Gesellschaftlich relevanter Inhalt – gewichtiger als die ästhetische Form?
Eine Übersicht über einige preisgekrönte Debütromane des vergangenen Jahres
Von Bozena Badura
Nahezu täglich wird in Deutschland ein Literaturpreis verliehen (siehe Literaturkritik Nr. 11/2014). Sei es für einen einzelnen Titel oder das Gesamtwerk, prämiert werden überwiegend etablierte Schriftsteller*innen. Zum Preis führen dabei u. a. die kulturell-symbolische wie ästhetische Qualität ihrer Werke, aber auch die Ökonomie des Absatzes, d. h. der durch eine soziale Relevanz oder erfolgreiche Marketingmaßnahmen erreichte Status eines Bestsellers. Der Akt der Auszeichnung ist als Symbol der Anerkennung zu deuten, die dem/der AutorIn be(ur)kundet, den Geschmack der Leserschaft erkannt oder den Nerv der Zeit getroffen zu haben. Vergleichbare Kriterien sind im Hinblick auf die Debütromane zu verzeichnen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass es sich bei den Debütant*innen, anders als bei renommierten Schriftsteller*innen, nicht um einen Kanonisierungsprozess, sondern um eine Vorteilskarte im literarischen Wettbewerb und nur um ein einzelnes Werk, eben um den Erstling bzw. das erste „große“ Prosawerk, handelt. Dies ist auch der denkbare Grund dafür, warum es bei den Werken der DebütantInnen mehr um das im Roman dargestellte, gesellschaftsbezogene Thema, den Zeitgeist, als um die Qualität der ästhetischen Form geht. Ein Blick auf die ausgezeichneten Prosawerke des letzten Jahres bestätigt diese Annahme:
Preise und Stipendien spielen als Qualitätssiegel für die weitere literarische Karriere der Debütant*innen oft eine wichtige Rolle. Einerseits ermöglichen sie ihnen als Fördermechanismus, ähnlich wie die zahlreichen Autorenstipendien, die Arbeit am nächsten Werk aufzunehmen, und tragen dadurch zur Etablierung dieser Autor*innen auf dem Buchmarkt bei. Andererseits entpuppen sie sich nolens volens als Marktmechanismen zur Erhöhung ihres Bekanntheitsgrades, um durch Erschließung eines breiten Lesepublikums die Chancen auf weitere Veröffentlichungen aufrecht zu erhalten bzw. zu vergrößern. Dafür spricht u. a. die Tatsache, dass es unter den ausgezeichneten DebütantInnen nur selten Wiederholungstäter gibt. Es ist dabei zwischen drei Auszeichnungsformen zu unterscheiden; und zwar erstens zwischen einem Jury-Preis, dessen Nominierungen oft auf persönlicher Empfehlung der Jurymitglieder beruhen und mit einer Autorenanwesenheit oder ohne diese ausgetragen werden, zweitens einem Autorenwettbewerb und drittens einem Debütanten-Salon, während dessen mehrere eingeladene Debütant*innen in einem regelrechten Wettstreit um die Gunst des Publikums kämpfen. Über den Gewinn entscheidet bei solchen Preisen dann nicht immer die – ohnehin kaum objektiv messbare – Qualität des Werkes, sondern vielmehr das im Interview unter Beweis zu stellende Sympathiepotential seines Autors bzw. seiner Autorin. Zurzeit existieren auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt etwa fünfzehn Preise für Debütromane:
Mit dem zweijährlich ausgelobten Uwe-Johnson-Förderpreis (2.500 €) wurde 2015 Mirna Funk für ihren Debütroman Winternähe ausgezeichnet. Laut der Satzung werden mit diesem Preis deutschsprachige Autorinnen und Autoren gefördert, in deren Schaffen sich Bezugspunkte zu Johnsons Poetik finden und die heute mit ihrem Text ebenso unbestechlich und jenseits der “einfachen Wahrheiten” deutsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reflektieren. In der Jury-Begründung ist nachzulesen, dass in Winternähe „eine Autorin am Werk ist, für die Schreiben ebenfalls so etwas ist wie ein Prozess der Wahrheitsfindung“. Der Bezugspunkt zu Uwe Johnson sei thematisch durch den Erinnerungsdiskurs und die Shoa gegeben. Mirna Funk bringe, so die Jury, mit ihrem Roman eine globale Perspektive ein, sie erzähle von latentem Antisemitismus in Europa, sie spiele Kontroversen durch und bliebe dabei erzählerisch konsequent. Die Jury hat hierdurch einen Roman hervorgehoben, der sich polarisierend mit der deutsch-jüdischen Geschichte auseinandersetzt und daher in der Literaturkritik lautstark empfangen wurde.
Mit gleicher Regelmäßigkeit wird der Franz-Tumler-Literaturpreis (8.000 €) ausgetragen. Diesen Auswahlpreis, mit dem „junge Literatur nachhaltig gefördert“ werden soll, gewann im vergangenen Jahr die von Daniela Strigl vorgeschlagene Hamburger Autorin Kristine Bilkau mit ihrem Roman „Die Glücklichen“ – einem Postwirtschaftskrisenroman respektive einer modernen Version von Hans Falladas „Kleiner Mann, was nun?“. In ihrem Roman erzählt Bilkau eine Geschichte vom Alltag der Ü-30-Generation, die zwischen der Selbstverwirklichung und den Anforderungen der modernen Gesellschaft hin und hergerissen ist. Die Jury betonte in ihrer Begründung die Gegenwärtigkeit dieses Sujets. In einer Komposition von beeindruckender Geschlossenheit beschreibe Kristine Bilkau bedächtig und subtil den stufenweisen Abstieg in ein städtisches Prekariat.
Der ZDF-aspekte-Preis (10.000 €) wird seit 1979 „für das beste deutschsprachige Prosa-Debüt“ verliehen. Ihn charakterisiert nicht nur seine besondere mediale Präsenz, sondern auch seine hochkarätigen TrägerInnen, zu denen u.a. Ingo Schulze oder Herta Müller gehören. Da aber die Satzung nicht öffentlich zugänglich ist, kann nur vermutet werden, was einen Roman zu dem „besten“ Debüt macht – und zwar die gesellschaftliche Relevanz. Denn, wie die Jury begründet, gelinge es der Schriftstellerin Kat Kaufmann in ihrem Roman Superposition in großartiger Weise, die großen Fragen unserer Zeit neu zu stellen. Sie habe ein beeindruckendes Debüt geschrieben über die Möglichkeiten viele Leben zu leben, viele Identitäten zu bewahren und das alles nicht verschämt im Hintergrund, sondern stolz und bewusst als Migrationsvordergrund.
Ebenfalls von einer Jury wird jährlich über den Nicolas-Born-Debütpreis (10.000 €) entschieden. Er wird für Werke verliehen, die „sich an der literarischen Qualität, der experimentellen Kreativität und der Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen Themen im Sinne des Namensgebers und Schriftstellers Nicolas Born orientieren.“ Der Debütpreis prämiert einen Autoren/eine Autorin, der/die „noch am Anfang seiner/ihrer literarischen Karriere steht.“ Dabei erscheint das im Namen stehende „Debüt“ nicht zwingend verbindlich.Die aktuelle Preisträgerin beispielsweise, Daniela Krien, weist bereits zwei Veröffentlichungen vor: Ihren Debütroman Irgendwann werden wir uns alles erzählen (2011) und einen Erzählband Muldental (2014). In beiden Werken setzt sich Krien mit den Schattenseiten der Wende und der Wiedervereinigung auseinander, was vermuten lässt, dass auch bei dieser Jury-Entscheidung die politisch-soziale Relevanz des Textes eine Rolle spielte.
Demgegenüber stand die Ästhetik der Sprache während der letzten Tage der deutschsprachigen Literatur 2015 in Klagenfurt im Vordergrund. Dort präsentierte u.a. Anna Baar einen Auszug aus ihres bereits fertigen Debüts Die Farbe des Granatapfels. Doch trotz der unbestrittenen Virtuosität ihres sprachlichen Ausdrucks konnte sie die Jury für ihren Text nicht begeistern. Denn die Poetik ihres Textes sei für die Juroren „eine Nuance zu schön […], eine Nuance zu geschmackvoll in den Farben, in den Gerüchen, in den Beschreibungen der Früchte.“ Umgekehrt war dies bei Sven Recker, der aus seinem Debütroman Krume Knock Out vorlas. Der Ansatz seines Textes sei gut, aber sprachlich sei er nicht gut genug ausgearbeitet, so die Jury. Während der gesellschaftlich relevante Inhalt beider Texte in der Diskussion zwar eine Rolle spielte, war es dennoch die ästhetische Form, die die negative Kritik der Jury herbeiführte.
Im Hinblick auf die prämierten Werke lässt sich konstatieren, dass die meisten Debütromane eine thematische Aktualität einerseits und ein hohes Maß an Realismus andererseits kennzeichnen, wodurch sich die Präzedenz der inhaltlichen Ebene manifestiert. Daraus folgt jedoch noch nicht, dass im Auswahlverfahren die sprachlich-ästhetische Qualität vernachlässigt wird, denn jedes Stück Literatur muss dann doch ein gewisses Niveau an ästhetischer Form aufweisen, um überhaupt als solche bezeichnet zu werden.
Neben den hochdotierten länderübergreifenden Jury-Preisen gibt es einige lokal ausgetragene und meist an eine Lesung(-sreihe) oder an ein Literaturfestival gebundene Preise. Zu ihnen gehört beispielsweise der Preis des Literaturwerks zusammen mit dem VS Rheinland-Pfalz und Saarland, dessen Bedingung zur Einreichung ein literarischer (auch temporärer) Bezug zu Rheinland-Pfalz oder zum Saarland ist. Der Preis ging im letzten Jahr an den ehemaligen Open-Mike-Gewinner Jens Eisel für seinen ein Jahr zuvor erschienenen Erzählband Hafenlichter, in dem er Geschichten von Männern erzählt, die unter Kommunikationsproblemen hinsichtlich ihrer Gefühle leiden. Der Jury gefiel, dass Jens Eisel in seinem Debüt oftmals nur ein kurzes, stilistisch gut gesetztes Streiflicht auf seine Figuren werfe, was einen Sog bewirke, dem sich die LeserInnen nicht so schnell entziehen könnten. Die Frage danach, ob bei der Jury-Entscheidung die Literarizität des Werkes im Vordergrund stand, oder ob die Jury hiermit die Vorliebe zum emotional turn zum Ausdruck brachte, lässt sich nicht so einfach beantworten. Im Buddenbrookhaus, das in Erinnerung an das erfolgreiche Debüt von Thomas Manns Buddenbrooks einen Debütpreis (2.000 €) verleiht, votierte eine Jury „für den klassischen Roman, der sich mit Vergangenheitsbewältigung, Schuld und Unschuld befasst“, d. h. für Blutorangen von Verena Boos. In Hamburg wurde während des Harbour Front Literaturfestivals Kristine Bilkau für Die Glücklichen mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis (10.000 €) ausgezeichnet. Ähnlich prämierte der Hellertauer Debütpreis (3000 €) einen Roman, der Angst vor einem wirtschaftlichen Abstieg beschreibt, und zwar Lärm und Wälder von Juan S. Guse.
Schließlich gibt es eine ganze Reihe von kleineren auf Unterhaltung abzielenden DebütantInnen-Salons. Als Beispiel hierfür ist der während der Lit.Cologne ausgetragene Silberschweinpreis zu nennen, der jährlich einen Debütanten/eine Debütantin um ein silbernes Sparschwein mit einem goldenen Krönchen und 2.222 € reicher macht. Der diesjährige Träger des Silberschweinpreises ist Sascha Macht, der sich mit seinem Roman Der Krieg im Garten des Königs der Toten „den mündigen Leser wünscht. […] Sascha Macht macht sich die Macht des Absurden zunutze und das macht uns viel viel Spaß“, lautete die von der Jury vorgelegte Begründung zur Einladung des Autors.
Damit ein Roman in Zeiten der begrenzten Marketingmöglichkeiten eine breite Leserschaft gewinnen und in das kulturelle Gedächtnis übergehen konnte, musste er eine zeitlose Vollkommenheit ausstrahlen, die sich gerade aus dem Gleichgewicht von Inhalt und Form konstituierte. Dagegen scheint es in der Gegenwartsliteratur immer häufiger um die kurzlebige Ökonomie der Aufmerksamkeit zu gehen, um das erste Aufblitzen in der Literaturwelt, was nur Werken gelingen kann, die schnell eine mediale wie literarische Präsenz und eine möglichst breite Leserschaft erreichen. Dies führt zu einem neuen Habitus im Schaffensprozess, der unweigerlich an die Gelegenheitsprosa erinnert. Die Debütant*innen widmen sich neben den Standardthemen, wie etwa dem des Erwachsenwerdens, zunehmend Themen, die eine besondere Aktualität aufweisen und Probleme der unmittelbaren Gegenwart behandeln. Der bereits verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki behauptete einst, dass die Weltliteratur aus Debütromanen bestehe. Dadurch jedoch, dass die meisten Debütromane der letzten Jahre allein in der Gegenwart lesbar bleiben, haben sie vielleicht nur begrenzte Chancen, die Probe der Zeit zu überstehen und ihren Platz zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Thomas Mann zu finden.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen