„Chega de saudade“

Fluchtbewegungen zwischen Europa und Brasilien

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das portugiesische Wort saudade lässt sich kaum adäquat im Deutschen wiedergeben. Es bezeichnet vor allem „Heimweh“ oder „Sehnsucht“, manchmal wird es allerdings auch mit „Fernweh“ übersetzt. Brasilianer, so der Medienphilosoph und Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser, hätten von ihrem Land und von sich selbst keinen Besitz ergriffen, sondern taumelten in einer jahrhundertealten Betäubung und Heimweh, eben saudade, in den sich unendlich weit abrollenden Hochebenen wie Treibgut.[1] Charakterisierte der 1940 nach Brasilien emigrierte Flusser den Brasilianer als ewigen Migranten, so mag dieses Taumeln selbstverständlich Milliarden von Menschen betreffen und betroffen haben. Dass Migration weder neu, noch das eigentliche Problem ist, sondern nur ein Symptom, wird in letzter Zeit häufig vergessen. Tatsächlich stellen die derzeitigen Fluchtbewegungen en masse ein neues, weiteres Problem dar. Die anhaltende Migrationswelle bildet allerdings keine Ausnahme, denn Wanderungsbewegungen hat es in der Geschichte immer schon gegeben. Sie beginnen mit der Vertreibung aus dem Paradies und scheinen damit so alt wie der Mensch selbst. 

Von Europa nach Brasilien

Folgt man Slavoj Žižek, der die Hauptursache für die Flucht im globalen Kapitalismus und seinen geopolitischen Spielen sieht, so sind koloniale Expansion und der damit verbundene Sklavenhandel einer der Hauptmotoren für diese Wanderungsbewegungen.[2] Der Sklavenhandel in Brasilien ist ein Beispiel für die globalen Menschenströme des 16. Jahrhunderts. Gegen Ende der Kolonialzeit (1500-1822) hatte Brasilien mit rund 3 Millionen Menschen aus drei Kontinenten fast so viele Einwohner wie das Mutterland. Aber auch nach der Unabhängigkeit sorgte vor allem der Kaffeeboom für eine verstärkte Migration von Europäern, die unter den Auswirkungen von Überbevölkerung, prekären wirtschaftlichen Zuständen, aber auch unter politischer und religiöser Unterdrückung litten. Ab den 1860er Jahren stieg die Zahl der europäischen Einwanderer und erreichte im letzten Jahrzehnt des Kaiserreichs (1822-1889) mit 444 000 Einwanderern aus Portugal, Italien, Spanien, aber auch aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und der Schweiz einen Höhepunkt.[3] Während der Ersten Republik (1889-1930) wurden insgesamt 4 Millionen Einreisen registriert.[4] Für die Einwanderung europäischer Landwirte betrieb Brasilien sogar eine aktive Ansiedlungspolitik. Selbstverständlich verlief die Migration nicht konfliktfrei: Migranten hielten sich nicht an Versprechungen und immigrierte Protestanten waren im Kaiserreich rechtlich benachteiligt[5] – Assimilation gestaltet sich eben als dialektischer Prozess. 

Von Konflikten, allerdings anderer Art, ist bereits im ersten Bericht über Brasilien aus der Perspektive eines deutschen „Migranten“ zu lesen. Hans Stadens Zwei Reisen nach Brasilien (1557), ursprünglich unter dem barocken Titel Wahrhaftige Historia und Beschreibung eines Landes der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser, in der Neuen Welt Amerika gelegen, vor und nach Christi Geburt im Lande Hessen unbekannt bis auf diese zwei letztvergangenen Jahre, da Hans Staden aus Homberg in Hessen es aus eigener Erfahrung kennen gelernt hat, was er jetzt durch den Druck bekannt gibt erschienen, stellt eine der wohl unmittelbarsten Quellen über die konfliktgeladene Begegnung zwischen Indianern und Europäern dar und wurde zu einem Bestseller. Als Landsknecht in portugiesischen Diensten erreichte Staden 1547 Brasilien und kämpfte dort gegen die indigene Bevölkerung. Bei seiner zweiten Reise wurde er von Tupinambá-Indianern gefangengenommen. Über neun Monate lebte er unfreiwillig in ihrer Siedlung, lernte sie und ihre Rituale besser zu verstehen, allerdings stets in Angst verspeist zu werden, denn die Tupinambá waren Kannibalen, bis er schließlich befreit werden konnte. Über 80 Ausgaben in acht verschiedenen Sprachen liegen von Stadens Bericht über diesen Kulturkontakt mit den „Menschenfressern“ vor. In Brasilien findet man ihn sogar als Taschenbuch-Ausgabe in einem der zahlreichen Kioske von Copacabana, in einer Parallelstraße der berühmten Avenida Atlântica, dort, wo man von den Hotel-Dachterrassen die Favela-Hügel in der Dämmerung glitzern sieht und wo es nicht allzu schwierig ist, einen carioca mit bayerischen Wurzeln in einer Filiale der Banco Itaú zu treffen. 

Brasilien: Stefan Zweigs „Land der Zukunft“

Wohl der bekannteste Immigrant Brasiliens, Stefan Zweig, kam hier bei seinem ersten Brasilienaufenthalt – bevor er 1940 endgültig nach Brasilien ging – im eleganten Copacabana Palace Hotel unter. Unter den Regierungen von Getúlio Vargas (1930-1945 und 1951-1954) fühlte sich Brasilien einerseits dem nationalsozialistischen Regime verbunden und lieferte die Kommunistin Olga Benario Prestes nach Deutschland aus, andererseits wurden mehrere Tausend jüdische Flüchtlinge aufgenommen, unter ihnen Vilém Flusser und Stefan Zweig. Doch auch den „Tätern“ bot Brasilien Ende der 1940er Jahre einen Fluchtort.[6]

Bevor sich Zweig im Hinterland von Rio de Janeiro in Petrópolis niederließ – eine Stadt hoch in den Bergen mit Fachwerkgiebeln zwischen tropischem Urwald und Straßenschildern, die den Weg ins Stadtviertel Bingen anzeigen –, schwärmte er beim Anblick der Favelas in Rio de Janeiro von „pittoresken Negerhütten“[7] und verklärte die dort täglich aufeinander treffenden sozialen Gegensätze zu einem „weiche[n] Ineinanderspielen der Kontraste“[8]. Brasilien sah der Europa entflohene und vom Zweiten Weltkrieg gebeutelte Zweig als Vorbild für „ein friedliches Zusammenleben der Menschen trotz aller disparaten Rassen, Klassen, Farben, Religionen und Überzeugungen“[9]. Zweig ging sogar so weit und schrieb dem Brasilianer eine „eingeborene Toleranz“[10] zu. Ein Blick auf Rios kriminellen Alltag genügt, um Zweigs Romantisierung als solche zu dechiffrieren. Trotzdem trifft Zweigs Beobachtung ein zentrales Charakteristikum Brasiliens: das leider nicht immer weiche Ineinanderspielen der Kontraste, die einerseits tatsächlich verschwinden, andererseits aber umso drastischer auftreten.

Vilém Flusser hat über sein eigenes Projekt, als Immigrant über Brasilien zu schreiben, folgende kluge Bemerkung gemacht: „Der Abstand bleibt ziemlich weit, denn es soll der Versuch unternommen werden, Brasilien, die Lebenswelt des Verfassers, ins Blickfeld zu nehmen. Dafür ist der gewählte Standpunkt ziemlich eng, nämlich der eines spezifischen Immigranten. Die Enge des Standpunkts, so ist zu hoffen, wird die Weite des Abstands kompensieren.“[11] Ob dies bei Stefan Zweig geglückt ist, scheint äußerst fragwürdig. Den Blick auf Europa konnte Zweig nämlich nicht lassen: „Aber bei all seiner Schönheit ist eines symbolisch: daß man an diesem Strande sitzend oder stehend, Brasilien eigentlich im Rücken hat. Denn diese eine Avenida blickt – freilich über einen ganzen Ozean – nach Europa hinüber.“[12] Europäischen Einfluss glaubte Zweig überall zu erkennen: „Alles, was wir heute brasilianisch nennen und als solches anerkennen, läßt sich nicht aus einer eigenen Tradition erklären, sondern aus einer schöpferischen Umwandlung des Europäischen durch das Land, das Klima und seine Menschen.“[13] Und als sei er sich seines eurozentrischen Blicks bewusst geworden, bekennt er ein paar Seiten später: „Aber es erweist sich in Amerika, diesem mit ganz anderer Vehemenz aufstrebenden Kontinent, immer als Fehler und verhängnisvolle Bescheidenheit, in europäischen Maßen zu denken und zu rechnen. Zeit und Raum haben jenseits des Ozeans ein anderes dynamisches Maß.“[14] 

Von brasilianischen und deutschen Flüchtlingen: Chico Buarques „Mein deutscher Bruder“

Rio de Janeiro – nicht nur für Stefan Zweig die „schönste[…] Erde der Welt“[15] –, entwickelte sich Anfang der 1960er Jahre zum kulturellen Zentrum Brasiliens. Auch heute noch versprüht die schwarz-weiße wellenförmig Strandpromenade mit den gelben von Brahma gesponserten Plastikstühlen den Charme der späten 50er und frühen 60er Jahre, damals als Rio Geburtsstadt des Bossa nova wurde. Der Bossa, eine Mischung aus Samba und Jazz, wurde vor allem dank João Gilbertos Album Chega de Saudade und dem Soundtrack zu Marcel Camus‘ preisgekröntem Film Orfeu Negro (1959) von Antônio Carlos („Tom“) Jobim, Vinicius de Moraes und Luiz Bonfá international bekannt. Im Nachbarviertel von Copacabana, dem damaligen Künstlerviertel Ipanema, komponierten Tom und Vinicius 1962 den weltberühmten Klassiker Garota da Ipanema/The Girl from Ipanema, mit dem die Karriere von Astrud Gilberto, der Frau João Gilbertos, begann.

Die Väter des Bossa nova waren Chico Buarques Vorbilder. Dem weltberühmten Musiker, Komponist und Autor gelang 1966 der Durchbruch mit dem Song A banda – für die deutsche Version Zwei Apfelsinen im Haar erhielt Fance Gall 1968 übrigens die Goldene Schallplatte.

Mit dem Militärputsch von 1964 wurde die Regierung von João Goulart gestürzt und viele Intellektuelle, Künstler und Politiker landeten auf der schwarzen Liste. Einige flüchteten nach Europa, unter ihnen Chico Buarque, Oscar Niemeyer, der den Namen seines deutschen Großvaters angenommen hatte, und auch Jorge Amado, der ebenfalls wie Niemeyer in der kommunistischen Partei war.[16] Chicos Vater, Sérgio Buarque de Holanda (1902-1982), ebenfalls Freund von Niemeyer, außerdem einer der bekanntesten brasilianischen Historiker und Journalisten sowie Autor des berühmten Essays Die Wurzeln Brasiliens (1936), verließ 1969 aus Protest gegen die Militärdiktatur, die die Entlassung einiger Kollegen betrieben hatte, die Universität São Paulo und ging in den Vorruhestand.

Für die Familie Buarque de Holanda hat Niemeyer sogar mal ein Haus entworfen, das aber leider nie gebaut wurde.[17] Bestimmt wäre dies dann ein Haus mit Bücherregalen an sämtlichen Wänden geworden. Denn in Chico Buarques – stellenweise autobiografischem – neuem Flucht-Roman O irmão alemão , dessen deutsche Übersetzung Mein deutscher Bruder gerade erschienen ist, entpuppt sich das Haus Buarque de Holanda als Bibliothek mit bis zu 20 000 Büchern, unter ihnen selbstverständlich eine Erstausgabe von Hans Staden. Die italienische Mutter von Ciccio, so der Name des Ich-Erzählers, fungiert dort als Bibliothekarin, die – wenn sie nicht gerade damit beschäftigt ist, Erdbeer- oder Ananastorten und Spaghetti /alla carbonara/ oder /alla puttanesca/ zuzubereiten – rund um die Uhr auf Zuruf („Assunta! Assunta!“) für den Vater Bücher sucht, meistens europäische Klassiker wie Homer, Vergil, Dante, Balzac oder Gogol.

Kein Wunder also, dass Ciccio den Brief, der Auskunft über die Existenz eines deutschen Bruder geben wird – der auf Deutsch verfasste Brief muss erst noch übersetzt werden – zufällig in einem Buch entdeckt, nämlich in The Golden Bowl. Tatsächlich war Ciccios bzw. Chicos Vater, Sérgio Buarque de Holanda, von 1929 bis 1930 als Auslandskorrespondent der brasilianischen Zeitung O Jornal in Berlin, wo er Chicos Bruder Sergio Günther, der als Moderator beim Rundfunk und beim Fernsehen der DDR und nicht zuletzt als Sänger berühmt wurde, zeugte. Während Chico in den 60er Jahren der Durchbruch mit A banda gelang, wurde Sergio als Schlagerinterpret von Mitternachtstango im DDR-Fernsehen bekannt. Im Roman flüchtet sich Ciccio in das Deutschland der 1930er Jahre und rekonstruiert die komplexe Geschichte um Anne, die Mutter Sergio Günthers und Geliebte Sérgio Buarque de Hollandas, und den nach São Paulo ausgewanderten Pianisten und Bekannten Annes, Heinz Borgart. In dessen Haus glaubt Ciccio nämlich seinen Bruder finden zu können, doch der ist wider Erwarten nicht nach Brasilien immigriert. Vollzogene oder auch angedeutete Fluchtbewegungen ziehen sich durch Buarques Roman wie ein roter Faden. Am Ende des Romans wird Ciccio in einem Berliner Taxi seinen mittlerweile verstorbenen Bruder singen hören: „Es heißt / Irgendwo auf der Welt / Anscheinend in Brasilien / Gibt es einen glücklichen Menschen.“[18]

Brasilien – ein „Scheißland“. Luiz Ruffatos Porträt eines brasilianischen Migranten

Glücklich in Brasilien ist der Protagonist in Luiz Ruffatos Migrationsroman Ich war in Lissabon und dachte an dich, der in Brasilien bereits 2010 erschien, aber erst im letzten Jahr auf Deutsch übersetzt wurde, allerdings nicht. Flüchteten viele Brasilianer unter der Diktatur nur für eine gewisse Zeit ins Ausland, um später doch nach Brasilien zurückzukehren, so ist Brasilien spätestens seit den 1980er Jahren zum Auswanderungsland geworden. Ruffato lässt seinen Protagonisten Sérgio, einen jungen Brasilianer aus der im Bundesstaat Minas Gerais liegenden Stadt Cataguases, ohne Arbeitsgenehmigung nach Portugal reisen. Lissabon wird in Ruffatos Buch zum Migranten-Treff. Sérgios Kellner-Kollege ist Ukrainer, sein Nachbar in der Pension Angolaner, der seine Frau an Freier verkauft, und schließlich lernt er die brasilianische Prostituierte Sheila kennen. Sie alle verbindet „die Mutlosigkeit des Einwanderers, wenn man weiß, dass dieses Leben nichts taugt, wenn man nicht einmal hoffen darf, dort begraben zu werden, wo man geboren ist […]“[19]. In Lissabon reagiert man mit Vorurteilen und Klischees auf die (brasilianischen) Migranten. Erstens: Brasilianer sprechen schlecht Portugiesisch. Sérgios Kollegin, die Köchin Dona Celestina, lässt ihn wissen, dass sein Portugiesisch besser sei als das seines ukrainischen Kollegen. Zweitens: Brasilianerinnen arbeiten als Prostituierte. Als Sérgio seiner Kollegin von Sheila erzählt, lautet ihr Urteil: „‚Brasilianerin? Dann geht sie auf den Strich.‘“[20] Drittens: Brasilien ist ein kriminelles Land. Als Sérgio in seiner Pension darauf aufmerksam macht, dass eine unbesetzte Rezeption von Eindringlingen ausgenutzt werden könne, erklärt man ihm: „Wir sind hier nicht in Brasilien, du Schwachkopf!“[21] Nach diesen Erfahrungen überkommt auch Sérgio saudade: „[…] da überkam mich eine wahnsinnige Beklemmung, ich musste an meine Leute denken, wie es ihnen da drüben wohl ging, ob sie wohl immer noch in ihrem Trott lebten, früh aufstehen, arbeiten, spät heimkommen, sich in der Beira Bar treffen, samstags Karten spielen, sonntags ausschlafen…“[22]. Und trotzdem ist Brasilien keine Alternative für die nach Lissabon geflüchteten Brasilianer, denn in Brasilien sind sie „auch nichts, die anderen, ‚Was für ein Scheißland! Verbrecher und Gauner!‘ […].“[23]

Ähnlich mag das auch der portugiesische Autor Miguel Torga gesehen haben, der mit dreizehn Jahren nach Brasilien immigrierte, um dort ein besseres Leben zu führen. Der Sohn eines Tagelöhners wurde nach der Volksschule von einer reichen Familie in Porto als Hausdiener ausgenutzt und seine Eltern hofften auf den letzten Weg: eine Auswanderung nach Brasilien, die Glück und Vermögen bringen sollte. Aber auch auf dem brasilianischen Landgut seines Onkels in Minas Gerais wurde der junge Miguel ausgebeutet. Seine Erfahrungen in Brasilien hat Torga im zweiten Kapitel O Brasil seines aus sechs Teilen bestehenden Romanwerks Die Erschaffung der Welt verarbeitet. Mit 18 Jahren kehrte er nach Lissabon zurück und erst mit siebenundvierzig Jahren unternahm er eine zweite Reise nach Brasilien. Das Leid des Emigranten hat Torga auch in folgenden Versen geschildert, die Ruffato seinem Roman voran gestellt hat:

Brasilien, wo ich gelebt, Brasilien, in dem ich gelitten,
Brasilien meines kindlichen Staunens:
Wie lange schon habe ich dich verlassen
Kaimauer am anderen Ende meines Wegs!
[…]
Ach, Verbannung im Antlitz eines jeden Gesichts,
Traurigkeit eines geteilten Schoßes!
Ach kenterte doch unterwegs die Verzweiflung
Auf dem Weg zwischen gefundenem
und verlorenem Boden.

„Zwischen gefundenem und verlorenem Boden“

Dieses von Torga formulierte Gefühl mag vielen Migranten, selbstverständlich nicht nur europäischen oder brasilianischen, vertraut sein. Doch handelt es sich hier nicht um Kategorien, die rapide brüchig werden können? Wie schnell der verlorene Boden zu einem gefundenen werden kann und sich umgekehrt der gefundene in einen verlorenen wandeln kann, ist wohl kaum von der Hand zu weisen, denn die Flucht – wie eingangs erwähnt – ist schließlich nur das Symptom anderer Probleme. Soziale Ungleichheiten, Kriege, aber auch eine veränderte Umwelt, können jeden jederzeit zum Flüchtling werden lassen. Nicht zuletzt wandern auch die Probleme, wie es uns momentan das Zika-Virus vorführt. Ist der Mensch also zum ewigen Flüchtling verdammt? Wird saudade damit zu einem Gefühl, das nicht nur – wie Fernando Pessoa beschrieb – Portugiesen bzw. portugiesischsprachige Menschen kennen, sondern die ganze Welt? Wir überlassen Žižek das letzte Wort, der darauf eine Antwort hat: „Die wichtigste Lektion, die es jetzt zu lernen gilt, lautet deshalb, dass die Menschheit sich darauf vorbereiten sollte, ‚plastischer‘ und nomadischer zu leben: Lokale oder globale Umweltveränderungen können uns vor die Notwendigkeit eines unerhört großflächigen sozialen Wandels und erneuerter Völkerwanderungen stellen.“[24]

Anmerkungen 

[1] Vgl. Flusser, S. 22.

[2] Vgl. Žižek, S. 80.

[3] Vgl. Rinke, S. 100-101.

[4] Vgl. ebd., S. 130.

[5] Vgl. ebd., S. 100-101.

[6] Vgl. ebd., 145-146.

[7] Vgl. Zweig, S. 203.

[8] Ebd., S. 201.

[9] Ebd., S. 12.

[10] Ebd., S. 18.

[11] Flusser, S. 12.

[12] Zweig, S. 193.

[13] Ebd., S. 141.

[14] Ebd., S. 204.

[15] Ebd., S. 180.

[16] Niemeyer, S. 16-17.

[17] Ebd., S. 49.

[18] Buarque, S. 243.

[19] Ruffato, S. 81.

[20] Ebd., S. 69.

[21] Ebd., S. 47.

[22] Ebd., S. 81.

[23] Ebd., S. 86.

[24] Žižek, S. 81.

Literatur

Flusser, Vilém: Schriften. Hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser. Bd. 5: Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen. Für eine Phänomenologie der Unterentwicklung. Mannheim 1994.

Rinke, Stefan; Schulze, Frederik: Kleine Geschichte Brasiliens. München 2013.

Ruffato, Luiz: Ich war in Lissabon und dachte an dich. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Berlin/Hamburg 2015.

Torga, Miguel: O Brasil. Die Erschaffung der Welt. Zweiter Tag. Aus dem Portugiesischen mit einem Vorwort und einem Glossar von Curt Meyer-Clason. Freiburg 1994.

Žižek, Slavoj: Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror. Aus dem Englischen von Regina Schneider. 2. Auflage. Berlin 2016.

Zweig, Stefan: Brasilien. Ein Land der Zukunft. Frankfurt/Leipzig 1997.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Kein Bild

Alberto Riva (Hg.) / Oscar Niemeyer: Wir müssen die Welt verändern.
Übersetzt aus dem Italienischen von Friederike Hausmann.
Verlag Antje Kunstmann, München 2013.
96 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783888978715

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Titelbild

Chico Buarque: Mein deutscher Bruder. Roman.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
282 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100024602

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