Unschuldig schuldig

Die Historikerin Mary Fulbrook arbeitet sich an der NS-Belastung des preußischen Landrats Udo Klausa ab

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichtswissenschaft soll man sine ira et studio betreiben, ohne Zorn und Eifer. Das ist eine Binsenweisheit. Was aber, wenn diesem Ideal persönliche Bindungen und daraus resultierene Emotionen in die Quere kommen? Dann muss man versuchen, mit Hilfe professioneller Kompetenz Distanz zu schaffen, will sagen, so zu Werke zu gehen, wie man das in der historischen Zunft üblicherweise tut. Vor allem aber gilt es, sich und den Lesern jeweils Rechenschaft zu legen, was freilich das prinzipielle Dilemma, das in solchen Konstellationen steckt, nicht völlig aufzuheben vermag.

Dies ist in etwa die Situation, mit der Mary Fulbrook konfrontiert war, als sie sich entschloss, ein Buch über die polnische Stadt Będzin unter deutscher Herrschaft im Zweiten Weltkrieg zu schreiben. Auf den ersten Blick verbirgt sich dahinter kein außergewöhnliches Sujet, auf den zweiten indes schon. Denn der dort amtierende Landrat Udo Klausa war verheiratet mit Alexandra, geborene von Schweinitz, die mit der Mutter der Autorin befreundet war. Das litt nach der Machtergreifung der Nazis Schaden, denn die beiden Frauen trennten Weltanschauung und ‚Rasse‘ – Fulbrooks Mutter musste emigrieren, briefliche Kontakte brachen ab, wurden aber in den späten 1940er-Jahren wieder aufgenommen, die revitalisierte Freundschaft fand ihren Ausdruck unter anderem darin, dass Alexandra Klausa Mary Fulbrooks Taufpatin wurde. Diese „soziale Rolle“, heißt es, erfüllte sie „auf vorbildliche Weise“, und es gingen etliche Jahre ins Land, ehe die Verfasserin auf Ungereimtheiten in der familiären Überlieferung stieß, die ihre Neugier weckten und den Auftakt markierten für ein 2012 von Oxford University Press publiziertes und nun ins Deutsche übertragenes Buch, das von einer „kleinen Stadt bei Auschwitz“, von „gewöhnlichen Nazis“ und dem Holocaust handelt, aber natürlich auch von Udo Klausa, von dessen Karriere und dessen Strategien der Erklärung wie der Selbstentschuldung.

Ort des Geschehens ist Będzin, eine Stadt in Ostoberschlesien, das nach Jahrzehnten unter russischer Oberhoheit 1919 der neu begründeten Republik Polen zugeschlagen und 1939 vom Deutschen Reich annektiert wurde. Hier lebten vor dem Einmarsch der Wehrmacht 54.000 Menschen, ungefähr die Hälfte davon Juden, darunter der Holocaustüberlebende Arno Lustiger, der spätere Chronist des jüdischen Widerstands. Będzin war das administrative Zentrum des gleichnamigen Kreises, wo Udo Klausa Ende März 1940 seinen Dienst als Landrat aufnahm. Dieser, Jahrgang 1910 und bekennender Katholik, war damit, zumal als relativ junger Mann, ans Ziel sehnlich gehegter Wünsche gelangt, auch in die Fußstapfen seines Vaters getreten, der ebenfalls in einer solchen Funktion bis 1940 in den schlesischen Kreisen Leobschütz beziehungsweise Groß-Strehlitz amtiert hatte. Klausa hatte sich bereits im Februar 1933 der NSDAP angeschlossen, im elitären Potsdamer Infanterieregiment Nr. 9 seine Militärzeit absolviert und sich 1936 in einem Aufsatz über „Rasse und Wehrrecht“ verbreitet. Ausgestattet mit den nötigen juristischen Examina war er zunächst im Sudetenland, dann im Protektorat Böhmen und Mähren und von Oktober 1939 bis Frühjahr 1940 als persönlicher Assistent von August Jäger tätig gewesen, dem Stellvertreter des Reichsstatthalters Arthur Greiser im neu eingerichteten Reichsgau Wartheland, beides rabiate Nationalsozialisten und nach dem Krieg in Polen zum Tode verurteilt. Als Landrat in Będzin unterstand Klausa dem Regierungspräsidenten Walter Springorum in Kattowitz, dessen Vizepräsident Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, ein Regimentskamerad und 1944 als einer der Verschwörer gegen Hitler hingerichtet, seine Ernennung offenbar tatkräftig gefördert hatte.

Mit welcher Brutalität die ortsansässige Bevölkerung künftig würde rechnen müssen, hatte sie bereits in den ersten Kriegstagen zu spüren bekommen. Am 7. September 1939 beginnend, veranstalteten unmittelbar hinter der rasch vorrückenden Front operierende Einheiten der Einsatzgruppe unter dem Kommando des SS-Generals Udo von Woyrsch ein mehrtägiges Massaker, zündeten die Große Synagoge an, brannten Häuser nieder und erschossen Dutzende Juden auf offener Straße. Von diesen und anderen Ereignissen dürfte Klausa zumindest grob unterrichtet worden sein. Dessen bis Ende 1942 währende, durch Einberufungen zur Wehrmacht zwei Mal unterbrochene Amtszeit rekonstruiert Fulbrook mit Hilfe überlieferter Akten und nach 1945 festgehaltener Berichte von Überlebenden. Die außerordentlich detaillierte, dichte mikrohistorische Studie, die daraus erwächst, schildert die Geschehnisse in Będzin und Umgebung, beleuchtet die Existenzbedingungen der von den deutschen Maßnahmen Betroffenen, das Personal der Zivilverwaltung, die Akteure der Polizei, der Gestapo und der SS, vor allem aber die Verantwortlichkeiten des Landrats: bei der Zuteilung der überaus kargen Lebensmittelrationen, der früh einsetzenden Ghettoisierung der Juden, der zwangsweisen Rekrutierung von Arbeitskräften, um nur dies zu nennen.

Den grausigen Höhepunkt markiert hier die im Hochsommer 1942 anlaufende Deportation der jüdischen Bevölkerung in das nur wenige Kilometer entfernte Vernichtungslager Auschwitz. Die Art und Weise, wie diese zusammengetrieben wurde, die an Männern, Frauen, Kindern und Greisen geübte Gewalt, die wahllosen Erschießungen und die Aussonderung der Arbeitsfähigen, was sich über Tage hinzog, spielten sich vor aller Augen ab, nicht zuletzt vor denen der Familie Klausa. Denn das Haus, das sie bewohnte, eine Villa aus dem Besitz eines geflohenen und enteigneten jüdischen Fabrikanten, lag der Sammelstelle, einem Sportplatz, wo die Selektionen vorgenommen wurden, direkt gegenüber. In einem Brief an die Mutter sprach Alexandra Klausa am 12. August davon, dass 15.000 Juden „ausgesiedelt“ worden seien, und fügte hinzu: „Es war so entsetzlich, daß man am liebsten auch sofort den Ort verlassen hätte.“

Auf einer zweiten Ebene gleicht Fulbrook ihre Befunde über das Geschehen mit den Strategien nachträglicher Rechtfertigung durch Udo Klausa ab, den Hauptakteur und eigentlichen Protagonisten der Erzählung. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch, ist fortwährende Reflexion, ist pro und contra sorgsam abwägende Prüfung. Der Schlüsselsatz hier lautet, er, Klausa, sei „unschuldig schuldig“ geworden: ein Eingeständnis und doch wieder keines, eine philosophisch aufgeputzte, tatsächlich aber eine zu persönlichem Nutz und Frommen barmherzig zugeschnittene Floskel, gewissermaßen das Motto, unter das der Landrat außer Dienst sich und sein Wirken in Ostoberschlesien gestellt sehen wollte. Es wird nicht, wie sonst häufig zu beobachten, geschwiegen, nein, es wird erklärt – ein Verfahren, das sich indes bei genauerem Hinsehen als verhüllender Schein entpuppt. Denn es enthält Ungenauigkeiten, Erinnerungslücken, auch bewusst platzierte Lügen.

Im Kern läuft dies auf Verharmlosung und Selbstentschuldung hinaus. Er sei an Vernichtungsaktionen mangels Zuständigkeit nicht beteiligt gewesen, machte er geltend, habe sich sogar – wenngleich vergeblich – bemüht, sein jüdisches Faktotum zu retten, an den entscheidenden Tagen sei er gar nicht am Ort gewesen. Die Welt, in der er damals tätig war, wird in Gute und Böse eingeteilt, zu jenen und zwar beinahe ausschließlich zählt die SS, zu diesen die zivile Administration, ein, wie Fulbrook resümiert, kleines „Universum ‚anständiger’ Leute“. Die „wahren“ Nazis waren stets die andern, nicht jedoch die eigenen Mitarbeiter. Zwar habe es Nazis im Landratsamt gegeben, konzediert Klausa in seinen unveröffentlichten Memoiren, aber sie seien nicht von der „aggressiven“ Sorte gewesen: „Unter ihnen befand sich sogar der Träger eines goldenen Parteiabzeichens, der mir niemals Schwierigkeiten machte. Sie alle hatten eine gesunde Reserve gegenüber Parteifunktionären und hielten zur Verwaltung.“

Mit solcherart Einlassungen stand Klausa in der Nachkriegszeit keineswegs allein. Das ihnen zugrunde liegende Schema war durchaus handelsüblich, die Verbrechen nämlich, die nach und nach ans Licht kamen, nicht gänzlich zu leugnen, sondern auf das Konto der SS zu schieben. Derlei Strategien waren vielfach erfolgreich. Klausa jedenfalls überstand die Entnazifizierung unbeschadet, auch ein Ermittlungsverfahren wegen Kriegsverbrechen in und um Będzin, das Staatsanwälte der Ludwigsburger Zentralstelle anstrengten, verlief im Sande, Klausas Karriere in der Bundesrepublik nahm keinen Schaden. Mary Fulbrook, über ihre Mutter der Familie nahestehend, hat sich nicht leicht getan mit ihrer Hauptperson. Als Wissenschaftlerin und Freundin der Familie sei sie in einer „Doppelrolle“ gewesen, sie habe daher „versucht“, sagt sie am Schluss, „Klausas Version von der Geschichte so viel Gehör zu schenken“, wie ihr als Historikerin vertretbar gewesen sei. Die Grenzen der Professionalität hat sie dabei nicht verletzt, vielmehr ruft ihre differenzierte Betrachtung eindringlich in Erinnerung, welchen Erkenntnisgewinn es bringt, die Handlungsräume, über die auch der Landrat Klausa unter den Bedingungen des NS-Regimes verfügt hat, an Hand eines individuellen Falles zu vergegenwärtigen, die Vielfältigkeit des Geschehens und dessen auch moralpolitisch bedeutsame Tragweite zu diskutieren. Zu monieren ist allerdings das Fehlen eines Personenregisters sowie eines Quellen- und Literaturverzeichnisses, weshalb die Arbeit mit dem Buch einigermaßen beschwerlich ist.

Titelbild

Mary Fulbrook: Eine kleine Stadt bei Auschwitz. Gewöhnliche Nazis und der Holocaust.
Übersetzt aus dem Englischen von Eva Eckinger.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2014.
490 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783837509809

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