Vernetzung der Welt im Erzählen
Alexander Kluge schreibt eine Chronik magischer Zusammenhänge
Von Simon Trautmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNun schlägt Kongs große Stunde. Wie die Jetztzeit nach Walter Benjamin als gewaltige Zusammenfassung der gesamten Menschheitsgeschichte begriffen werden kann, so ist auch der Riesenaffe Kong in Alexander Kluges jüngstem Erzählprojekt eine zentrale Reflexionsfigur für die historische Entwicklung des Menschen, die immer wieder von naturhaften Gewalten heimgesucht wird. Als 2012 Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe. 402 Geschichten erschien, fand die von Kluge vor 15 Jahren mit der Chronik der Gefühle begonnene Erkundung subjektiver Gefühlswelten, die sich im Horizont einschneidender historischer Erfahrungen öffnen, einen Abschluss. Ihr stellt der Autor mit seiner Chronik des Zusammenhangs nun in mehr als 500 Texten weltumspannende, Zeiten und Räume durchdringende Verbindungslinien entgegen.
Auf dem Schuber des Bandes ist ein Filmplakatmotiv von John Berkey abgedruckt: Jene Schlüsselszene aus King Kong (1976), in welcher der gleichnamige Affe mit einer weißen Frau im Arm das World Trade Center hinaufklettert. Auf der Suche nach Ölvorkommen im Südpazifik wurde der Riesenaffe von einer amerikanischen Firma gefangen und sollte in New York eigentlich gewinnbringend vermarktet werden. Dem heutigen Betrachter drängen sich unverzüglich Bilder von 9/11 beziehungsweise dem internationalen Terrorismus auf. Aber auch langwellige historische Ereignisse wie Kolonialismus und Sklaverei werden durch das Motiv vergegenwärtigt und zugleich in ein anderes Licht gerückt. Damit erscheint das Filmplakat als ambivalenter Erinnerungsträger, der wiederum mit Benjamin als dialektisches Bild gefasst werden kann. Spürbar verdichtet sich Kluges Poetik in dieser Darstellung: Vergangenheit und Gegenwart treffen in einer schockartigen Konstellation aufeinander. Über historische Kausalitäten hinausgehend wird die Gegenwart dabei erst im Verhältnis zu einer bestimmten Vergangenheit verständlich. Vielmehr noch entsteht die Vergangenheit durch perspektivische Deutungen fortlaufend neu. Als Telescopage bezeichnet Walter Benjamin im Passagenwerk dieses Prinzip der Interpretation der Vergangenheit durch die Gegenwart.
Ebenso konstelliert Kluge in seinem Buch disparates Bildmaterial: zoologische und paläontologische Darstellungen, Felszeichnungen, Film-Stills, Illustrationen, Porträtmalereien von Napoleon, Heinrich von Kleist oder Baruch de Spinoza, Diagramme und Grafiken, historische Fotografien aus Kriegszeiten, private Schnappschüsse aus dem Familienalbum sowie künstlerische Arbeiten von Zeitgenossen wie Anselm Kiefer und Gerhard Richter. Neben Benjamins Passagenwerk kann hier gewiss auch Aby Warburgs beeindruckender Bilderatlas Mnemosyne, der sich dem Nachleben vergangener Kulturen widmet, als Vorbild gelten. Entsprechend breit sind auch die Themen der zwölf Abschnitte des Bandes gestreut; die assoziativen Kapitelüberschriften lassen keine linear-logische Abfolge erkennen: „Totenbuch für etwas, das ich liebe“, „Arztgeschichten“, „Falten auf Kongs Nase, unverwechselbar wie Fingerabdrücke“.
Lebens- und Weltgeschichte erzählen 2.0
Die Gestaltung der Texte ähnelt den aus Kluges TV-Formaten bekannten Dokufiktionen: Fiktive und tatsächliche Lebensläufe beziehungsweise Interviewsituationen vermischen sich – oftmals ununterscheidbar und nahtlos – mit Kurzgeschichten, Anekdoten, philosophisch-theoretischen Reflexionen, historischen Betrachtungen und wissenschaftlichen Arbeiten an dokumentarischem Quellenmaterial. Hinzu kommen Beobachtungen von biologischen Vorgängen und Körperphänomenen, etwa zur Erscheinung des Vaters. Insbesondere im Kapitel „Ich“ finden sich persönliche Erinnerungen des Autors, gleichwohl durchsetzt von autofiktionalen Elementen. So ist die Chronik des Zusammenhangs als Alterswerk auch ein Versuch, das eigene Leben rückblickend nochmals in einen Kontext zu stellen, der sich in der Persönlichkeit des bürgerlichen Charakters bereits zwei Kapitel zuvor abzeichnet.
Gespiegelt und global erweitert wird dieser Ansatz im letzten Abschnitt „Chronik von Pangäa bis heute“, der von der Urgeschichte des Superkontinents bis in die Gegenwart führt. In diesem abschließenden Wunsch nach Ordnung und Systematisierung kann man ein Merkmal konventioneller Chroniken erkennen. Dennoch handelt es sich nicht um ‚objektive‘, also ‚faktenbasierte‘ historiographische Darstellungen, sondern um hochgradig reflektierte Notate mit geschichtsphilosophischer Färbung. Kluge verdeutlicht in Kongs große Stunde, dass das Weltgeschehen nicht nur von Gefühlen begleitet, sondern vor allem von Erzählungen transportiert wird – auf deren archetypische, mythische Fundierung er immer wieder verweist. Denn Geschichte basiert auf Geschichten!
Zudem könnte hier eine Kritik am digitalen Zeitalter und der Virtualisierung unserer Lebenswelten vermutetet werden, insofern heutzutage das zwischenmenschliche Vermögen des mündlichen Ausdrucks respektive der narrativen Sinnstiftung vernachlässigt würde. So einfach funktioniert das bei Kluge aber nicht, schöpft er doch selbst aus den Möglichkeiten virtuellen Erzählens und integriert diese gekonnt in seine Arbeit, wenn er etwa aus dem Netz zitiert oder den einzelnen Kapiteln Lese- und Filmlinks zu weiteren Büchern und Filmen aus seinem Werkkosmos anfügt. Das Internet transformiert gewissermaßen bloß das (intertextuelle) Erzählen und dient dem Autor als große Metapher einer ohnehin vernetzten, multiperspektivischen, vielstimmigen Welt, die der Computertechnik nicht zwingend bedarf.
Die voluminöse, äußerst dichte Chronik kann unmöglich am Stück gelesen werden. Sie funktioniert wie ein mittelalterliches Stundenbuch, in das man sich meditativ versenkt, und so Inspirationen für den Alltag beziehungsweise die unmittelbare Gegenwart findet. Gerade die kürzesten Texte des Bandes sind dabei am aussagekräftigsten; mit deren Hilfe lässt sich die Geheimschrift der Chronik entschlüsseln.
Ein wackliger Zahn wird nicht gezogen
Die erste Geschichte im Eingangskapitel „Es geht nichts über Reparaturerfahrung“ handelt von einem „Zahn ohne Raum“ in Kluges Gebiss: einem überzähligen Schneidezahn, den ihm ein Zahnarzt selbstverständlich entfernen will. Der Geschichtenerzähler sieht sich schon zahnlos; er will keine Brücke in seinem Mund dulden, denn dieser beherbergt den Schatz der Sprache. Schließlich findet er einen jungen Reformarzt, der die Wurzel reinigt und Gewebe transplantiert. So überlebt der Zahn, auch als jener Arzt 20 Jahre später mit einer Betonstütze nachbessern muss – wie bei einem schiefstehenden Kirchturm. Weil der Arzt, wie es heißt, vom schwächsten Glied her repariert, rettet er vermutlich das gesamte Gebiss. In der Beschreibung des unterprivilegierten, von den Bruderzähnen bedrängten Stiefzahns blitzt eine fundamentale Erkenntnis auf: Gerade das Unscheinbare oder vermeintlich Überkommene, Überflüssige sichert die Zusammenhänge; es zu erhalten wie die Unversehrtheit des Körpers, anstatt es blind durch etwas Neues beziehungsweise künstliche Prothesen zu ersetzen, stellt einen Wert in sich dar, der unserer ‚Wurzellosigkeit‘ entgegenwirkt. Das gilt auch für den Umgang mit Geschichte oder singulären historischen Artefakten. Außerdem sind es gerade die minoritären Kräfte, von denen die Mächtigen abhängig sind und die somit totalitäre Ansprüche infrage stellen.
Dialektische Magie auf natürlicher Basis
Solcherlei Denkbilder rücken Kluges Chronik deutlich in die Nähe zu Benjamins Konzeptualisierung des historischen Materialismus, der die Tradition der Unterdrückten in den Blick nimmt und eine Art Gegengeschichte zum Fortschritt entwirft, wobei vor allem Diskontinuitäten betont werden. Auch der revoltierende Affe Kong reiht sich wie der wacklige Zahn in diese alternative Geschichte ein, deren verborgene Korrespondenzen in den Texten häufig durchschimmern. Im 6. Kapitel taucht der hierfür passende Begriff der dialektischen Magie auf. Kluge begreift diese als ein natürliches Vorkommen von Dialektik – keine reine Wissenschaft oder Betrachtungsweise, sondern das Gesetz sämtlicher Lebenskräfte. Als Beispiel führt er Vorkämpfer des Materialismus wie die Biokosmisten an, die zugleich Erfinder des ausgefeiltesten Spiritualismus gewesen seien.
Die Idee allmächtiger spiritueller Energien, die auf natürlichen Vorkommen beruhen, erinnert an alchemistische Verfahren: das Freilegen elementarer Gehalte, ungewöhnliche Mischungsverhältnisse von Substanzen, Reaktionen und Umwandlung chemischer Stoffe. Auf der Suche nach solchen Ähnlichkeiten werden Kluges Leser in magische Zusammenhänge eingeweiht und in eine auratische Zone der Durchdringung von Fakten und Imaginationen geleitet.
„Niemand ist verpflichtet, irgend etwas zu glauben“
Unter diesem sprechenden Titel wird im 2. Kapitel von einer Nebelschwade erzählt, die 1929 drei Wochen lang über dem Empire State Building geschwebt haben soll und dabei in keiner Wetternachricht erwähnt wurde. In einem fingierten Interview oder Streitgespräch zwischen einem angeblichen Zeugen des Ereignisses und einer eher kritischen Person kommt es zur Auseinandersetzung darüber, ob man den eigenen Augen trauen kann und wem man eigentlich Glauben schenken soll, wenn es um die Evidenz von Wissen geht. Die Grundlage der Wirklichkeitsvermittlung bildet hier abermals eine Erzählung, wobei der berichtende Zeuge sogar vermutet, dass es kein bloßer Nebel, sondern ein Lebewesen gewesen sein könnte. Das unscheinbare, ephemere Phänomen lädt auf beiden Seiten zu Spekulationen ein. Vielleicht ist der Nebel als eine verschleierte, gar leere Metapher zu verstehen, in der sich Vorstellungen verdichten – der blinde Fleck, von dem aus sich verschiedene Geschichten entwickeln. Insofern löst der Text auch eine Telescopage aus, durch die der Leser mit seinen wolkigen Erinnerungen an Filme, religiöse Bilder oder Katastrophen die Geschichte umschreibt.
Das im Buch umrissene Spannungsfeld – im Kapitel „Ich“ nennt es Kluge einmal „Durcheinanderlaufende Wirklichkeiten“ – könnte ebenso die aktuellen philosophischen Debatten zum Neuen Realismus bereichern. Dessen Wortführer Markus Gabriel geht von einer Ontologie unendlich vieler verschiedener Sinnfelder aus, wonach es keine einzige Welt gebe, da Vorstellungen oder Träume ebenfalls eigene Realitäten ausbildeten. Einen großen Zusammenhang dieser einzelnen Sinnfelder, wie ihn Kluge im Erzählen stiftet, hält Gabriel jedoch für nicht konstruierbar. Hoffentlich wird die literarische Chronik also nicht nur Kluge-Fans begeistern, sondern auch in die Wissenschaften ausstrahlen. Vor allem die Literatur- und Kulturforschung respektive die Narratologie befasst sich ja schon länger mit der epistemologischen Qualität von Erzählungen. Ein Brückenschlag zur Geschichtswissenschaft dürfte schließlich besonders interessant sein.
|
||