Ein unverzichtbares Handbuch bringt Licht ins Dunkel

„Literatur- und Kulturtheorien in der germanistischen Mediävistik“ beleuchtet 15 verschiedene Theorieansätze

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Turns, welcher Art auch immer, Kultur- und Literaturtheorien, deren Berufung aufeinander und Genese aus älteren Ansätzen, bieten gerade für Studienanfänger – aber auch für Fortgeschrittene in allen germanistischen Literaturteildisziplinen – ein schier unüberschaubares Dickicht, das sich kaum noch bewältigen und aufarbeiten lässt. Abhilfe schaffen will das bei DeGruyter erschienene Handbuch, das eine Vielfalt von Theorien in einzelnen Beiträgern bietet.

Fünfzehn unterschiedliche Theorien werden durch fünfzehn unterschiedliche Beiträger und Beiträgerinnen beleuchtet: Beginnend mit der Diskursanalyse, der Editionsphilologie, Emotionsforschung und den Gender Studies setzt sich die Liste fort mit der historischen Anthropologie, historischen Metaphorologie und Narratologie sowie der Intertextualität, um sich dann der kritischen Heteronormativitätsforschung/den Queer Studies, der Medialität, dem New Historicism und der Performativität zu widmen. Den Abschluss bilden Kapitel zur psychoanalytischen Literaturwissenschaft, dem spatial turn und der Systemtheorie.

Im Großen und Ganzen ist der Aufbau der Beiträge insofern gleich, als dass sie sich aus drei großen Teilen zusammensetzen: In einem ersten Teil werden die theoretischen Ansätze vorgestellt, in einem zweiten Teil erfolgt eine Musteranalyse eines mittelalterlichen Texts. Der dritte Teil besteht aus einem umfassenden Literaturverzeichnis, das zum Weiterlesen wichtige Hinweise liefert. Gerade der zweite Teil erweist sich als besonders hilfreich, da diese Interpretationen als praktische und durchweg gelungene und anschauliche Beispiele gelten können, die die Theoreme demonstrieren und ihre Schwerpunkte und Anwendbarkeit anhand von Texten, die alle Gattungen abdecken, illustrieren. Zu der Textauswahl gehören ‚Klassiker‘ der älteren deutschen Literatur wie „Tristan“ oder das „Rolandslied“. Aber auch weniger bekannte Texte, wie religiöse Spiele oder „Das fließende Licht der Gottheit“, mit denen Studierende nicht unbedingt in Berührung kommen, werden betrachtet und zeigen so auch eindrucksvoll die Vielfalt der mittelalterlichen Literatur.

Die Einführungen zu den einzelnen Theorien sind von unterschiedlicher Qualität, die sich besonders in der Komplexität des Ausdrucks zeigt. Explizit bereits im zweiten Satz des Vorworts werden als primärer Adressatenkreis Studierende genannt. Inwiefern manche der einführenden Texte für Bachelor-, aber auch Masterstudierende nicht schlicht zu schwer sind, muss offen bleiben, liegt aber durchaus im Bereich des Möglichen. Dies wird allerdings teilweise kompensiert durch das recht umfangreiche Glossar, das in kurzer Form die wichtigsten Termini verständlich definiert.

Ein weiterer Kritikpunkt des Handbuchs ist der Preis. Fast einhundert Euro kostet der umfangreiche Band, der sein Geld auf jeden Fall wert ist. Zugleich muss man sich aber auch fragen, welche Studierenden sich dieses Handbuch leisten können und wollen. Daher ist es vermutlich zu einer reinen Existenz in den Bibliotheken verdammt und wird sich nicht als das Hilfsmittel erweisen, das es eigentlich sein sollte.

Die Auswahl der Theorien hingegen ist gelungen, da die vorgestellten Ansätze auch durchaus Erträge in der germanistischen Mediävistik versprechen. Kulturtheorien, die für die Mediävistik unter Umständen schwieriger zugänglich sind, wie Überlegungen zu cultural memory, werden ausgespart, was wohl dem Adressatenkreis geschuldet und daher durchaus sinnvoll ist.

Insgesamt erweist sich das Handbuch als ein wichtiges Werkzeug, das nicht nur Licht in das Dunkel der Vielzahl von Theorien bringt, ihre Verbindungen untereinander, Beeinflussungen und Weiterentwicklungen zeigt, sondern auch ihre praktische Anwendbarkeit auf mittelalterliche Texte mit all ihrer Alterität deutlich macht. So erweist sich der Band nicht nur für Mediävisten als sinnvolle Anlaufstelle, sondern kann allen Studierenden welcher Literatur auch immer, sowie Studierenden der Kulturwissenschaften eine wertvolle Hilfe sein, um sich einen Überblick über die Entwicklung der Disziplinen im 20. Jahrhundert zu verschaffen und einen Eindruck der einflussreichsten Theorien zu bekommen, die eben nicht nur in der Mediävistik weiterwirken, sondern dort oftmals stiefmütterlich behandelt werden. Gerade dies wird in diesem Band besonders deutlich: Während sich unter anderem der spatial turn als ein sehr fruchtbarer Ansatz in der (germanistischen) Mediävistik erwiesen hat, haben andere Ansätze, wie die Psychoanalyse, mit teilweise großen Widerständen zu kämpfen gehabt, so dass dort vielerlei Desiderate aufzuarbeiten sind. In diesem Sinne bietet das Handbuch nicht nur eine einfache Übersicht und den Beweis der Anwendbarkeit von Literatur- und Kulturtheorien auf mittelalterliche Texte, sondern eröffnet ebenfalls Perspektiven für neue Denkansätze.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Christiane Ackermann / Michael Egerding (Hg.): Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch.
De Gruyter, Berlin 2015.
553 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783050059600

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