Mit Hamlet betrat erstmals der neuzeitliche Mensch die Theaterbühne

Eine Betrachtung zum 400. Todestag von William Shakespeare

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Unter den 38 Dramen und Komödien von William Shakespeare nimmt die Tragödie „Hamlet – Prinz von Dänemark“ (vermutlich um 1600–1601 entstanden) eine Sonderstellung ein. Sie behandelt philosophische Probleme der menschlichen Existenz und ist zugleich ein äußerst populäres Stück. Darüber hinaus unterscheidet sie sich durch ihre Länge von den anderen Stücken. „Hamlet“ ist mit sechs Stunden so lang, dass es als einziges Shakespeare-Drama auf der elisabethanischen Bühne nicht spielbar war. Das Stück basiert auf einer überlieferten Sage des altdänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus (circa 1150–1220). Auch über eine frühere Variante (vor 1589), den sogenannten „Ur-Hamlet“ des englischen Dramatikers Thomas Kyd (1558–1594), wird immer wieder spekuliert.

„Hamlet“ ist das persönlichste von Shakespeares Dramen. Keines seiner Werke ist enger mit seinem Namen verknüpft als dieses. Die Handlung ist schnell geschildert: Prinz Hamlet ist von der Universität Wittenberg nach Hause an den dänischen Königshof geeilt, um dem Begräbnis seines gleichnamigen Vaters beizuwohnen, der angeblich an einem Schlangenbiss gestorben ist. Doch seine Mutter ist bereits mit dem Thronnachfolger Claudius verheiratet. Hamlet verurteilt diese hastige Eheschließung. Da erscheint ihm der Geist seines Vaters, der ihm offenbart, dass er von seinem Bruder Claudius heimtückisch ermordet wurde. Er fordert seinen Sohn zur Rache auf, die Mutter aber zu schonen – was Hamlet auch gelobt.

Anstatt jedoch die Tat zügig anzugehen, legt der Held ein absonderliches Verhalten an den Tag, auch gegenüber seiner Geliebten Ophelia. Zur Tarnung seiner Rache mimt er den Wahnsinnigen, um die Zeit, die „aus den Fugen“ sei, wieder „einzurichten“. Alle glauben, Hamlet leide an Liebeswahn. Um hinter seine wahren Gedanken und Absichten zu kommen, bittet das verunsicherte Königspaar zwei alte Freunde Hamlets, Rosenkranz und Güldenstern, an den Hof. Doch Hamlet gibt sich weiterhin undurchschaubar.

Als eine Schauspieltruppe an den Hof kommt, spielt sie auf Hamlets Wunsch die Ermordung seines Vaters. Durch seine betroffene Reaktion verrät sich König Claudius als Mörder. Jetzt hat Hamlet Gewissheit von der Schuld seines Onkels und die Ereignisse überschlagen sich. Bei einer Aussprache mit seiner Mutter tötet Hamlet sein eigentliches Opfer verwechselnd Ophelias Vater, den intrigierenden Oberkämmerer Polonius. Claudius will Hamlet endlich aus dem Weg schaffen und schickt ihn nach England, wo er getötet werden soll. Doch dieser durchschaut die Intrige und kehrt nach Dänemark zurück. Hier ist inzwischen Ophelia gestorben. Ihr Bruder Laertes ist ebenfalls an den dänischen Hof gekommen und will den Tod von Vater und Schwester rächen. In Claudius findet er einen Verbündeten. Schließlich kommt es zu einem angeblich friedlichen Fechtwettkampf zwischen Laertes und Hamlet, der erst jetzt zum Kämpfer und Vollstrecker wird. Aber das Finale endet mit dem ‚großen Sterben‘ aller beteiligten Hauptpersonen. In den Armen seines besten Freundes Horatio bleiben Hamlet nur seine letzten Worte „Der Rest ist Schweigen“.

Die Tragödie des Dänenprinzen Hamlet hat seit ihrer Uraufführung 1601 in London zu immer neuen Auslegungen herausgefordert. Sie ist ein offenes Kunstwerk, dessen Deutung und Tiefe bis heute für jede Zeit neu bestimmt wird. Vor allem in Deutschland wurde die Gestalt Hamlets populär, sie galt lange Zeit als ideale Verkörperung deutschen Wesens. Christoph Martin Wielands Übersetzung (1766) machte das Stück auf deutschen Bühnen heimisch. Nachdem Johann Wolfgang von Goethe es in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ (1775) einer ersten eindringenden Analyse unterzog, sahen die Dichter des Sturm und Drang in Hamlet einen Bruder des Selbstmörders „Werther“, später wurde er zum passiven „Faust“, zu einer Verbindung von „Genie und Wahnsinn“. Während Arthur Schopenhauer den Dänenprinzen als genialen Pessimisten bezeichnete, zählte Friedrich Nietzsche ihn zu den freien Geistern, „welche verbergen und verleugnen möchten“. Weiter über Freiligraths Vormärz-Gedicht „Deutschland ist Hamlet“ (1844) und Sigmund Freuds Deutung (1900) von Hamlets Verhalten als Verdrängung seiner ödipalen Wunschfantasien bis zu Heiner Müllers monologischem Prosatext „Hamletmaschine“ (1979) ist Hamlet zur Projektionsfläche deutscher Selbstbespiegelung geworden. Keine andere Theaterfigur hat mit ihrer Gedankenverlorenheit und Grübelei das deutsche Gemüt so bewegt: der tiefsinnige Hamlet als träumerischer Michel. Oder wie es der Kritiker Ludwig Börne drastisch, jedoch treffend ausdrückte: „Hätte ein Deutscher den Hamlet gemacht, würde ich mich gar nicht darüber wundern. Ein Deutscher brauchte nur ein schöne, leserliche Hand dazu. Er schreibt sich ab, und Hamlet ist fertig.“

Hamlet, der Zauderer, der Versager, der Aussteiger, der Intellektuelle, der im deutschen Wittenberg vor lauter Denken das Handeln verlernt hat und der in großen Monologen über das Leben und die Unbilden seiner Zeit philosophiert. Es sind jedoch keine reinen Selbstgespräche, neben den Einblicken in sein Inneres stellen sie auch einen unmittelbaren Kontakt zum Publikum her. In diesen Momenten hält die Handlung inne und der Zuschauer erlebt einen völlig anderen Prinzen. Neben der dramatischen Handlung sind es diese Selbstzweifel, die gefangen nehmen. Hamlets Denken und die von ihm geforderte Rache lassen sich nicht vereinen. Das ist die ganze Tragik.

Die Vielgestaltigkeit der Figur – Rächer und Zweifler – ist vielleicht das Ergebnis der unterschiedlichen Vorlagen, die Shakespeare aufgegriffen und überarbeitet hat. Gerade dieses Spektrum des innerlich zerrissenen Hamlets hat wie keine andere Literaturfigur Regisseure, Schauspieler und Zuschauer herausgefordert. Das liegt wohl daran, dass wir keine andere Figur kennen, die uns mehr zur Anteilnahme, ja zur Identifizierung drängt: „Wir kennen diesen Hamlet, wie wir unser eignes Gesicht kennen, das wir so oft im Spiegel erblicken und das uns dennoch weniger bekannt ist, als man glauben sollte.“ (Heinrich Heine). Über kein anderes Werk ist so intensiv nachgedacht, so viel spekuliert und so viel geschrieben worden. An der Enträtselung des Stückes und seines Titelhelden haben sich immer wieder Literaturwissenschaftler, Dichter und Philosophen, ja auch Psychoanalytiker versucht.

William Shakespeare hat mit seinem „Hamlet“ ein Stück Weltliteratur und eines der meistgespielten Theaterstücke geschrieben. Es ist blutige Tragödie, beklemmendes Psychogramm oder existentialistisches Drama – sein sensibler Held ein zaudernder Intellektueller oder einfach nur ein überforderter junger Mann, der nicht nur an dem Racheauftrag seines Vaters, sondern auch an der selbstgestellten Aufgabe, die „aus den Fugen geratene Zeit“ wieder einzurenken, jämmerlich gescheitert ist. Der Zuschauer hat die Wahl.

Mit Hamlet betrat erstmals der Mensch der Renaissance, ja der Neuzeit, die Theaterbühne. Dieser Hamlet, das moderne Individuum, birgt etwas Unaussprechliches, was unsere neuzeitliche Subjektivität widerspiegelt. Auch sein Bemühen, die Wahrheit seiner unsicheren Umgebung ständig zu prüfen, entspricht den Bestrebungen der modernen Zivilisation. Er stellte die Seinsfragen der Menschheit, die Fragen nach Freiheit, Ausweglosigkeit, Charakter, Liebe, Schicksal, Schuld und Sühne. Hamlet ist der Mensch; Du und ich. Jeder von uns ist im erhabenen oder im lächerlichen Sinne ein Hamlet, mehr oder weniger.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 17.5.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.