Der Prenzlauer Berg wurde mit Zuckerguss glasiert

Karin Kalisas Debüt „Sungs Laden“ bekämpft Traurigkeit mit Kitsch

Von Emily JeuckensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Emily Jeuckens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das „Fest der Kulturen“ einer Berliner Grundschule verheißt als Setting durchaus Vielversprechendes: kindliche Krisen, elterliches Unbehagen mit aufs Smartphone schielender Langeweile, pädagogische Kraftakte – und dazu der Drahtseilakt der Schulleitung, von veganen Rezepten des Vorstandsvereins und Brandschutzverordnungen gegängelt, eine harmonische Erinnerung zu schaffen. Darüber hinaus noch das Dilemma am Ende der sechsten Klasse vor dem gefürchteten Schulwechsel, das für Panik im bürgerlichen Milieu sorgt – es hätte ein hübsches Dramolett im heißen Berliner Sommer werden können.

Doch im 2015 erschienenen Debüt von Karin Kalisa Sungs Laden wird eine ohnehin unbequeme Situation noch gesteigert: Eine hutzelige Vietnamesin trippelt mit einer riesigen Holzpuppe auf die Bühne und beginnt, die Geschichte des Vietnamkriegs als Volksmärchen zu erzählen – noch dazu aus der verwirrenden Perspektive des Nordens als heldenhaften Underdogs. Während die Lehrer noch nervöse Blicke austauschen, lauschen die Kinder zwischen acht und zehn stundenlang den völkerrechtlich bedenklichen Geschichten der Alten. Wenn sie auch die Konzentrationsfähigkeit von Grundschülern als überraschend ausdauernd einschätzt, präsentiert die Erzählerin hier noch eine moderne, subtile Saga, die zum Schmunzeln über den geopolitischen Blickwechsel anregt.

Im folgenden Sommer spielt der Prenzlauer Berg jedoch noch verrückter als sonst: Soziokulturelle Grenzen fallen, und ein kleines Obstgeschäft wird zum Nabel eines neuen, nun vollständig wiedervereinten Berlins, welches en passant noch das traurige Kapitel der ausgebeuteten DDR-Vertragsarbeiter aufarbeitet. Kalisa kreiert mit Sungs Laden ein scheinbar neues Genre: Die Berlin-Utopie: Ende des Neokapitalismus. Nachbarschaftlichkeit, Kunst und Liebe scheinen deren Maximen zu sein. Doch nicht nur im Sinne einer literaturwissenschaftlichen Genrebestimung gilt es, das Werk vorsichtig kritisch zu betrachten.

Die Autorin (geboren 1965) studierte Asienwissenschaften, Philosophie und Ethnologie und legt nun bei C.H. Beck ihren ersten Roman vor, der – so sagte sie in einem Interview – beweisen soll, dass nicht nur dasjenige Literatur sein dürfe, was sich um das Düstere und Tragische rankt. Und so lag ein als „Toptitel“ gelabeltes, pastellfarbenes, bisweilen als „kleines Wunder“ (SPIEGEL ONLINE, 10.12.2015) beschriebenes Erstlingswerk zu Weihnachten weit oben in den Bestellkörben, so dass es 2016 bereits in 6. Auflage erscheint.

Doch das kleine Wunder ist, abgesehen von der eigenwilligen Sicht auf den Vietnamkrieg, wenig innovativ und in seiner Naivität selten mehr als Kitsch: Wie sich aus der eindrucksvollen Marionette ein Protestsymbol und aus dem Protest wiederum ein Sieg der Amateure über die Berliner Bürokratie entwickelt, ist anstrengend zu verfolgen – wie sich die niedliche Grundschullehrerin im Sommerkleidchen in den mürrischen Marionettenbauer verliebt, ein Zahnarzt aus beseelter Langeweile anfängt, ehemalige Gastarbeiter unentgeldlich zu behandeln und Polizisten auf Streife lieber Mangos als Currywurst essen, wirkt in zahlreichen Aspekten zumindest bemüht. Wenn dann noch Achtjährige ihre Mütter anbetteln, zu Karneval im Kostüm der Puppenspielerin gehen zu dürfen, woraufhin diese Nähkurse belegen und Kegelhüte tragend über den Prenzlberg laufen, stellt sich die Frage, welche Kriterien man an den Roman anzulegen hat, wenn sich die Frage nach Realitätsbezug kategorisch ausschließt.

In wilden Sprüngen verfolgt der Leser nebenbei die traurige, aber auch unmotiviert brutale Familiengeschichte der Sungs: Von der Regierung untersagte Schwangerschaften, Armut, Todesfälle und andere Schicksalsschläge verfolgen die stets freundlichen Obstverkäufer aus Ostberlin, deren jüngster Spross – nach drei Generationen des Unglücks – mit der Organisation des Auftritts der Holzpuppe zum Schulfest endlich einmal das Schicksal der Familie zum Guten wendet. Dass der als brillanter Archäologiestudent porträtierte Familienpatriarch Sung nach dem Tod seines Vaters die Universitätskarriere hinschmeißt, um weiter Obst und Rätselheftchen zu verkaufen, mag merkwürdig erscheinen, aber in der inneren Logik der Familientradition Sinn ergeben. Dass er erst in der Gegenwart des Romans (ebenfalls die Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts) ein Geschäftskonto eröffnet, ist auch im schiefen Realismus des Romans unglaubwürdig.

Ähnliche Beispiele lassen sich in Sungs Laden immer wieder finden – Momente, die irritiert und ungläubig zurücklassen. Doch auch über solche Anekdoten hinaus scheint die Handlung einzig und allein dem zuvor zitierten Diktum der Nicht-Düsternis und Nicht-Traurigkeit verschrieben zu sein: So ernährt sich ein ganzes Viertel plötzlich typisch vietnamesisch (vitaminreich und kalorienarm), Grundschulen und Bezirksregierungen haben auf magische Art und Weise ein vervielfachtes Budget, Arbeitslose finden Jobs in der Kreativbranche, und die Protagonisten liegen sich bei einem spontan realisierten Kulturfest in den Armen.

Es ist durchaus möglich, in Sungs Laden spannende Fragen nach Identität und Nationalität in der Großstadt des 21. Jahrhunderts zu finden. Zum einen wird hier die erfolgreiche Integration der türkischen Gastarbeiter in die BRD fiktional auf die noch im Dunkeln liegende Geschichte der vietnamesischen Vertragsarbeiter übertragen – welche sozialen Gruppen ausgegrenzt und welche aufgenommen werden, könnte sicherlich nicht aktueller diskutiert werden als in diesen Monaten. Zum anderen greift Kalisa einen Diskurs auf, der die Ideale und Ziele der 1968er Bewegung literarisch weiterspinnt: Die politische Symbolfigur Hô-Chì-Min scheint hier als Gespenst durch den friedlichen, sich zu einem internationaleren, gerechteren und harmonischeren Leben zusammenraufenden Prenzlauer Berg zu laufen. Doch diese Aspekte versinken in der sprachlichen und inhaltlichen Unausgewogenheit des Romans, der mitunter den Eindruck der zu hastigen Realisierung eines anspruchsvollen Exposés hinterlässt.

Das junge Genre der Berlin-Utopie scheint es noch schwer zu haben – vielleicht, weil es ein Paradoxon darstellen mag, oder aber, weil es für utopische Visionen in der Hauptstadt doch mehr Ironie und Mut braucht und damit eigentlich genau das, was man von einem Debüt erwarten könnte.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Karin Kalisa: Sungs Laden. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
255 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406681882

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