Der Balken im eigenen Auge

Thomas Kaufmann über das ambivalente Verhältnis Martin Luthers zu den Juden

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Luthers Meinung über die Juden war, gelinde gesagt, gespalten, er fühlte sich von ihnen provoziert und herausgefordert. Hatte Luther am Anfang der Reformation – etwa in der Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei (1523) – noch für eine „bedingungslose Duldung der Juden“ plädiert, erscheint der Reformator an seinem Lebensende als ausgesprochener Judenfeind. Die Widersprüchlichkeit in Luthers Haltung im Horizont seiner Zeit zu rekonstruieren, ist das Anliegen von Thomas Kaufmann. Die konträren judenpolitischen Überzeugungen Luthers auch plausibel zu erklären und zu verstehen, sei indessen schwierig, wenn nicht unmöglich, denn ein grundlegender theologischer Positionswechsel lasse sich bei dem Wittenberger Kirchenmann nicht eindeutig identifizieren. Es erweise sich als zwingend notwendig, im Fall Luthers genau zu unterscheiden, in welchem Kontext er welche Aussage tätigte, welche Rede hielt und welches Urteil fällte. Folglich wird man um ein „komplexes Bündel an Antworten“ nicht herumkommen. Damit ist ein Kernproblem des Buches benannt, das zugleich sein großer Vorzug ist: Die Berücksichtigung auch von scheinbaren Marginalien, wozu einzelne Wörter, Nebensätze, hypothetische oder kolportierte Erregungszustände des ‚eifernden‘ Anti-Papisten gehören, der anders als die römische Kirche eine lebensweltliche Koexistenz mit den Juden zunächst befürwortete, bevor er später vehement ihre Austreibung forderte, demonstriert das beharrliche Ausloten der historischen Möglichkeitsbedingungen von Martin Luther und seinem Umgang mit den Juden.

Ist schon das Thema brisant (als Diskurs aber zumindest in der Wissenschaft etabliert), zieht der Band die Aufmerksamkeit besonders über den Titel auf sich: Wie ist der Possessivgenitiv Luthers Juden gemeint? Kaufmann betont, das Binomen signalisiere, dass Luthers Einstellung gegenüber den Juden „nichts Objektives anhaftet“, dass es sich dabei also um keinen distinkten Sachverhalt handelt, wie ihn die Wendung ‚Luther und die Juden‘ zum Ausdruck bringt. ‚Luthers Juden‘ soll im Sinne eines Genitivus auctoris eine ideologische Konstruktion bzw. gedankliche Urheberschaft nahelegen, derzufolge sich Luther ‚seine Juden‘ selbst erschuf, gleichsam als Phantasma. Kaufmann weist ausdrücklich darauf hin, dass die Genitivwendung ein „Konglomerat diffuser Ängste, kalkulierter publizistischer Aktivitäten, spezifisch aktivierter biblischer Traditionsbestände, auch des Ressentiments, des kulturellen Herkommens, der Phantasie“ meine; sie solle „dafür sensibilisieren, dass es das Thema auch ‚gibt‘, weil Luther es vorgab und konstruierte und weil sich für ihn in den ‚Juden‘ Sachverhalte und Realitäten verdichteten, denen er nicht ausweichen zu können meinte und deshalb große Aufmerksamkeit entgegenbrachte.“

Der ein breites Publikum adressierende, im handlichen Format aufgemachte aber typographisch eng gesetzte Band umfasst sechs Kapitel. Im chronologischen Durchgang sezieren sie den „Theologen, religiösen Kommunikator, tiefschürfenden Bibelausleger und deutschen Professor […] den Reformationshelden und ‚Kirchenvater‘ des Protestantismus“ entsprechend seiner Einstellung(en) zu den Juden. Von den wenigen Vertretern des Volkes Israel, die Luther tatsächlich kannte oder mit denen er unmittelbar Kontakt hatte, kann sich sein am Lebensende profunder Judenhass nicht herleiten. Kaufmann führt vor, wie stark sich sein Bild von der zeitgenössischen Judenheit aus unterschiedlichen Quellen speiste, darunter das alltägliche Hörensagen, zugetragene Nachrichten, der Nachhall literarischer Überlieferungen und biblischer Traditionen, kursierende abfällige Stereotypen sowie seine tiefe Überzeugung, die jüdischen „schelck“ (= Teufel) und „nebulones“ (= Schufte) würden seinen verehrten Heiland Jesus Christus immerfort schmähen und ihm selbst nach dem Leben trachten. Das zweite Kapitel zeichnet nach, wie der Wittenberger Theologieprofessor auf dem ersten Höhepunkt seiner öffentlichen Bekanntheit im Umkreis des Wormser Reichstags (1521) aufgrund der Rezeption seiner bis dahin getätigten projüdischen Äußerungen (die keineswegs nur projüdisch waren) als „Judenfreund“ erschien. Diese Wahrnehmung wird über die anfangs erwähnte, im Zusammenhang des frühen reformationszeitlichen Judendiskurses stehende Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei noch verstärkt. Auch wenn der Traktat viele Anhaltspunkte liefert, ihn als wirkungsmächtigsten Teil der frühen christologischen Judenmission anzusehen, in deren Verlauf die Konfessionsrivalen bekehrt und für das evangelische Christentum gewonnen werden sollten, finden sich hier schon unheilschwangere Aussagen. So wird eine (Galgen)Frist insinuiert, wenn nicht explizit angedroht, wonach die Juden das Konversionsangebot nicht zu lange abwägen dürften, sondern ihre Übertritte bald und glaubwürdig vollziehen müssten. Da Bekehrungen bis auf Einzelfälle ausblieben, lässt sich ein rabiater Stimmungsumschwung unter den die jüdische Bekehrung befürwortenden Lutheranern gut vorstellen, deren triumphalistische Logik bitter enttäuscht wurde. Knirschend glaubten sie, eine self-fulfilling prophecy zu bezeugen, wonach die immer schon gewusste ‚Verstocktheit‘ der Juden alle in den Glaubensübertritt investierten Erwartungen schlicht vereiteln müsste. Da die Verstocktheit aufgrund der jüdischen Andersartigkeit nie und nimmer ausgemerzt werden könnte, seien die Juden nicht reformierbar, weshalb sie Luther ein „hoffnungsloses, blindes, böses volck“ zu nennen begann. Das 5. Kapitel ist besonders aufschlussreich, weil hier genau dargelegt wird, was den ab ca. 1530 zum „Endzeitpropheten Gottes“ gewandelten Doktor Martinus bewogen haben mag, seine „bösen Schriften“ gegen die Juden zu verfassen, allen voran Von den Juden und ihren Lügen (1543). Nicht nur wegen der genauen Lektüre dieses Primärtextes beeindruckt Kaufmanns Analyse, sondern auch wegen seiner Entscheidung, immer wieder die mentale Befindlichkeit Luthers einzurechnen bei dem Versuch, dessen Antijudaismus, der sich womöglich als vormoderner Antisemitismus definieren lässt, zu verstehen. Dass Aussagen mit ‚vielleicht‘ oder Fragen manchen Argumentationsgang abschließen, ist nur konsequent und einleuchtend. An keinem Punkt driftet das hypothetische Erwägen ab, wird Niedertracht womöglich in Psychologie aufgelöst und die innere Befindlichkeit Luthers, die fraglos großen Belastungen ausgesetzt war, als Entschuldigung für seine bösen Texte angesetzt. Das 6. Kapitel bietet abschließend einen Abriss der Rezeptionsgeschichte von Luthers Haltung gegenüber den Juden vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. Gerahmt werden die Kapitel von einer ausführlichen Einleitung (11 Seiten) und einer ebenso ausführlichen Schlusssektion (9 Seiten). Diese wortintensiven Passagen sind nicht Ergebnis einer Schreibwut, sondern meines Erachtens Ausdruck einer vom Thema eingeforderten Notwendigkeit, jede deutsche Auseinandersetzung mit der so genannten Judenfrage herzuleiten und auch und vor allem die eigene Wortwahl zu begründen. Es ergeben sich dadurch aber Redundanzen, etwa wenn in der Einleitung die demagogische Vereinnahmung von Luthers antijüdischen Verlautbarungen durch die Nazi-Propaganda angerissen wird, die in Kapitel VI. Thema ist. Das stilistische Raffinement, die argumentative Klarheit und die begriffliche Varianz Kaufmanns sorgen aber dafür, dass die Dopplungen nicht stören, sondern Luthers ‚bipolarer Judaismus‘ nuanciert erkennbar wird.

Luther, der Mönch, der geweihte Priester und Professor für Theologie, der Verkündiger des Evangeliums und fehlbare Reformator, das Sprachgenie und der Medienjongleur, der Mann, von dem Friedrich Engels sagte, er stünde „im Angelpunkt der deutschen Geschichte“ – dieser Martin Luther erscheint in dem vorliegenden Buch deutlich und für den Nicht-Fachmann wahrscheinlich so deutlich wie nie zuvor als „der Janusköpfige, dessen Geist zweier Zeiten ‚Schlachtgebiet‘ war, von keiner Gestalt des Reformationszeitalters übertroffen oder auch nur erreicht.“ Kaufmanns Recherche ist lege artis durchgeführt, seine Ergebnisse liefern kritische und belastbare Orientierung angesichts der überwiegenden Wertschätzung für Luther Wirken im Zusammenhang der Lutherdekade und des bevorstehenden Reformationsjubiläums. Sich auf das heikle Terrain so unvoreingenommen wie möglich begeben und Luthers widersprüchliche Einstellung zu den Juden nüchtern, umfassend und genau analysiert und bewertet zu haben, ist hoch anzuerkennen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Thomas Kaufmann: Luthers Juden.
Reclam Verlag, Ditzingen 2014.
203 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783150109984

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