Erlebnisse eines Funktionshäftlings

Reiner Engelmann erzählt die Geschichte des polnischen Fotografen Wilhelm Brasse in Auschwitz – und erhält den Literaturpreis 2016 des Freien Deutschen Autorenverbands

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie es ‚gewöhnlichen’ Häftlingen im Repressionssystem der NS-Diktatur erging, erfuhr Wilhelm Brasse im Grunde genommen erst in der ‚Ostmark’, genauer: in Oberösterreich, der letzten Etappe einer mehrjährigen Gefangenschaft, nachdem er am 21. Januar 1945 bei der Räumung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz gemeinsam mit Hunderten von Leidensgenossen zunächst zu Fuß, später dann im offenen Eisenbahnwaggon nach Mauthausen transportiert worden war. Hier regierten Hunger, Knüppel und Ungewissheit. Die Arbeiten in den Kommandos waren schwer, die gewährten Essensrationen karg. Mitte April ging es weiter nach Ebensee, einem der zahlreichen Außenlager, das amerikanische Truppen am 6. Mai, kurz vor Zusammenbruch und Kapitulation, befreiten. In Auschwitz, resümiert sein Biograph Reiner Engelmann, habe Brasse „Wege und Möglichkeiten gefunden, die sein Überleben sicherten“, in Mauthausen „fühlte er sich allem ausgeliefert“: der „Kälte, der knappen Verpflegung“, der „Brutalität der SS-Mannschaften“.

Brasse war ein junger Mann, gerade einmal 23 Jahre alt, als er 31. August 1940, noch in der ersten Phase des deutschen Okkupationsregimes, in Auschwitz eingeliefert wurde. Als Sohn eines gebürtigen Elsässers und einer Polin hatte er Kindheit und Jugend in Żywiec verbracht, einer Kreisstadt in Oberschlesien, wenige Dutzend Kilometer von Auschwitz entfernt. Er sprach polnisch ebenso wie deutsch, hatte das Gymnasium aus finanziellen Gründen abrechen müssen und den Beruf des Fotographen erlernt. In Kattowitz vervollständigte er seine Kenntnisse im Atelier eines Onkels, machte sich vertraut mit Dunkelkammer und Labor, spezialisierte sich auf Porträtfotografie, lernte zu retuschieren, Abzüge und Vergrößerungen herzustellen. Da er sich als Pole fühlte, lehnte er es ab, sich in die „deutsche Volksliste“ einzutragen, wodurch polnische in deutsche Staatsangehörige mit je nach Kategorie abgestuften Rechten verwandelt werden sollten. Stattdessen beschloss er, sich zusammen mit Freunden über Ungarn nach Frankreich durchzuschlagen, um sich dort den im Aufbau begriffenen Streitkräften der polnischen Exilregierung anzuschließen. Kurz vor der Grenze wurden sie jedoch gefasst, ins Gefängnis geworfen und von da nach Auschwitz verbracht. Brasse erhielt die Nummer 3444, gehörte also zur ersten Generation der Häftlinge, welche die kontinuierlich vorangetriebene Expansion des ursprünglichen Kasernenkomplexes zum Konzentrations- und Vernichtungslager hautnah miterlebten.

Zunächst beim Straßenbau, dann als Leichenträger und – durch Vermittlung eines gutwilligen Kapo – als Kartoffelschäler in der Lagerküche beschäftigt, wurde er Mitte Februar 1941 in die Politische Abteilung bestellt. Dort suchte man einen kundigen Fotografen für den Erkennungsdienst, bestellte fünf Männer ein, prüfte deren Verwendbarkeit und wählte Brasse aus. Das war, wie sich rasch zeigen sollte, ein ausgesprochener Glücksfall, denn als Funktionshäftling, der er nunmehr war, genoss er ein paar Vergünstigungen: Er wurde in einen Block verlegt, in dem es Betten, Toiletten und Waschräume gab. Ernährung und Hygiene verbesserten sich. Der Preis dafür war freilich, dass er von nun an – so oder so, wenn auch an eher peripherer Stelle – ein Rädchen war in der Vernichtungsmaschinerie der SS. Leider geht die Biographie Engelmanns weder der damit verbundenen Problematik, die doch erhebliche moralpolitische Dimensionen hat, noch der Frage nach, was diese für Brasse in den Jahrzehnten nach Kriegsende eventuell bewirkt und wie er sich damit vielleicht auseinandergesetzt hat. Erwähnt wird in diesem Zusammenhang, dass er das Fotografieren aufgeben musste, weil ihn dabei die Erinnerung an Auschwitz überwältigt habe. Diese Spur zu verfolgen, hätte die biographische Rekonstruktion, die Engelmann vornimmt, womöglich dichter, noch komplexer und nachdenklicher machen können.

Zu seinem Vorgesetzten, einem Oberscharführer, entwickelte Brasse eine halbwegs neutrale, bisweilen sogar freundlich respektvolle Arbeitsbeziehung. Seine Aufgabe war es, von den eingelieferten Häftlingen jeweils drei Bilder zu machen: im Profil und von vorn, jeweils ohne Kopfbedeckung, eines mit Mütze und seitwärts gedrehtem Kopf. Dass er sein Handwerk beherrschte, sprach sich bald auch unter den SS-Chargen herum, die sich ablichten ließen und nicht selten die vergrößerten Aufnahmen an Eltern, Ehefrauen und Freundinnen in Deutschland schickten. Nach getaner Arbeit plauderten man mit ihm, gab sich korrekt bis jovial, scheinbar unberührt von den grausigen Geschäften jenseits des Fotolabors. Selbst die höheren Dienstgrade kamen, darunter die SS-Ärzte Mengele, Wirths, Entress, Clauberg und Kremer. Deren Zufriedenheit äußerte sich nicht selten darin, dass sie den Mann an der Kamera mit Sonderaufträgen betrauten, ihn dazu kommandierten, teils individuelle Perversitäten, teils ebenso perverse Versuche an lebenden Menschen zu dokumentieren. Dass Brasse ein begabter Fotograf war, zeigte sich daran, dass er in der Lage war, sein Gegenüber, wenn es der SS angehörte, zu lockern, wenn es ein Häftling war, ihm wenigstens einen Moment lang die Furcht zu nehmen, ihm darüber hinaus, sofern nötig, mit Hilfe nachträglicher Retuschen wenigstens ein Minimum an visualisierter Würde zu verleihen.

Von Aktivitäten des Widerstands, die zu seiner Kenntnis gelangten, hielt sich Brasse fern. Er sei „dafür zu wenig militärisch eingestellt“ gewesen, heißt es in Engelmanns Buch. Zwei werden namentlich erwähnt, ein polnischer Armeeoffizier und ein österreichischer Spanienkämpfer: jenem gelang die Flucht, dieser, dem man merkwürdigerweise kurz zuvor noch gestattet hatte, im Lager standesamtlich zu heiraten, wurde verraten und hingerichtet. Derartige Begebenheiten und Erlebnisse seines Protagonisten fügt der Autor zu einem Ensemble zusammen, das Einblicke in den Lageralltag eröffnet, von Strategien des Überlebens erzählt, die Monstrosität von Kapos und Wächtern vor Augen führt, einzelne Häftlinge und verschiedene Angehörige der SS-Hierarchie mit knappen Strichen porträtiert. Dies wird in 33 Abschnitten entfaltet, zieht den Leser in den Bann, rückt ihm zu Leibe und verlässt ihn so rasch nicht. Gemessen daran bleiben allerdings die Funktionsweisen und Strukturen des Lagers, bleibt der in sich vielfältig gegliederte Kosmos der Häftlingsgesellschaft insgesamt ein wenig blass. Hier beschränkt sich der Autor auf verstreute Hinweise, die er aber nicht systematisiert oder vertieft.

Vermutlich ist das den Grenzen geschuldet, die dem Genre gezogen sind. Das Buch des erfahrenen Sozialpädagogen Engelmann ist nämlich ein Sachbuch, das sich an Jugendliche wendet. Da verbieten sich Ausflüge in schwieriges, unübersichtliches Gelände. Gefordert ist Reduzierung von Komplexität, nötig ist die eindringliche Schilderung individuellen Schicksals, um bei jungen Lesern Empathie zu wecken, im Idealfall die Bereitschaft, weitere Informationen einzuholen, mit Lehrern und der Generation der Großeltern, die wiederum ihre Eltern häufig vergeblich zu Auskünften und Diskussionen gedrängt hatte. Nur so wird sich das „Nie wieder“, das der Auschwitz-Überlebende und Zeitzeuge Max Mannheimer in seinem Vorwort beschwört, einlösen lassen. Gefördert werden dürfte dies durch die nüchterne, nie in pathetischen oder sentimentalen Schwulst abgleitende Sprache des Autors, ferner durch einen klugen, Lesegewohnheiten und Fassungsvermögen einer jungen Leserschaft berücksichtigenden Aufbau, der mit kurzen Kapiteln Schlaglichter setzt, dabei gestützt auf Interviews, die mit Brasse noch vor dessen Tod geführt werden konnten, gestützt aber auch auf darüber hinausgehende Recherchen an den Orten des Geschehens in Auschwitz. Ein nützlicher Anhang mit Kurzbiographien der wichtigsten Täter und ein Glossar, das einige, jugendlichen Lesern vermutlich nicht geläufige Begriffe aus dem Text erläutert, rundet das Ganze ab.

Der „Freie Deutsche Autorenverband“, der sich in der Tradition des 1909 gegründeten „Schutzverbandes deutscher Schriftsteller“ sieht und dessen Mitglieder sich in der Gewerkschaft „Verdi“ nicht aufgehoben fühlen, zeichnet, wie er in einer für die Presse bestimmten Mitteilung erklärt, „Schriftsteller und Publizisten aus, die sich in ihrem Werk herausragend für Toleranz, kulturelle Vielfalt und einen offenen Dialog zwischen den unterschiedlichen Strömungen unserer Zeit einsetzen.“ Nicht nur das hier angezeigte Buch, sondern auch das bisher erbrachte Gesamtwerk würdigend, verleiht er in diesem Jahr den mit 5.000 EURO dotierten „Literaturpreis für Toleranz, Respekt und Humanität“ an Reiner Engelmann. Überreicht wird er am 18. März auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 22.3.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Reiner Engelmann: Der Fotograf von Auschwitz. Das Leben des Wilhelm Brasse.
cbj Verlag, München 2015.
192 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783570159194

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