Auf der Suche nach einem richtigen Leben

Rudolf Stumbergers Reisebericht über „Das kommunistische Amerika“ zeigt die hoffnungsvollen Versuche von alternativen Lebensformen im Kollektiv, aber auch ihr vielfaches Scheitern

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Träumen auch Sie manchmal von einem Leben, das weder Stress noch Konkurrenzdenken kennt, fern von Existenzangst oder Profitgier, jenseits von Burn-Out auf der einen und Bore-Out auf der anderen Seite? Von einem Leben, in dem Sie heute dies, morgen jenes tun können, morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben, nach dem Essen Kritiker sein? Wünschen auch Sie sich manchmal eine Welt, in der die Menschen verstanden haben, dass man Geld nicht essen kann, und in der Teilen, Gemeinschaft und Solidarität tatsächlich gelebt werden anstatt nur Floskeln der Parteiprogramme zu sein? Ein Leben, in dem jeder nach seinen Fähigkeiten arbeitet und nach seinen Bedürfnissen bekommt? Und halten auch Sie eine solche Vorstellung angesichts der herrschenden Verhältnisse für utopisch?

Im Verlauf der Geschichte haben Menschen mit ähnlichen Vorstellungen immer wieder versucht, ihre Utopien Wirklichkeit werden zu lassen. Von hinduistischen und buddhistischen Orden über mittelalterliche Klöster bis hin zu modernen Ashrams, Hippie-Gemeinschaften wie Drop City, den Kibbuzim und Ökodörfern reicht die lange Liste der Versuche, ein Leben abseits des Mainstream, im Schutze räumlicher und ideeller Separierung von der als schädlich empfundenen Welt in größerem Maßstab zu gestalten. Dabei zeigt bereits diese Liste, was auch das Buch „Das kommunistische Amerika“ von Rudolf Stumberger bestätigt: Gemeinschaftliche Lebensformen beruhen fast immer auf starken ideologischen Grundlagen, und je fester diese sind, desto andauernder ist der Erfolg der Kommune.

Für seinen im Mandelbaum Verlag erschienenen Band hat Stumberger auf einer Reise quer durch die USA, von Massachusetts bis nach Oregon, die Spuren utopischer Kommunen verfolgt und einen äußerst informativen Bericht zusammengestellt. Er zeichnet dabei die Reise des deutschstämmigen Journalisten Charles Nordhoff nach, die dieser im Jahre 1874 gemacht hat, um die sozialen Experimente, die auf dem Kontinent entstanden waren, aus erster Hand kennenzulernen. Nordhoff und Stumberger besuchen so unterschiedliche Kommunen wie die von den amerikanischen Transzendentalisten wie Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau inspirierte Brook Farm bei Boston, die Shaker in New Hampshire, die Sex-Kommune von Oneida, die Rappisten in Pennsylvania, Zoar in Ohio, Amana am Iowa-River, die Hutterer in Montana und schließlich die Kommune von Aurora an der Westküste. Seit ihrem Entstehen haben sich die Kommunen stark gewandelt – von den meisten ist nicht mehr als ein Museum oder eine Infotafel übrig, andere wurden in Gemeinschaften mit Privatbesitz oder in Aktiengesellschaften umgewandelt, und eine, die der Hutterer, existiert noch heute. Stumberger zeichnet dabei ihre Geschichte so umfassend wie kurzweilig nach, versammelt Reiseinformationen und fügt seinen Abrissen über die Geschichte des jeweiligen Ortes historische und aktuelle Fotografien hinzu.

Die Idee ist also ebenso bekannt wie beliebt und erweist sich im Kleinen alles andere als utopisch. Mit Gleichgesinnten Räume gemeinschaftlichen Handelns zu schaffen, die auf Freiwilligkeit beruhen, wurde immer dort umsetzbar, wo die Umstände so viel Wohlstand produziert hatten, dass es auch kleineren Gruppen von etwa 100 Menschen möglich ist, in relativer Existenzsicherheit zu leben – musste doch der Boden oft mit Maschinen bearbeitet werden, die nicht in der Kommune selbst produziert werden konnten, weil ihre Herstellung einen zu komplexen Grad an Arbeitsteilung benötigte und Ressourcen, die nicht im Grundbesitz der Kommune waren. Zum anderen wurde die Umsetzung immer dort möglich, wo der Staat den Menschen genug Freiheit gewährte, dass sie ihre Vorstellungen vom Glück auf eigene Faust verfolgen konnten. In der Tatsache, dass es immer die freiesten, individualistischsten, kapitalistischsten Gesellschaften sind, die eine solche kommunitaristische Selbstverwirklichung durch Gemeinbesitz erst erlauben, während die kommunistischen Gesellschaften für derartige Experimente keinen Platz bereithalten dürfen, liegt die bereits im Titel des Buches aufscheinende Ironie.

Leitende Ideale, die den Mitgliedern der Kommunen Identität und Zusammenhalt verschaffen, gibt es viele, und Stumberger zeigt, dass sich übergreifend vor allem folgende als besonders konstituierend herausgestellt haben: Alle Kommunen trieb die Aussicht auf ein Arbeiten und Leben an, das dem der (idealisierten) Familie gleicht – Verzicht auf Lohn und Geld, Abwesenheit von Privatbesitz zugunsten nominell gemeinschaftlichen Eigentums, Sozialisierung der Produktionsmittel, solidarisches Arbeiten im Kollektiv, Negierung einer reinen Profitorientierung. Die Mitglieder werden nicht nur mit dem Lebenswichtigsten versorgt; neben Essen, Kleidung, Unterkunft und medizinischer Versorgung spielen auch Bildung und Unterhaltung in einigen Kommunen eine gewisse Rolle.

Basisdemokratische Strukturen geraten dabei eher in den Hintergrund; nicht wenige Kommunen werden stattdessen durch eine starke Führungspersönlichkeit, deren Autorität in ihrem Charisma gründet, oder durch eine feste Rangordnung zusammengehalten. Dieser Zusammenhalt schwindet dementsprechend, wenn die Gründungs- und Leitfigur abgetreten oder gestorben ist. Auf individuelle Entfaltung wird traditionell wenig Wert gelegt, ja sie wird mitunter als schädlich für die Gemeinschaft empfunden.

Stumberger kommt bisweilen auf den Zusammenhang zwischen der Innenwelt der Kommune mit ihren ganz eigenen Gesetzen und der Außenwelt zu sprechen. Bisweilen überleben die Kommunen die ersten Jahrzehnte nur, weil die Gründungsfamilien oder Dazugekommene eigenen Besitz und Wohlstand in die Gemeinschaft mit einbringen. Notwendige Arbeiten müssen nicht selten extern vergeben werden, da entweder Material oder Spezialisten fehlen. Oft werden anfallende Aufgaben auch von Lohnarbeitern erledigt, die auf dem Anwesen der Kommune leben, sich ihr aber nicht angeschlossen haben, sondern eine eigene Kaste bilden – eine Art Arbeiterklasse für die Kommunisten. Einige Gemeinschaften können nur überleben, indem sie einen gewissen Kommunentourismus zulassen, der ihrem Geist eigentlich widerspricht. Man lebt vom Verkauf von Mahlzeiten, Getränken sowie Handwerksarbeiten an die Außenwelt und ähnelt so einem genossenschaftlichen Betrieb, mit dem Unterschied, dass der persönliche Profit nicht im Vordergrund steht.

Es waren die USA des 19. Jahrhunderts, die den religiös Verfolgten eine Möglichkeit boten, nach ihren Vorstellungen zu leben. „Es ist ein Beispiel dafür“, schreibt Stumberger, „wie damals in den USA auch Freiräume möglich waren, auch gesellschaftliche Freiräume, in denen man derartige Experimente durchführen konnte, ohne dass man vertrieben oder unterdrückt oder dergleichen wurde.“ Die Freiheit der kapitalistischen Gesellschaft ermöglichte es ihren Mitgliedern also, eigene Lebensweisen auszuprobieren, ein anderes Wirtschaften zu erproben, unter der Maßgabe, dass sie erstens niemanden zwangen, ebenso zu leben, und zweitens die Folgen ihrer Experimente selber zu verantworten hatten. Der persönliche und ökonomische Misserfolg, den viele Kommunen über kurz oder lang zu erleiden hatten, ist, wie Stumberger zeigt, sowohl von ihnen allein verursacht als auch von ihnen allein getragen worden. Insofern ist jede kommunitarische Gemeinde innerhalb eines echten kapitalistischen Systems eine Werbemaßnahme für eben dieses System. Liegt darin vielleicht auch der Grund, warum derartige Experimente von Karl Marx abwertend als utopischer Sozialismus bezeichnet wurden?

Nur die weit verbreitete historische Unkenntnis über die Ursachen etwa der Großen Depression kann zu Fehlurteilen wie dem führen, das Stumberger über das Ende der Kommune von Amana, Iowa, fällt:

Es ist eine kleine Ironie der Geschichte, dass Amana und ihre Wirtschaftsbetriebe auch daran zugrunde gingen, dass die Weltwirtschaftskrise über die Ökonomie hereinbrach. Das kommunistische Experiment ist sozusagen an der kapitalistischen Wirtschaft gescheitert.

Dass die Weltwirtschaftskrise von 1929 durch Staatseingriffe hervorgerufen und verstärkt wurde, wie schon Murray Rothbard und in Folge Thomas J. DiLorenzo gezeigt haben, muss ausblenden, wer die Überlegenheit eines globalkommunistischen Systems gegenüber einer nicht-zentralisierten, auf Eigentumsrechten und persönlicher Freiheit des Individuums beruhenden „Systems“ propagieren will, selbst wenn all seine Beispiele sogar im Kleinen für das Gegenteil sprechen. Stumberger tut dies zwar nicht, lädt mit seinen Fehldeutungen allerdings dazu ein.

Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Kommune von Zoar. Stumberger schreibt, ihre Produkte hätten durch die Entwicklung der modernen Industriegesellschaft nicht mehr mit Konkurrenzprodukten mithalten können; die Kommune sei deshalb ihrem Ende geweiht gewesen. Was impliziert: Während in einem auf Privateigentum und Eigentum an Produktionsmitteln basierten Wirtschaftssystem die Produkte für die Menschen (durch Wettbewerb und Innovation) immer billiger werden, entweder also das Leben der Menschen tendenziell einfacher und stressfreier wird oder ihr materieller Wohlstand steigt, muss ein sozialisiertes Wirtschaften entweder hohe Preise oder sinkende Qualität seiner Produkte hervorbringen, das Leben der Menschen also tendenziell verschlechtern, schlechtere Ausgangsmaterialien verwenden, die eigenen Arbeiter zu längerer, härterer Arbeit anhalten oder sie entlassen.

Gleichwohl ist Stumbergers kleines Buch in vielerlei Hinsicht ein Schatz. Reisebericht, Reiseführer und sozioökonomischer Traktat in einem, verbindet es geschichtliches Hintergrundwissen mit reportagehaftem Erzählen, dem man das persönliche Erlebnis anmerkt. Seine Sichtweise ist über weite Strecken wohltuend neutral, jeder Verklärung abhold, kann und will aber eine gewisse ideologische Sympathie für den Gegenstand nicht immer leugnen.

Der Autor unterschätzt beispielsweise die eigentliche Gestaltungskraft der Kommunen, ohne sie jedoch zu verschweigen. Dass nur den religiösen Gemeinschaften wie den Amischen und den Hutterern eine längere Existenzdauer beschieden war, während die weltlich ausgerichteten entweder an persönlichem Versagen oder wirtschaftlichem Misserfolg scheiterten, kann nicht genug betont werden. Offenbar bedarf ein Leben im Kollektiv immer einer großen Erzählung, gemeinhin handelt es sich dann um eine religiöse Grundlage, die die Mitglieder auf die Regeln der Kommune einschwört und so das gemeinsame Haus auf Felsen bauen lässt. Fehlt diese oder wird sie brüchig, haben die rein persönlichen Vorteile (Existenzsicherung, geringere Arbeitsbelastung, Aufgehobensein in der Gruppe) eines Lebens im Kollektiv offenbar nicht mehr genug Gewicht, um die Nachteile der fehlenden persönlichen Freiheit und Selbstverwirklichung aufzuwiegen.

Auf perverse Weise veranschaulicht dies das Schicksal der Kommune von Oneida. Diese „Sex-Kommune“ im Staat New York wurde während des 19. Jahrhunderts drei Jahrzehnte lang durch die guru-hafte Anmaßung ihres Gründers Humphrey Noyes, durch eine starke Hierarchie und durch menschenverachtende Psychopraktiken aufrechterhalten. Die Mädchen der Kommune hatten oft vor ihrem dreizehnten Lebensjahr erzwungenen Sexualkontakt mit den geistlichen Oberhäuptern, zumeist mit Noyes selber, der sich das „Recht der ersten Nacht“ im Sinne einer „Einweisung“ in das Leben der Kommune vorbehielt. Diese Praktiken, zu denen auch eugenische Zuchtexperimente gehörten, zielten neben dem persönlichen Lustgewinn auf die Kontrolle und Macht über die Mitglieder. Nach dem Abtreten des Sektenführers schwanden Arbeitsmoral und Zusammengehörigkeitsgefühl und schließlich endete die kommunistische Utopie in einer Aktiengesellschaft. Hier zeigt sich, zu welchen Maßnahmen kollektivistische Systeme zu greifen bereit sind, wenn ihnen die Möglichkeit religiöser Indoktrination (und damit die Nötigung durch die Erzählung vom Höllenfeuer, das Kindern vom jüngsten Alter an als Strafe für ein non-konformes Leben angedroht wird) fehlt.

Stumbergers Buch ist angesichts dieser Fakten mit einem abschließenden Urteil zu zurückhaltend. Die von ihm besuchten Kommunen sind entweder kläglich (bereits nach Monaten!) gescheitert oder haben ihren Mitgliedern ein Leben in Würde und Freiheit verweigert und sich ein Weiterleben nur durch psychische und physische Kontrolle erpressen können. Dabei zeigen Stumbergers Ausführungen deutlich: So spannend soziale Experimente wie die utopischen Kommunen in den USA auch sein mögen, so vorsichtig muss man sein, sie zum Ideal eines Lebens jenseits von Ausbeutung, Entfremdung und Stress zu verklären.

Titelbild

Rudolf Stumberger: Das kommunistische Amerika. Auf den Spuren utopischer Kommunen in den USA.
Mandelbaum Verlag, Wien 2015.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783854766476

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