Beiträge zur Comédie humaine

Der zweite Band „Theater“ vervollständigt die Sammlung von George Taboris einzigartigen Stücken

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine „historisch-kritische Gesamtausgabe“, so schreiben die Herausgeber Maria Sommer und Jan Strümpel der zweibändigen Ausgabe von George Taboris Theaterstücken, wollen sie nicht vorlegen. Sie wollen die Texte – und nur die Texte – zur Verfügung stellen, „um sie kennenzulernen, um sie zu spielen, sie nach- und wieder zu lesen“. Der Steidl Verlag stieg großzügig ein und so liegen nun zwei im besten Sinne des Wortes klassisch gute Bände mit Taboris Theaterstücken vor. Man nimmt sie gerne in die Hand, streicht über den in konzentrierter Kargheit gestalteten Einband und legt sorgfältig das blaue Leseband über die Seiten. Ein würdiges Bucherlebnis.

Auch der zweite Band dieser Sammlung enthält die Stücke, die zu Taboris Lebzeiten aufgeführt wurden. Man hätte gar nichts anderes erwartet, erfährt aber, dass alles ausgelassen wurde, was die Herausgeber „Versuche“ nennen, „Vorstufen, Wiederholungen sowie Collagen von Klassikern“, eben das, was eine kritische Gesamtausgabe wohl zu berücksichtigen hätte. Nur Theaterstücke sind aufgenommen, also auch keine Hörspiele, Drehbücher und anderes für Film oder Fernsehen. Theater pur also.

Insgesamt versammelt die zweibändige Ausgabe 40 Theatertexte, 17 davon im vorliegenden Band. Unter diesen finden sich neben bekannten Stücken wie „Mein Kampf“, „Goldberg-Variationen“, „Weismann und Rotgesicht“ oder “Die Brecht-Akte“ auch eher unbekanntere Texte wie „Masada“, „Die Massenmörderin und ihre Freunde“, „Die Ballade vom Wiener Schnitzel“ oder „Die letzte Nacht im September“ – um nur diese beispielhaft zu nennen.

Zentrales Thema der Texte, die Tabori für die Bühne verfasste, ist die ungeheuerliche Erfahrung des Holocaust. Die Ermordung der europäischen Juden ist für Tabori nicht nur ein die eigene Lebensgeschichte prägendes Jahrhundertereignis – der Autor verlor in den Todesmühlen der Mörder nahezu seine ganze Familie –, sondern auch der Ausgangspunkt, von dem aus sich für ihn die tragisch-komische Fülle menschlichen Lebens, Überlebens, neu beschreiben lässt. Die wundersame Rettung der Mutter aus der Maschinerie des Vernichtens, die er in „Mutters Courage“ in so einzigartiger Weise beschrieben hatte, weist auf das hin, was in immer neuen Varianten sein Thema wird. Es sind die abgründigen, wunderlich sonderbaren, mal tragischen, mal komischen, aber immer zutiefst menschlichen Verhaltensweisen, die in seinen Stücken auf so überraschende Art und Weise Menschen zusammenführen – auch Täter und Opfer. Deshalb verstand sich Tabori, die Herausgeber weisen darauf hin, nicht als Vertreter einer „Holocaust-Literatur“. Vielmehr schuf er, indem er in den Stücken vermeintlich Gegensätzliches miteinander in Beziehung setzte, Grauen und Groteske, Brutalität und zärtliche Sanftheit, Realität und surreal anmutende Fantasterei, eine ganz eigene literarische Qualität.

Für sie fand er, seitdem er Ende der 1960er-Jahre an bundesdeutschen Theatern seine Stücke inszenierte, immer wieder auch ungewöhnliche theatralische Formate. Entstehen konnten sie in einer Theaterlandschaft, die ihm Experimentierfelder zur Verfügung stellte. Das Mitte der 1970er-Jahre in Bremen vom damaligen Intendanten Peter Stoltzenberg ermögliche „Theaterlaboratorium“ oder das Ende der 1980er-Jahre gegründete Wiener „Theater Der Kreis“ schufen Arbeits- und Erfahrungsräume, in denen sich insbesondere durch die intensive Zusammenarbeit mit den Schauspielerinnen und Schauspielern die Stücke Taboris neu entfalten konnte. Die Aufführungen interpretierten seine Texte mit seinem sehr eigenen, lebensweisen Witz und schufen – diejenigen, die sie sehen konnten, werden es bestätigen – einen theatralen Erlebnisraum, abseits jeglicher Theaterroutine. Dass der nicht jedem gefiel, mag der berühmte Ausdruck des Bremer Kultursenators zum Ende des Theaterlaboratoriums belegen. Es sei nun genug mit der „Seelenkotze“. „Seelenkotze“ – wahrscheinlich hat der Begriff Tabori gefallen…

Auch heute bleiben die Texte eine Herausforderung, denn Tabori verstand das Handwerk des Schreibens. Immer schwingt in seiner Sprache, selbst da, wo sie bewusst plakativ und aufgesetzt daherkommt, etwas anderes mit – eine stille, sich des Menschlichen, allzu Menschlichen immer bewusst scheinende Lebensweisheit. So wird Taboris Theaterwerk auch literarisch zu einem Bestandteil der ewigen Comédie humaine.

Titelbild

George Tabori: Theater. Band 2.
Herausgegeben von Maria Sommer und Jan Strümpel.
Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Grützmacher-Tabori.
Steidl Verlag, Göttingen 2014.
607 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783869308340

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch