Eine Hommage an das Leben (mit dem Tod)

Uhlmann entwickelt in seinem Roman „Sophia, der Tod und Ich“ einen Roadtrip des Sterbens

Von Max KeilhauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Max Keilhau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In New Orleans gibt es die berühmten Jazz Funerals, Prozessionen mit kathartischer Wirkung. Die zu Beginn dunklen Hymnen wandeln sich im Laufe des Trauermarsches, sie werden fröhlicher und offener. Es ist das öffentliche Durchleben von Trauer, das Nachempfinden der Erinnerungen an einen Verstorbenen in einer großen Gemeinschaft. In Wien findet für die großen SchauspielerInnen des Burgtheaters eine Prozession um das Haus statt, als eine öffentliche Ehrung der Leistungen. In Italien lässt die Mafia mit großem Pathos an der Kirche rote Rosen regnen und spielt die Musik des Kultfilms Der Pate. Der Verstorbene thront dabei in einer von sechs schwarzen Pferden gezogenen Kutsche. Der Tod ist hier unter den Lebenden präsent, allgegenwärtig und ein Teil ihres Lebens. Er macht sich bemerkbar und wird sichtbar. Er spricht mit und zu den Hinterbliebenen.

In Deutschland ist der Tod still, schwarz, sprachlos. In der Verdrängung auf die nicht sichtbaren Wege des Friedhofgeländes scheint sich das innere Verschließen gegenüber dem Tod zu spiegeln. Der Tod spricht nicht, er ist vielmehr das Nicht-Besprechbare, das Verschwiegene und das durch gesellschaftliche Diktion zur Unsichtbarkeit Verdammte, das doch immer wieder in unser aller Leben mit böser Macht hineinbricht.

Anders im Roman Sophia, der Tod und Ich von Thees Uhlmann (Sänger, Songwriter und Gründungsmitglied der in Hamburg ansässigen Band Tomte), in dem der Tod seinen persönlichen Auftritt erhält – als Spiegelbild des Protagonisten. Der Ich-Erzähler des Romans ist Altenpfleger und hat sich einer sein ganzes Leben umfassenden Lethargie hingegeben, die allenfalls durch den Besuch von Fußballspielen oder durch das Schreiben von Postkarten an seinen Sohn Johnny, den er nicht besuchen darf, durchbrochen wird. Eines Tages kündigt sich der Tod durch das Klingeln an der Wohnungstür des Ich-Erzählers an. Damit beginnt eine Art Roadtrip, ein Streifzug, der die wichtigsten Lebensstationen des Protagonisten Revue passieren lässt. Der Roman entwickelt sich zu einer Reise des Sterbens, bei der die Exfreundin Sophia und die Mutter des Protagonisten neben dem Tod selbst zu den wichtigsten Begleitern werden, um dem Ich-Erzähler ein letztes Treffen und eine Aussprache mit seinem Sohn Johnny zu ermöglichen. Eingebettet ist diese Reise in einen Kampf des Todes gegen einen Stellenkonkurrenten, der als Antagonist Johnnys Tod herbeiführen will.

Die Welt, die der Leser kennenlernt, ist die des Protagonisten mit seinen nach außen projizierten inneren Regelhaftigkeiten, die sukzessive manifest werden. So verwundert es nicht, dass der Tod dem Ich-Erzähler ähnlich sieht und ein Spiegelbild der inneren Gedankenwelt des Protagonisten darstellt: „Vor mir stand ein Mann, der ähnlich groß war wie ich, ähnlich so alt zu sein schien wie ich und eine gewisse Ähnlichkeit mit mir hatte.“ Offenbar wird so das Motiv des Sich-Wiederfindens im Tod gerahmt durch eine zwischen Ablehnung und Annahme wechselnde Haltung. In dieser Welt des Protagonisten, die mit ihren Inkonsistenzen und ihrer sprachlichen Begrenztheit deutliche Züge einer inneren Traumlogik aufweist, verändern sich die Zeit und ihre Wahrnehmung. So erklärt der Tod dem Ich-Erzähler: „Sie haben jetzt noch drei Minuten Zeit, um über alles nachzudenken.“ Diese drei Minuten werden im Roman zu drei erlebten Tagen gedehnt.

Auch die zuweilen phantastischen Textpassagen fügen sich in diesen Kosmos der Welt des Ich-Erzählers ein. Neben der Zeit ist auch der Raum seiner physikalischen Bedingtheit enthoben: „[A]ls ich den Tod sah und der Tod mich erblickte und er das sehen konnte, was ich sah, veränderten sich der Raum und die Zeit und die Realität […]. Die Wände standen plötzlich in Flammen, von denen keine Hitze ausging.“ Diese Passagen sind als eine Art Kammerflimmern des Bewusstseins als Zeichen des Sterbeprozesses deutbar. Es sind Phasen der Entrückung, die nur in einer Traumwelt oder in einer individuellen Zwischenwelt des Sterbens existieren können. Sie illustrieren die innere Auseinandersetzung mit dem Verlauf des eigenen Sterbens und dessen allmähliches Fortschreiten. So können die ständig wiederholten Banalitäten im Umgang mit dem Tod als Ausdruck einer inneren Hilflosigkeit in Auseinandersetzung mit diesem gelesen werden, die paradigmatisch für den Umgang einer Gesellschaft mit dem Tod steht: „Das setzt mich jetzt aber ganz schön unter Druck, wenn ich das erste Gericht koche, das der Tod essen wird.“, klagt etwa der Ich-Erzähler.[U1]  Dass wir nur seine letzten drei Minuten erleben, wird auch noch zum Ende des Romans deutlich: „,Zeit hast du jetzt auf jeden Fall genugʻ, sagte er. ,Auf jeden Fall länger als drei Minuten.ʻ“

In Sophia, der Tod und Ich illustriert Thees Uhlmann durch die sprachlichen Inkonsistenzen und durch die kursorische Wiederholung des Banalen in der Auseinandersetzung mit dem Tod, dass den Figuren des Romans eine angemessene Sprache im Umgang mit dem Existenziellen fehlt. So verärgert und verstört es beim Lesen, dass nicht die großen philosophischen Fragen angesprochen werden. Diese (sprachlichen und gedanklichen) Leerstellen stehen dabei aber paradigmatisch für unsere eigene Verschlossen- und Verschwiegenheit gegenüber dem Tod. Der Ich-Erzähler produziert sprachliche Masken, deren Unzulänglichkeit und Brüchigkeit die LeserInnen verstimmt und provoziert. Dabei sind es unsere eigenen Formeln im Umgang mit dem Tod, die offengelegt werden.

Spannend ist, dass das Sterben im Roman nicht als ein Flashback präsentiert wird, sondern als sich vorwärts, also in die Zukunft erstreckende drei Minuten, die im Erleben des Ich-Erzählers eine Zeitdehnung erfährt. Dabei ist es die innere Uhr, die tickt und den Takt vorgibt: „Und ich antwortete mit Blick auf die innere Uhr und meine verbleibende Zeit.“ Der Ich-Erzähler und der Tod gleichen sich an, werden zum Wir – „Wir haben nur noch ein paar Minuten“ – und  werden letztlich wieder Eins. Dieses Zusammenkommen des Protagonisten mit dem Tod ist ein Versuch der Versöhnung, die sich in einer Welt der Gedanken realisiert. Es ist die Aufnahme des Todes in das Selbst, das Akzeptieren der eigenen Endlichkeit.

Thees Uhlmann gelingt es mit seinem Roman Sophia, der Tod und Ich, uns den Tod näher zu bringen, ihn als einen Teil unseres Selbst wahrnehmbar und sichtbar werden zu lassen.Es wird der Widerspruch zwischen dem Bewusstmachen und dem Bewusstwerden des Todes verhandelt, es ist ein Reden über den Tod mit dem Tod und mit uns selbst. Der in der deutschen Gesellschaft negierte und ins Unsichtbare verdrängte Tod wird aus dieser Stellung herausgelöst; insofern stellen der Roman und seine Lektüre ein Plädoyer dar für die Integration des Todes in das Leben.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Thees Uhlmann: Sophia, der Tod und ich. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015.
318 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783462047936

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch