Ganz ohne „Germanistenscheiß“

Die Wolfgang-Herrndorf-Gesamtausgabe trägt zur Kanonisierung des Schriftstellers bei, lässt aber einige Fragen offen

Von Peter LangemeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Langemeyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein halbes Dutzend Bücher publiziert in zwölf Jahren, dazu noch drei Essays und zwei Interviews – das ist der literarische Ertrag, den die vorliegende Wolfgang-Herrndorf-Gesamtausgabe anlässlich des 50. Geburtstags des im August 2013 freiwillig aus dem Leben geschiedenen Schriftstellers und Malers der Öffentlichkeit präsentiert; in drei dicken, in graugrünes Leinen gebundenen Bänden auf fast 2000 Seiten. Die Reihenfolge richtet sich nach der Chronologie des Erscheinens. Der erste Band enthält das literarische Debüt, mit dem der Autor einen Achtungserfolg erzielte: den Adoleszenzroman In Plüschgewittern (2002) und den Erzähltextzyklus Diesseits des Van-Allen-Gürtels (2007), für dessen Titelgeschichte er in Klagenfurt bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Der „Anhang“ bietet die verstreut erschienenen Essays und Interviews, die interessante Auskünfte zur Biografie des Schrifstellers geben. Im zweiten Band findet man die Erfolgstitel, mit denen Herrndorf populär wurde: den All-Age-Bestseller Tschick (2010) und – als seine nihilistische Antithese – den beklemmend-rätselhaften Agententhriller Sand (2011). Der dritte Band versammelt die postum veröffentlichten Werke, die seinen Ruf als einen der wichtigsten zeitgenössischen Autoren der deutschsprachigen Literatur festigten: die Druckausgabe des Online-Tagebuchs Arbeit und Struktur (2013) und die „‚Tschick‘-Fortsetzung aus Isas Perspektive“, das „Roadmovie zu Fuß“ wie Herrndorf den Roman Bilder deiner großen Liebe (2014) bezeichnete, den er selbst nicht mehr vollenden konnte. Ein tabellarischer Lebenslauf schließt den Band ab.

Überraschungen bietet die Ausgabe also nicht, und abgesehen von den kleineren Texten, die zum Teil schwer greifbar sind, sind alle Werke nach wie vor in Einzelausgaben im Buchhandel erhältlich. Auf dem Schuber wird an den Kunstmaler erinnert, der er auch war: mit der Abbildung eines Selbstporträts in Öl, datiert aus dem Jahr 1988, das den Betrachter dazu zwingt, zu dem jungen Mann aufzusehen – eine Anmutung, die nicht ohne Ironie ist, hatte Herrndorf doch den Beruf des Kunstmalers hingeschmissen, um sich der Schriftstellerei zu widmen.

Die vorliegende Publikation hätte dem Autor vermutlich gefallen, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil der Verlag sich für ihre Einrichtung an das hielt, was Herrndorf für die Bilder deiner großen Liebe testamentarisch verfügt hatte: „Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten. Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben.“ Der Autor scheute den öffentlichen Blick in die Werkstatt des Schreibens, und er hatte nicht nur Vorbehalte gegenüber dem Sensationsjournalismus, sondern auch gegenüber ‚ungebildeten Literaturwissenschaftlern‘, die, wie er in seinem Blog spottete, seine „Großtaten bei der mehrfachen Umrundung des Plötzensee […] nicht gelten lassen wollen“. Was für ihn zählte, war das Werk, in dem der Schaffensprozess zum Abschluss gekommen war.

Die Gesamtausgabe stützt diese Auffassung. Viele Spuren hat Herrndorf selbst getilgt, vernichtete er doch, wie er in Arbeit und Struktur mitteilt, Briefe, Tagebücher und unveröffentlichte Texte. Abgesehen von den knappen editorischen Nachbemerkungen zu den beiden postum veröffentlichten Werken, die schon die Erstdrucke begleiteten, verzichtet der Verlag denn auch auf jeden „Germanistenscheiß“, wie es der Autor drastisch formulierte: auf das gesamte philologische Beiwerk bestehend aus textkritischen Bemerkungen, Vorarbeiten, Varianten und erläuternden Kommentaren. Das Ergebnis ist eine Leseausgabe für das breite Publikum, keine (historisch-)kritische Textedition für Spezialisten, aber auch keine kommentierte Studienausgabe.

Einige Fragen bleiben allerdings offen, zum Beispiel nach den Druckvorlagen und den Veränderungen, die an den Erstveröffentlichungen vorgenommen wurden. Denn mit dem Erscheinen der Buchausgabe war für Herrndorf der Schreibprozess keineswegs abgeschlossen. Der Autor verwendete die Druckfassungen zur sachlichen und stilistischen Korrektur. So nahm er am Erstdruck von Tschick mehrere Veränderungen vor, über die er teilweise in Arbeit und Struktur berichtet. Die verschiedenen Auflagen des Buches sind daher nicht textidentisch, und es ist irreführend, wenn der Verlag als Druckvorlage die Erstausgabe angibt. Für seinen Erstling In Plüschgewittern schuf der Autor eine „überarbeitete Fassung“ (2008), die der Gesamtausgabe zugrundeliegt, wie das Impressum des ersten Bandes mitteilt. Doch welche Eingriffe Herrndorf an diesem Roman vornahm, erfährt man nicht. Und wo die Herausgeber auf Wunsch des Autors Ergänzungen in Arbeit und Struktur vorgenommen haben, bleibt ebenfalls offen. Weiterhin wäre es nützlich gewesen, wenn das Tagebuch mit Registern versehen worden wäre. Rasch hätte der Leser den Vernetzungen zwischen Biografie und literarischem Werk nachspüren und dabei zum Beispiel entdecken können, dass die Bretfeld-Episode in Tschick einen autobiografischen Hintergrund hat – wie manche andere Szene in seinem Werk auch. Es sei allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass die Online-Version des Tagebuches im Netz verfügbar ist und eine Volltextrecherche erlaubt. Leider aber funktionieren die im Blog gesetzten Links, die in der Druckausgabe im Anmerkungsteil zitiert werden, nur noch teilweise.

Neues enthalten die für die Gesamtausgabe eigens verfassten Nachworte, die Herrndorfs Werk in seiner ‚Autonomie‘, unabhängig von seiner Krankengeschichte, zu profilieren versuchen. Man erfährt Einzelheiten über die Entstehungs-, Publikations- und Rezeptionsgeschichte der einzelnen Werke, wobei aus privaten E-Mails und Briefen zitiert wird.

Kathrin Passig, Herrndorfs kritische und, wie das Online-Tagebuch dokumentiert, scharfzüngige Erstleserin, fasst in ihrer Erinnerung an die Zusammenarbeit mit dem Autor ihre Einwände gegen die frühen Buchveröffentlichungen zusammen. Sie bedauerte, dass Herrndorf sich von der Malerei abgewandt hatte. Seine Bilder fand sie „sehr gut“, die Texte dagegen „nur durchschnittlich“ – von „Wikipedia-Literatur“ wird sie später abfällig sprechen, wie Herrndorf in Arbeit und Struktur zitiert. In Plüschgewittern war ihr „zu handlungsarm“ und selbst die Verlage, denen der Roman zur Begutachtung vorlag, bemängelten, „der Schluss sei nicht dramatisch genug oder: es habe kein richtiges Ende.“ Auch gegen den Erzählband Diesseits des Van-Allen-Gürtels, bei dessen Überarbeitung sie half, hatte sie Bedenken, besonders gegen die Erzählung „Herrlich, diese Übersicht“.

Marcus Gärtner, Herrndorfs Lektor im Rowohlt Verlag, steuert den Hinweis bei, dass Tschicks Namenspatron ein russischer Forschungsreisender aus dem 19. Jahrhundert, Pjotr Alexandrowitsch Tschichatschow, war und ergänzt einige Daten zur Veröffentlichungsgeschichte, darunter dass das Buch am 17. September an den Buchhandel ausgeliefert wurde und „die Korrekturen für die zweite Auflage auf die dritte, sofort nachfolgende verschoben werden mussten.“

Erneut wird der ursprünglich im Merkur veröffentlichte Essay von Michael Maar abgedruckt, der scharfsinnig die Identität der Hauptfigur in Sand enthüllt. Tobias Rüther, dem der Verlag das die Werkausgabe abschließende Nachwort übertragen hat, beleuchtet wiederkehrende Themen, Motive und Gestaltungsmittel. Er weist darauf hin, dass in den Erzähltexten immer wieder Figuren dargestellt werden, hinter denen sich reale Personen verbergen und rekonstruiert den „Phänotyp“ in Herrndorfs Büchern: einen jungen „männliche[n] Außenseiter“, mit einem Sensorium für „hohles Gerede“ und „Wortmüll“ und dem „weicheste[n] Herz der Welt für die Herrlichkeit des Himmels und der Erde“, der „keinen geregelten Beruf“, keine Frau und keine Kinder hat (obwohl er diese liebt), dessen „ganze soziale Existenz“ „etwas von Untermieter“ hat und der immer „unterwegs“ ist.

Die Gesamtausgabe dürfte die Kanonisierung Wolfgang Herrndorfs vorantreiben, und die Nachworte unterstützen sie dabei. Der Autor habe ein „Werk“ verfasst, begeistert sich Rüther, „auf das man in der deutschen Literatur ungefähr fünfmal so lang gewartet hatte“ wie zu seiner Publikation von 2002 bis 2014 erforderlich gewesen sei – keine 100 Jahre zwar (und deshalb, ist man versucht zu ergänzen, ist es auch kein Jahrhundertwerk), aber immerhin rund die Hälfte. Doch so einheitlich, wie diese Äußerung suggeriert, fällt das Werturteil über Herrndorfs Bücher in den Nachworten keineswegs aus, wie oben bereits angedeutet. Das frühe Werk bis zur tödlichen Erkrankung des Autors wird eher verhalten bewertet. Das postume spätere Werk wartet noch auf eine eingehende Beurteilung. Einhellig und geradezu überschwänglich werden dagegen die ‚mittleren‘ Werke gelobt. Rüther feiert Tschick als „das größte deutsche Jugendbuch seit Erich Kästner“, es sei „längst eingereiht in die Ränge der zeitlosen Bücher, die Menschen jedes Alters lieben und noch lange lieben werden“, schreibt Gärtner die aktuelle Rezeptionslage fest. Mit Sand habe der Autor „den größten, grausigsten, komischsten und klügsten Roman der letzten Dekade geschrieben. […] sein Werk wird bleiben“, versichert uns Maar. ‚Zeitlos‘, ‚für alle‘, ‚bleibend‘ – das sind Epitheta, mit denen gemeinhin der Begriff des Klassischen umschrieben wird. Die Gesamtausgabe lädt dazu ein, dieses Urteil zu überprüfen. Dem Germanisten aber und der literaturwissenschaftlichen Forschung dürfte sie kaum neue Impulse geben.

Titelbild

Wolfgang Herrndorf: Gesamtausgabe. 3 Bände.
Rowohlt Verlag, Berlin 2015.
1827 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783871348099

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