Eine zauberhafte Reise

Wolfgang Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“ ist ein Fragment, aber was für eines

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass es dieses Buch überhaupt gibt, ist ein Glück. Denn die Entstehung hätte kaum unter einem schlechteren Stern stehen können: Wolfgang Herrndorf, an einem bösartigen, unheilbaren Gehirntumor erkrankt, versuchte bis in die letzten Wochen seines Lebens, die Arbeit am Roman doch noch abzuschließen.

Am 21.5.2013 notierte er in seinem Blog, der unter dem Titel „Arbeit und Struktur“ veröffentlicht wurde, die Mühen, die er damit hatte: „Dramatischer Sprachzerfall. Unklar, ob die Worte schon schwinden oder ob nur Stress. Denn immer wieder gelingen fast fehlerfreie Sätze. Hauptsächlicher Bestandteil, wenn ich das richtig sehe: der Gedanke, ,Isa’ nicht fertigstellen zu können“. Jeder einzelne Satz, den er zu Papier bringt, ist „mit größter Mühe zusammengeschraubt“. „Beim Schreiben“, so heißt es ein paar Wochen später, „fehlen mir die passenden Verben. Und wenn ich sie habe, fehlt mir Konjugation. […] weil ich gar nicht weiß, was ich eigentlich sagen will.“ Und dennoch setzt er die Arbeit an jenem „Isa“-Fragment fort, das später „Bilder deiner großen Liebe“ heißen wird. Doch er erkennt, dass er es nicht schaffen wird, den Roman zu beenden. Und Fragmentarisches, so verfügt er in seinem Testament, solle nicht aufbewahrt werden: „Niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten. Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben“.

Kurz vor seinem Tod jedoch entscheidet er sich um, eine Woche vorher beschließt er, das „Isa“-Fragment doch zu veröffentlichen, den Titel „Bilder deiner großen Liebe“ legte er selbst noch fest. Es ist also ein Fragment geblieben. Aber was für eines.

Die Hauptfigur Isa ist Herrndorf-Lesern aus seinem Roman „Tschick“ bekannt: Das Mädchen von der Müllkippe, das dort auftaucht, ist ein wenig verrückt, ein wenig altklug, ein wenig aus der Zeit gefallen. Aber sie ist auch eine der interessantesten Figuren in diesem Roman, ihre Kraft und ihr Charakter ziehen nicht nur Maik und Tschick in den Bann, sondern auch den Leser. Und Herrndorf scheint es ähnlich gegangen zu sein, denn Isa taucht auch in „Arbeit und Struktur“ immer wieder auf und hinterlässt ihre Spuren. Der Stoff beschäftigt Herrndorf immer wieder, die Arbeit am Isa-Roman wird ein ums andere Mal wieder aufgenommenen, das Geschriebene wieder verworfen und neu begonnen.

Isa hat auch in „Bilder deiner großen Liebe“ nichts von Ihrem Zauber verloren. Zu Fuß macht sie sich auf, nachdem sie aus dem psychiatrischen Krankenhaus abgehauen ist. Auf eine Reise quer durch Deutschland, nur mit ihrem Tagebuch und den Klamotten, die sie gerade trägt. Sie erlebt allerlei Kurioses auf ihrer Reise, trifft seltsame, liebenswürdige und verrückte Menschen. Dass so manche Begegnung nicht viel mit Logik oder der Realität zu tun hat, das verzeiht man Isa sofort. Auch dass man sich fragt, was sie eigentlich bezweckt mit Ihrer Reise: Vielleicht möchte sie wirklich zu der Adresse in Prag, die sie sich notiert hat, vielleicht hat sie tatsächlich eine Halbschwester, vielleicht ist das aber auch alles nur erträumt, erdacht, zusammenfantasiert. Herrndorf mag seine unzuverlässigen Erzähler, mit Isa ist ihm noch einmal ein großer Wurf gelungen. So charmant wie sie flunkert kein anderer, so stilsicher entwirft keiner seine eigene Welt.

Was sie genau erlebt, ist auch gar nicht so wichtig, viel schöner ist, wie sie es erlebt und beschreibt. Poetisch, verrückt, versponnen und charmant sind Isas Weltbetrachtungen. So manches Mal sind sie auch berückend klar, knapp und auf den Punkt gebracht. Man mäandert mit ihr durch Deutschland, das mal realistisch, mal beinahe wie im Märchen wirkt, schaut hier und da rein, trifft Binnenschiffer mit krimineller Vergangenheit, einen taubstummen Jungen, einen schmierigen LKW-Fahrer und einen Schäferhund namens Rudi.

Ein wenig bekümmert ist man nach dem Lesen dennoch. Nicht weil der Roman Schwächen hat, die fallen kaum ins Gewicht, nein, weil man das Gefühl hat, es müsse doch noch weitergehen, die vielen Fäden, die Herrndorf mit Isa ausgelegt hat, müssten doch zusammengefügt werden. Was wäre es für ein Roman gewesen, wäre er tatsächlich fertig geworden? Aber gerade des Fragmentarische macht auch einen großen Reiz aus. Vieles wird angerissen, vieles angedacht, aber immer nur so weit, dass es gerade darum interessant wird.

Die beiden Herausgeber, Marcus Gärtner und Kathrin Passig, haben aus dem 95-seitigen Manuskript und ein paar zusätzlichen Szenen behutsam einen linearen Text zusammengestellt, mit nur geringen Korrekturen und Ergänzungen. Sie haben es geschafft, die Poesie und die Kraft des Fragmentes zu bewahren. Und man trifft übrigens im Buch auch auf Maik und Tschick. Das aber nur der Vollständigkeit halber. Verzaubern lassen müssen Sie sich von Isa schon selbst.

Titelbild

Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman.
Rowohlt Verlag, Berlin 2014.
144 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347917

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