Offene Fragen in unkonventioneller Form
Ursula Ackrills Debüt „Zeiden, im Januar“
Von Johannes Küssner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin Debüt gilt als ein künstlerischer Anfang, eine erste Präsentation des Werks; man gibt erstmals seine Visitenkarte ab. Im Falle des Romandebüts bedeutet es, dass ein*e Autor*in zum ersten Mal an die Öffentlichkeit tritt und sich den Leser*innen und Kritiker*innen stellt. Der gebürtigen Siebenbürgerin und promovierten Germanistin Ursula Ackrill ist dies mit ihrem Roman Zeiden, im Januar, der 2015 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, eindrucksvoll gelungen. Ein Grund für die Nominierung mag das Sujet des Romans sein. Erzählt wird von den deutschstämmigen Bewohnern in Siebenbürgen im Januar 1941 , wodurch auch an den Anfang der eigenen Biografie der Autorin geführt wird. Die Siebenbürger Sachsen leben in einem Gebiet, in dem sie schon seit Jahrhunderten eine Minderheit der Bevölkerungsgruppen ausmachten. Sei es als Minorität in Österreich-Ungarn oder in Rumänien, immer stellten die sogenannten Rumäniendeutschen eine Randgruppe dar. Nun, im Angesicht des sich ausbreitenden Nationalsozialismus, „brach auch in Siebenbürgen die Sehnsucht nach Heimat und Zugehörigkeit wieder auf.“ Der Wunsch, zu den „Reichsdeutschen“ zuzugehören, wird von den Nationalsozialisten abgelehnt, indem sie die Soldaten der Siebenbürger Sachsen nicht in die Waffen-SS integrieren, sondern den verbündeten rumänischen Truppen zuteilen. Eine Entscheidung, die bei den Rumäniendeutschen auf Unverständnis stößt, weswegen sie ihre jungen Männer heimlich nach Wien transportieren lassen, damit diese dort in die Waffen-SS aufgenommen werden können. Ackrill spricht somit eine historische Tatsache an, welche die Identitätsfrage der Siebenbürger in doppelter Hinsicht kritisch beleuchtet. Zum einen ist es die Sehnsucht nach Anschluss an die herrschende Majorität, obwohl sie in diesem Fall eine verbrecherische Organisation ist, zum anderen erscheint lediglich eine Militäreinheit als identitätsstiftend.
Der Roman erzählt von Einzelschicksalen verschiedener Personen, die sich im Januar 1941 in der kleinen Siebenbürger Gemeinde Zeiden aufhalten. Im Fokus steht die 53 Jahre alte Leontine Philippi. Leontine stammt aus einem reichen Elternhaus in Kronstadt, hat in Wien studiert und schreibt an einer Stadtchronik von Zeiden. Sie lebt alleine im Haus ihres ehemaligen Geliebten, der als gefeierter Pilot und Flugzeugingenieur Zeiden verließ und seit einiger Zeit als vermisst gilt. Leontine ist gebildet, selbständig, emanzipiert und kritisch gegenüber der Euphorie für die deutsche Besatzung eingestellt. Neben ihr wird u. a. von der Rumänin Maria Tatu berichtet, die Leontine als Ziehkind bei sich großzog. Mittlerweile ist Maria eine junge Frau, welche in Bukarest die Schrecken der Judenpogrome miterlebt hat. Franz Herfurth arbeitet als Schularzt in Zeiden. Einst mit Leontine befreundet, hat er sich inzwischen von ihr abgewandt. Er untersucht die Zeidner SS-Rekruten. „Besser sie sollen treten, als getreten werden“ lautet seine Antwort auf Leontines Frage, ob er sich im Klaren darüber sei, „dass sie der ideologischen Armee übergeben werden“. Leontine erscheint als einsame Mahnerin vor dem Schulterschluss mit dem NS-Regime, die anderen Zeidner stellen sich einerseits als blinde Opportunisten, wie im Falle von Franz Herfurth, oder als unaufgeklärte Mitläufer, wie beispielsweise Maria Tatu oder die Apothekerin Edith Reimer, dar. Der Wunsch nach Zugehörigkeit treibt die Siebenbürger Sachsen in die Arme des Nationalsozialismus, einzig Leontine Philippi wehrt sich gegen die Ideologien und den Antisemitismus der Deutschen, gerade weil die Rumäniendeutschen eine Minderheit darstellen. „Wären wir in Deutschland, könnten wir in Sachen Antisemitismus ohne Vorlage alles mitmachen, wir wären eins mit der breiten Masse […]. Hier in Siebenbürgen ist das nicht so einfach: […] Nicht die Juden und Zigeuner, die haben uns nichts getan, die hatten nie das Sagen über uns. Wir sind eben selbst eine Minderheit, und wer auch immer politisch am Zug ist, kann uns leicht unter Druck setzen, weil wir so anders sind,“ entgegnet Leontine dem Volksgruppenführer. Doch die Siebenbürger Sachsen zeigen, dass sie durch ihre Erfahrung, eine Minorität darzustellen, nicht sensibel gegenüber den Geschicken anderer ethnischer Gruppierungen geworden sind. Vielmehr versuchen sie die erste Gelegenheit zu nutzen, um sich der Mehrheit anschließen zu können und dadurch die Rolle des Getretenen mit der des Tretenden einzutauschen. Letztlich bleibt Leontine nur die Flucht aus Zeiden, ihre Warnungen bleiben unbeachtet. Zusammen mit den Rekruten passiert sie heimlich die Grenze und lässt Zeiden im Januar 1941 zurück.
Nicht nur was erzählt wird, sondern vor allem wie es erzählt wird, macht Zeiden, im Januar zu einem durchaus mitreißenden Leseerlebnis. Die Sprache, die manchmal etwas manieriert erscheint, weiß zu überraschen: Ein häufiger Gebrauch von Fremdwörtern wie beispielsweise „klandestine Rekrutierungen“ oder eigenwillige Redewendungen wie etwa „der Kakao soll Ihnen so lange nachwehen, dass niemand mehr aufmacht, wenn Sie klopfen“ stellen die Leser*innen vor Herausforderungen, die durch eine oftmals elliptische und unkonventionelle Syntax noch verstärkt werden. Darüber hinaus fordert die Strukturierung des Romans eine genaue und aufmerksame Lektüre. Zeiden, im Januar ist in vier Teile gegliedert, diese sind wiederum in etliche Abschnitte unterteilt. Die Geschehnisse werden anachronistisch erzählt, hinzu kommen zahlreiche Perspektiv- und Ortswechsel. Die einzelnen Abschnitte verfügen dabei über Paratexte, die den Rezipienten teils minutiöse Zeit und Ortsangaben bieten. Sprunghaft und schlaglichtartig geht es durch verschiedene Städte, Gedanken und Jahrzehnte, so dass diffuse, aber faszinierende und facettenreiche Bilder von beispielsweise dem „Zeidner Rathaus Dienstag, 21. Januar 1941, 17.23 Uhr“, dem „Weiße[n] Turm an Kronstadts Wehrmauer Sonntag, 1. September 1913, 11 Uhr“ oder „Oskar Bricks Geschäft in Lipscani, Bukarest Sonntag, 19. Januar 1941, 15.54 Uhr“ entstehen können. Jedes Bild wird allerdings schon im nächsten Absatz von einem anderen abgelöst. Der formale Aufbau des Romans imitiert einerseits chronikales Erzählen und stellt somit eine inhaltliche Beziehung zu der Chronistin Leontine her; andererseits wird durch die vielen Perspektiv-, Orts- und Zeitwechsel mit dieser Erzählweise gebrochen. Fixpunkt dieses Parcours ist der 21. Januar 1941 in Zeiden. Von allen Tagen wird dieser am häufigsten und detailliertesten geschildert. Es ist der Tag, an dem die Bewohner von Zeiden sich endgültig für die Nationalsozialisten entscheiden und Leontine genötigt wird zu fliehen. Der innerhalb der Narration letzte Abschnitt ist der vierte Teil, welcher sich allerdings am Beginn des Buches befindet. Man beginnt demnach mit dem Ende des Romans. Leontine, versteckt in einem Eisenbahnwagon mit den Rekruten, erzählt diesen eine Geschichte, welche man als Allegorie für die Rumäniendeutschen lesen kann. Der Paratext liefert lediglich das Adverb „nachher“, was einen Kontrast zu den genauen Zeitangaben der anderen Abschnitte bildet und auf die noch zu erzählenden Geschehnisse der kommenden Teile rekurriert. Diese paradox anmutende Konzeption bewirkt, dass man nach der letzten Seite des Romans wieder zum Anfang blättert, um den letzten Teil zu lesen. Beim abermaligen Lesen fällt einem jedoch auf, dass die Allegorie nicht aufgeht, da diese im Gegensatz zu den Geschehnissen in Zeiden eine Lösung präsentiert. Zusammen mit dem Siebenbürger Rekruten möchte man fragen: „Kann mir jemand erklären, was die Geschichte zu bedeuten hat?“ Doch Ackrills Roman scheint es nicht daran gelegen zu sein, Antworten zu finden, sondern vielmehr Fragen zu stellen. Fragen über den Wert und die Bedeutung von Heimat, über Zugehörigkeit, über den Umgang von Majoritäten mit Minoritäten und letztlich die Frage nach den moralisch richtigen Handlungen in Ausnahmesituationen. Somit wirft Zeiden, im Januar im Kontext des Zweiten Weltkriegs Fragen auf, die an Aktualität nichts eingebüßt haben.
Ursula Ackrill legt ein Romandebüt vor, dass dank seiner Thematik und besonders der sprachlichen Versiertheit diejenigen Leser*innen begeistern wird, die Freude am ungewöhnlichen und kunstvollen Sprachgebrauch haben. Zeiden, im Januar weckt zum einen die Vorfreude auf weitere Romane von Ackrill, zum anderen ist es ein Roman, der nach der ersten Lektüre nicht direkt im Bücherregal landet, sondern erst den Weg zum Schreibtisch findet. Man fühlt sich nach dem erstmaligen Lesen genötigt, Papier und Stift zu nehmen und die einzelnen Abschnitte in eine neue zeitliche oder räumliche Reihenfolge zu bringen. Zeiden im Januar ist ein Roman, der wiedergelesen werden will, wegen seiner offenen gebliebenen Fragen und seiner unkonventionellen Form.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen