Rainer Werner Fassbinders Aktualität

Ein von Michael Töteberg herausgegebener Sammelband befasst sich mit der Relevanz des Filmemachers für die Gegenwart

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2015 hätte Rainer Werner Fassbinder seinen 70. Geburtstag gefeiert, im Jahr 2017 wird man seinen 35. Todestag begehen. Es sind oftmals diese Jubiläen, die die Lebensleistung von Prominenten, gleich welcher Art, wieder in Erinnerung rufen, weil sie durch mediale Ereignisse begleitet werden, welche nicht nur Erinnerung schaffen, sondern zugleich Ehrung, kritische Reflexion, ja auch Versuch der Dekonstruktion und Entmythisierung, aber auch der Glättung und Schönfärberei sein können.

Zum 70. Geburtstag wurde Fassbinder eingehend gewürdigt: Unter anderem gab es die Fassbinder-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau, eine neue Kino-Dokumentation von Annekatrin Hendel; es erschien eine Neuausgabe des Bandes „Im Land des Apfelbaums“ mit Gedichten und Prosastücken Fassbinders, zudem fanden zahlreiche Filmnächte in renommierten Kinos mit illustrem Publikum statt, im Inland wie im Ausland.

Zu Lebzeiten war Fassbinder umstritten, er polarisierte. Die einen sahen ihn als Drogen konsumierenden Provokateur, der, vor allem in den 1970er-Jahren, geschmacklose und moralisch verwerfliche Schundfilme produzierte, in denen nackte Darsteller durch die Szenerie huschten (häufig Hanna Schygulla), Genitalien zu sehen waren oder Gewaltszenen präsentiert wurden. Man warf ihm vor, dass er durch einen linksreaktionären, destruktiven Blick die bürgerliche Welt und ihr wertkonservatives Koordinatensystem rücksichtslos diskreditierte. Die anderen sahen in Fassbinder den besessenen Film-Nerd, der ab 1969 in dreizehn Jahren mehr als 40 Filme veröffentlicht hatte, der dem deutschen Film nach Kriegsende endlich wieder Gewicht und Aufmerksamkeit verschaffte und der trotz aller Kontroversen und Irritationen Filmpreise einsammelte – und auch ablehnte. Für Fassbinder-Protagonisten bestand dessen Genialität – vor allem im Frühwerk – darin, mit minimalistischen Inszenierungen, eigenwilligen Kameraeinstellungen und geschicktem Lichteinsatz eine verstörende Atmosphäre zu schaffen, in der er sein Kernsujet, stets variierend, aber doch immer auf ihn selbst verweisend, inszenieren konnte: die Fragilität, die Korrumpierbarkeit und die Ausbeutbarkeit menschlicher Gefühle sowie die zum Scheitern verurteilten menschlichen Beziehungen unter wechselnden gesellschaftlichen Umständen.

Heute gehört Fassbinders Werk, nicht nur seine Filme, sondern ebenso seine Dramen, zum Kanon des deutschen Films und der modernen deutschen Bühnenliteratur. Zweifellos schrieb er mit seinen nicht immer einfach zugänglichen, gesellschaftskritischen Regiearbeiten wie „Berlin Alexanderplatz“ (1980), „Angst essen Seele auf“ (1973) und „Die Ehe der Maria Braun“ (1978) Filmgeschichte. Regisseure wie Martin Scorsese, Pedro Almodóvar oder Christoph Schlingensief bezogen oder beziehen sich direkt auf ihn. Der einstige Bürgerschreck ist postum zur sakrosankten Autorität, zum Denkmal seiner selbst geworden. Seine widersprüchliche und zugleich faszinierende Persönlichkeit, sein umfassendes und auf vielen Ebenen ebenso vielschichtiges wie disparates Werk verdichteten sich durch seinen frühen Tod in einem rockstarhaften Mythos, der ihn in die Reihe der Live-fast-die-young-Protagonisten wie Jimi Hendrix, Jim Morrison oder auch James Dean brachte.

Pünktlich zu den Fassbinder-Jubiläen ist ein in der Reihe edition text+kritk erschienener Sammelband verfügbar, der sein Werk unter medienwissenschaftlichen Aspekten mit Fokus vor allem auf weniger bekannte Filme und Bühnenstücke untersucht. Das von Michael Töteberg herausgegebene Buch ist Neuauflage eines Bandes, der 1989 erstmalig erschien. Hierbei handelt es sich nicht um eine lediglich überarbeitete Neuausgabe. Alle Beiträge sind neu, so dass die vermeintliche Neuauflage als eigenständiger Band einzustufen ist. Die ursprüngliche Ausgabe konzentrierte sich in ihren Beiträgen, ganz im Fahrwasser der frühen Fassbinder-Rezeption, hauptsächlich auf Aspekte zur Alfred Döblin-Verfilmung „Berlin Alexanderplatz“, und damit auf die Phase, in der Fassbinder den Anschluss an die deutsche, kommerzielle Fernsehunterhaltung gefunden hatte, oder auf Fassbinders wohl kontroversestes Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ (1975), welches ihm den Vorwurf des Antisemitismus einbrachte und das erst im Jahr 2009 am Theater an der Ruhr in Mühlheim seine Uraufführung erlebte.

Michael Töteberg kann als Publizist der Schriften Fassbinders im Verlag der Autoren, Verfasser verschiedener Aufsätze zum Regisseur und als Autor der Fassbinder-Biographie in der Reihe „rowohlts monographien“ eine breite Expertise zum Filmemacher vorweisen. Töteberg steuert einen eigenen Beitrag zum Band bei, in dem er sich mit den zeitgenössischen Theaterinszenierungen der Fassbinder‘schen Stücke beschäftigt: Gerade in diesen sei Fassbinder immer noch lebendig, wobei auffalle, dass zeitgenössische Inszenierungen sich weniger an den ursprünglichen Textideen orientierten, sondern eher Adaptionen der Filmvorlagen seien. Dennoch: „Die Filme altern, Theater dagegen ist stets Vergegenwärtigung“; es scheint, „als würde das Nachdenken über Fassbinder-Filme derzeit vor allem auf der Bühne stattfinden.“

Eine andere Aktualität zeigen Senta Siewert oder Chris Tedjasukmana auf. Während sich Siewert mit Bezügen des filmischen Werks vom zeitgenössischen Regisseur Fatih Akin auf Fassbinders Film „In einem Jahr mit 13 Monden“ (1978) beschäftigt, sieht Tedjasukmana die Aktualität vor allem darin, dass Fassbinder, losgelöst vom zeithistorischen Kontext, „universalistische Erzählungen von der Gefühlsausbeutung aller“ und damit universell gültige Projektionsflächen für Prozesse der Identifikation und Empathie biete. Diesen Grundthemen spüren auch Karl Kröhnke und Werner C. Barg nach. Während Kröhnke sich auf den weniger bekannten Film „Bolwieser“ (1976) konzentriert und Fassbinders Anliegen in der „Kernhandlung um Ehebruch, provinzielle Fama und Intrige“ herausarbeitet, zeigt Barg die rekurrierenden und zeitlos gültigen Fassbinder-Themen „Angst vor der Endlichkeit, Verzweiflung, Destruktion, die Suche nach einer neuen Bewegung im Leben“ im Film „Despair – Eine Reise ins Licht“ (1978) auf, den er als „vergessenes Meisterwerk“ bezeichnet. Der mit großem Budget und mit internationalem Aufgebot gedrehte Film erhielt allerdings beim Film-Festival von Cannes 1978 nur verhaltene Reaktionen und ist als Wendepunkt im Schaffen Fassbinders zu sehen, der sich darauf auf filmästhetische und inszenatorische Ansätze, die in „Die Ehe der Maria Braun“ (1978) angelegt waren, konzentrierte.

Das Scheitern von Beziehungen und die Verletzlichkeit von Gefühlen zeichnete Fassbinder dabei auch in homosexuellen Beziehungen nach. Für ihn, so Volker Woltersorf, war Homosexualität kein Minderheitenthema; homosexuelle Beziehungen waren für ihn mit heterosexuellen insofern auf einer Ebene angesiedelt, als dort „dieselben Unterdrückungsmechanismen“ angewandt würden. Dies brachte Fassbinder die scharfe Kritik der zeitgenössischen Schwulen- und Lesbenbewegung ein.

Fassbinder hatte filmisch gesehen viele, auch überraschende Vorlieben. So war er ein Bewunderer des Hollywood-Kinos, auch wenn der schlichte Grundplot des „Boy meets girl, boy gets girl“ inklusive Happy End so gar nicht zu seiner pessimistischen Grundhaltung menschlichen Gefühlen gegenüber passen wollte. Johannes Binotto verweist in diesem Zusammenhang auf zwei Enden des Films „Mutter Küsters‘ Fahrt zum Himmel“ (1975), die Fassbinder umgesetzt hatte. Beide, jenes mit Happy End, das andere ohne, seien jedoch bewusst gekünstelt, so dass das Happy End als ernst zu nehmender Filmschluss konterkariert wird, womit sich Fassbinder „der Chronik des Scheiterns“ treu bleibe und unterschwellig das Happy End als bloße Lüge entlarve.

Die Ausflüge in das kommerzielle, breitenwirksame Filmgeschäft kulminierten in „Berlin Alexanderplatz“, Fassbinders Opus magnum, das in dreizehn Teilen im Fernsehen gezeigt wurde. Die Alfred Döblin-Verfilmung, die ihm viele Jahre vorschwebte, war für Fassbinder im Kern die Zuneigungsgeschichte zweier Männer. Alexandra Vasa untersucht hier die zeitlos gültigen Prinzipien der kapitalistischen Gesellschaft, in der einer dominierenden Geldökonomie zufolge „alles zur Ware oder zum Tauschobjekt werden kann.“

Auf die breitenwirksame Fernsehunterhaltung zielte Fassbinder allerdings vorher schon mit der Fernsehserie „Acht Stunden sind kein Tag“ (1972), in der er die Figuren, allerdings ohne einen dezidierten Standpunkt einzunehmen, „am eigenen Leib die ökonomische und menschliche Komplexität des Arbeitslebens erfahren“ lässt, worin sich nach Michael Grisko „sozialutopisch geprägte Haltungen“ manifestieren. Georg Klein weist dagegen auf die „schwankende Konsistenz von Fassbinders Realismus-Konzept“ im Fernseh-Zweiteiler „Welt am Draht“ (1973) und die Schwierigkeiten einer unbedarften Rezeption hin. Die grundlegende künstlerische Position Fassbinders zeichnet Ilka Brombach nach, welche die ungebrochene Attraktivität der Filme Fassbinders auch darin sieht, dass sich die vielbeschworene Künstlichkeit der Filme im Brecht‘schen Gestus der Verfremdung bewege und damit einen traditionsreichen literarischen und filmischen Ästhetizismus pflege.

Skeptisch äußerst sich Manfred Hermes im letzten Beitrag zu den Ereignissen rund um die Fassbinder-Jubiläen. Sie würden der Vielschichtigkeit des Fassbinder‘schen Werks nicht gerecht, da sie „älteste Gemeinplätze und flachste Lesarten noch einmal in den Rang von Wahrheiten“ erheben. Nach Hermes gibt es zu wenig kritische Reflexion und zu viel Nivellierung. Somit werde für einen „zweiten Tod von RWF“ gesorgt.

Im Anschluss an den Beitragsteil bietet der Band kurze biografische Skizzen der Beitragsverfasser sowie eine Zeittafel, welche die wichtigsten biografischen und werkgeschichtlichen Stationen Fassbinders präsentiert. Das umfassende Literaturverzeichnis ist auch deshalb von hohem Gebrauchswert, weil es die Sekundärliteratur nach einzelnen Filmen Fassbinders aufführt und somit gezielt Hinweise für weiterführende Lektüre bietet.

Der Sammelband gibt einen aufschlussreichen Einblick in die Aktualität Fassbinders, indem die Grundmotive der Zerstörbarkeit und Ausbeutbarkeit menschlicher Gefühle und das immerwährenden Scheiterns menschlicher Beziehungen vor allem in eher randständigen Arbeiten Fassbinders, aber auch sein Einfluss auf die heutige Filmszene aus unterschiedlichen Perspektiven gut nachvollziehbar nachgezeichnet werden. In diesem gelungenen Band zumindest stirbt Fassbinder definitiv nicht den von Manfred Hermes konstatierten „zweiten Tod“.

Titelbild

Michael Töteberg (Hg.): Rainer Werner Fassbinder. Zweite Auflage: Neufassung.
edition text & kritik, München 2015.
150 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783869164366

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