sein, die sich nicht von diesem Klischee verführen lässt. Ruhig, sorgfältig und unspektakulär zeichnet sie den Weg der Bildhauerin nach, lässt Lücken offen, wo Lücken sind, und Fragen stehen, die nicht zu beantworten sind. Selten fallen Urteile, Spekulationen finden sich gar nicht. Die „rätselhafte Abstammung ihrer Bildhauerei“, die selbst dem Ehemann einiges Kopfzerbrechen bereitete, bleibt so ungeklärt. Rainer Maria Rilke, mit dem Clara Westhoff seit 1901 verheiratet war, ging so weit, die künstlerischen Impulse seiner Frau infrage zu stellen:

dies war, da ich es entdeckte, ganz im Anfang schon, so unmittelbar komisch für mich, dass jemand künstlerische Arbeit tat, ohne durch die eigene innere Expansion dazu gekommen zu sein […] die schließlich ausgezeichnet geworden war und dann eben fleißig und streng und ehrlich betrieben wurde […] nach der aber nie etwas in ihr schrie, schrie, um sich kopfüber, kost’ es was es wolle, hineinzustürzen […] ich sah das Verhängnisvolle in diesen Leistungen, in die immer nur Kraft kam, reine sozusagen farblose Kraft, nie eine Herzwelle, nie etwas, was darin zur Fassung kam, – immer nur die Fassung selbst.

Nur Fassung, also nur Form, nur Handwerk? Rilke, in eigener Sache sensibel an Körper und Geist, scheint am Naturell seiner Frau zu scheitern. Vielleicht wollte und konnte er sich ihr nicht nähern, galt ihm doch als „höchste Aufgabe einer Verbindung zweier Menschen […] dass einer dem anderen seine Einsamkeit bewache“.

Mit den gängigen Künstlerphrasen ist Clara Rilke-Westhoff jedenfalls nicht zu fassen, sie bildet geradezu den Gegensatz. Von stattlicher Figur – sie wöge 160 Pfund gibt Mackensen an, damit Klinger sie als Frau in seinem Atelier zulässt – mit ernstem Blick in den herben Gesichtszügen, kräftigen Händen und einen halben Kopf größer als ihr schmächtiger Ehemann spottet sie schon in ihrem Äußeren dem gängigen Geschlechter- und Künstlerideal. „Sie hat etwas Grosses und Einfaches, Willensstarkes, fast Männliches“, schrieb Harry Graf Kessler nach einer Begegnung mit den Rilkes, „er erscheint wie der femininere von Beiden“. Keine ätherisch-exaltierte Kunstnymphe, keine nervöse, dramatisch zweifelnde Rebellin entsteht als Bild bei Lektüre der Biografie, sondern eine sensible und ihrer Kunst vertrauende, warmherzige und durchaus kompromissbereite, gleichmütige Frau. Auch heiter stürmend sei sie gewesen, zumindest vor ihrer Ehe mit Rilke, erinnern sich die Worpsweder Freunde. Ist es nur Eifersucht, wenn die einstige „Schwesterseele“ Paula Modersohn-Becker an der Freundin nach der Heirat das alte Selbst vermisst und Freudlosigkeit beobachtet? Existentielle Unsicherheit, die Abhängigkeit von der Familie und privaten Gönnern, bald auch die Sorge um die gemeinsame Tochter, die bei den Großeltern aufwächst, verhindern, dass die Ehe der Rilkes in Bürgerlichkeit mündet. Das Paar geht bald getrennter Wege, nimmt aber Anteil am Leben des anderen und der Tochter. Clara Rilke-Westhoff wird nach dem Tod ihres Mannes zu seiner Nachlassverwalterin und feiert 1936 nach einer längeren Schaffenspause noch einmal einen größeren Erfolg als Bildhauerin mit einer postumen Büste ihres Mannes. Kurz zuvor noch unter dem Vorwurf der Bedeutungslosigkeit und Entartung, finden zwei Abgüsse des Kunstwerks nach der Großen Deutschen Kunstausstellung den Weg in die Berliner Nationalgalerie und, erworben von der Reichskanzlei, in den Führerbau des Rilke-Verehrers Adolf Hitler.

„Wer ist sie, in was drückt sie sich aus, an welchen Freuden, Wünschen, Hoffnungen erkennt sie sich?“, fragte Rilke, um seine Ehefrau zu begreifen. Clara Rilke-Westhoff hat sich ihrerzeit zur Selbstergründung einer Psychoanalyse unterzogen, die Ergebnisse werden ihr Geheimnis bleiben. Gut so, denn den Lesern wird so eine biografische Seelenschau erspart, die oft genug im Krisenmodus zu den immer gleichen Phrasen führt. Stattdessen gelingt Marina Bohlmann-Modersohn jenseits von allem Emanzipationskitsch ein stilles Porträt, das sensibel und diskret von einer Künstlerin erzählt, ihr wahrhaftig Individualität zugesteht und an diesem Beispiel zudem anschaulich macht, was weiblicher Bildhauerei zum Anfang des 20. Jahrhunderts möglich war und was nicht.

Titelbild

Marina Bohlmann-Modersohn: Clara Rilke-Westhoff. Eine Biografie.
Goldmann Verlag, München 2015.
380 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783442754328

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