Am Rande der Fiktion

Ben Lerners grandioser Roman „20:04“ flimmert an den Grenzen des Literarischen

Von Carina BergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Berg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es scheint, als sei es noch nie so einfach gewesen, über das Ich zu schreiben, es zu sezieren, zu bejammern, vergangene oder mögliche Versionen aufzupolieren und zu imaginieren, wie es gegenwärtig der Fall ist. Das ubiquitäre Erschreiben des – wie auch immer sich zur Realität verhaltenden – Erzähler-Ichs hat Hochkonjunktur. Vor einigen Jahren hat Maxim Biller die neueren Entwicklungen der deutschen Literatur in der Formel von der „Ich-Zeit“, einer „literarischen Superego-Epoche“, zusammengefasst, in der Autoren ihr Schreiben mit eigenem Namen und Körper verbriefen. Schaut man sich das internationale Parkett an, reiht sich Billers Diagnose in eine Reihe von artverwandten Begriffen ein. Autofiktion, New Sincerity, Post-Irony– so unterschiedlich und vage die Begriffe in ihrer theoretischen Herkunft sein mögen, bezeichnen sie doch eine sehr spezifische Haltung zum Roman. Die durchgängige Fiktionalisierung wird zugunsten einer mit mehr oder weniger auffälligen literarischen Mitteln gestalteten Authentizität aufgegeben; man interessiert sich für sich selbst, ohne Scham. Dass dieses Spiel der literarischen Selbstbespiegelung schönere und weniger schöne Seiten hat, liegt nicht nur an der Fähigkeit seiner Teilnehmer und dem unter Umständen kontingenten Erzählmaterial der jeweiligen Biographien (oder Biographie-Fiktionen), sondern am Modus der Darstellung. Dieser reicht von einer verschmitzten, postmodernen Brechung des eigenen tragischen Schicksals beim frühen Dave Eggers, über die literarische Suggestion von Form-, Distanz- und Kunstlosigkeit in Karl Ove Knausgards Mammutprojekt bis hin zum ironielosen, digitalen Exhibitionismus einer Marie Calloway.

Ben Lerners neuer Roman 20:04 ist auch einer dieser Romane, die sich nur für sich selbst interessieren, die die Grenzen zwischen Erzähler und Autor, zwischen Welt und Text verwischen.  Diese Merkmalsauflistung klingt angesichts der immer größer werdenden Masse der bekenntnishaften Ich-Romane fast banal und generisch, doch sticht 20:04 auf Grund seiner Anlage gewaltig aus der zeitgenössischen Selfie-Literatur hervor. Der Erzähler, der sich seinen Namen mit dem Autor teilt, unterrichtet kreatives Schreiben am Brooklyn College und hat gerade einen sechsstelligen Vorschuss für eine Romanidee erhalten. Der Entstehung dieses Romans kann man als Leser beiwohnen. Bloß, dass man am Ende gar nicht den versprochenen Roman in den Händen hält, sondern eine viel komplexere Version eines Romans, der die Instabilität der ohnehin sehr dünnen Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit vorführt. Lerner hält es hier gewissermaßen mit Proust, der zwar ‚ich‘ sagt, aber oft nicht ‚Ich‘ ist.

Das Motto, das 22:04 vorangestellt ist, bildet den thematischen Kern des Romans: „Alles wird sein wie hier – nur ein klein wenig anders.“ Dieses ‚Klein-wenig-Anders‘ berührt nicht nur die Frage, wie die Zukunft der New Yorker Protagonisten Ben und seiner besten Freundin Alex ausschauen mag: Die arbeitslose End-Dreißigerin möchte ein Kind, der mehr oder weniger alleinstehende Ben soll als Samenspender dienen, aber wie diese Familienkonstellation funktionieren soll, darüber ist sich keiner der Beteiligten im Klaren. Außerdem drohen der Stadt zwei schwere Stürme und die Endlichkeit des Lebens der Metropolenbewohner ist deutlich greifbar; Batterien und Kaffee sind Mangelware. Doch das leitmotivisch besungene ‚Ein-klein-wenig-Anders‘ bezieht sich vor allem auf das Erzählen selbst, und die Einsicht, dass die Wirklichkeit durch einen Text eben nicht abgeschrieben werden kann (auch wenn momentan so viele Autoren daran laborieren), sondern sich zwangsläufig kategorial verändern muss. Sicherlich ist Lerner nicht der erste Autor, der sich diesem Thema widmet (und wird auch nicht der letzte sein), aber die Art, auf die er sich diesem „Flimmern“ zwischen Fiktion und Nichtfiktion nähert, fesselt durch die Mischung von dem unaufdringlichen Humor und der Selbstironie, mit denen der Erzähler von seinen Erste-Welt-Großstadtproblemen berichtet, und den messerscharfen kunsttheoretischen Beobachtungen. Eine dieser Schlüsselstellen ist der Besuch der Videoinstallation „The Clock“ von Christian Marclay, einer 24-stündigen Montage aus Filmszenen, die Uhrzeiten zeigen, und die so angeordnet sind, so dass sie mit der Echtzeit synchron sind. Der Film wird zur Uhr. Dass aber genau dieser Wirklichkeitseffekt bei Ben nicht eintritt, sondern er auf sein Handy schaut, um die genaue Zeit zu erfahren, wobei er seit Stunden auf das vor ihm ablaufende Uhrenvideo schaut, illustriert sein Verständnis vom ‚Ein-klein-wenig-Anders‘. Die Fiktion kann die echte Zeit nicht ersetzen. Die Minuten laufen zwar synchron, sind aber aus verschiedenen Welten. Ähnliches passiert mit der Erzählweise. Dritte und erste Person befinden sich in einem steten Wechsel; Übersicht und Innensicht bieten zwei unterschiedliche Perspektiven auf die literarische Konstruktion seines semi-realen Selbst.

Ben, ein sensibler und hypochondrischer Mann, ist ein Erzähler, der auf subtile Art und Weise Beziehungen zwischen subjektiven Erlebnissen und globalen Kontexten herstellen kann. Neben eigener Nabelschau und Selbstpathologisierung (bei ihm wurde ungewöhnlich spät das Marfan-Sydrom diagnostiziert, eine tickende Zeitbombe in Form einer Aortenwurzelvergrößerung, die eine Dissektion nach sich ziehen kann) ist er in erster Linie Erzähler und trotz der Metaform, in welcher der Roman daher kommt, ein vergleichsweise traditioneller. Für Ben sind Schriftsteller, wie es Shelley schon vor knapp 200 Jahren formulierte, die heimlichen Gesetzgeber der Welt. In unzähligen Geschichten und Halbwahrheiten führt er vor, dass das Erzählen integraler Bestandteil des Menschlichen und eine notwendige Form von Sinnstiftung ist. Kunst bedeutet für ihn die Möglichkeit, eine notwendige Distanz zum Leben in Echtzeit einzunehmen und nachzuvollziehen, wie sich Sinnzusammenhänge konstituieren. 22:04 ist ein Spiel mit dieser Distanz zwischen Fiktion und Wahrheit, die Grenzen verschieben sich oft mit einem Wimpernschlag. Es macht Freude, die Metamorphose des geplanten Romanprojekts zu verfolgen und dem Erzähler dabei zuzusehen, wie er seine Idee über ein gefälschtes Dichterarchiv als Kommentar auf fingierte Autorschaft und den (Markt)Wert der Kunst fallen lässt, um den Roman zu schreiben, den der Leser nun in den Händen hält. Jedoch ist hier nicht wie bei Calvino der Leser der Schöpfer des Werkes, sondern die Figur des Autor-Erzählers, der durch fragmentierte Alltagsbeschreibungen, nacherzählte Begebenheiten aus zweiter Hand und einem groß angelegten Geflecht von intertextuellen und intermedialen Beziehungen Authentizität generiert.

Dabei wirkt 22:04 nie angestrengt. Lerner ist ein beachtlicher Rundumschlag gelungen, denn der Text will und kann vieles. Er ist New York-Roman, Künstlerroman, ein wenig Apokalypse und vor allem eine Meditation auf das Schreiben selbst. Selfies schießen, auch literarische, können viele. Aber den Prozess zu beschreiben, in dem das Ich eingefangen wird, unter welchen Bedingungen dies geschieht und diesen Beschreibungsprozess selbst zu einem literarischen Artefakt zu machen – das ist Kunst.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Ben Lerner: 22:04. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016.
313 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498039431

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