William Shakespeare

Ein Porträt aus dem Jahr 2002

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Wer ist denn ihrer Ansicht nach, werde ich gelegentlich gefragt, der bedeutendste Schriftsteller, der je gelebt hat? Ich zögere keinen Augenblick und antworte: Shakespeare. Und wenn man von mir noch eine Begründung hören will, dann verweise ich auf die Worte des Jacques in der Komödie „Wie es euch gefällt“. Die ganze Welt, sagt er, sei eine Bühne, und alle Männer und Frauen seien nur Spieler: Sie treten auf und gehen wieder ab.

Man empfindet meine Antwort als enttäuschend. Aber hier hat Shakespeare alles angedeutet: die Konzeption seines Theaters und das Programm seines Werks, das Ziel seiner Arbeit und das Geheimnis seines Erfolgs. Denn wer die ganze Welt als eine Bühne bezeichnet, der meint zugleich die Umkehrung: Er hat es auf nicht weniger als auf die ganze Welt abgesehen. Jene seiner Epoche?

Die Tragödie „König Richard III.“, geschrieben um 1592, spielt in England in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Erzählt wird die Geschichte des abstoßend häßlichen und arg hinkenden Herzogs von Gloster, der vor keinem Verbrechen zurückscheut, um die Macht an sich zu reißen und auf den Thron zu gelangen. Die blutrünstige Geschichte seines Aufstiegs und Falls ist etwas kompliziert und geht uns überhaupt nichts an. Wirklich? 1937 wurde „Richard III.“ in Berlin, im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, aufgeführt, in einer Inszenierung von Jürgen Fehling mit Werner Krauss in der Titelrolle.

Ich war bei der Premiere dabei, und ich werde diesen Abend nie vergessen. Shakespeares Text wurde weder geändert noch etwas ergänzt, auch hat man auf die traditionelle Übersetzung zurückgegriffen. Freilich trug die Leibgarde des frevelhaften Herzogs und späteren Königs schwarz-silberne Uniformen, die an jene der SS denken ließen. Die Mörder des Herzogs von Clarence wiederum erinnerten in braunen Hemden und Schaftstiefeln an die SA. Ungewöhnlich und aufschreckend war das Finale. Nach den Worten „Das Feld ist unser und der Bluthund tot“ wurde es vollkommen dunkel. Nach wenigen Augenblicken gingen alle Lichter plötzlich an, auch im Zuschauerraum. Die Soldaten auf der Bühne sanken in die Knie und stimmten ein gewaltiges Tedeum an, das von allen Seiten des Saales zu hören war.

Die Geschichte des herrschsüchtigen Verbrechers hatte sich als ein Drama über Hitler und die Verhältnisse in der deutschen Gegenwart erwiesen. War das Stück nur in Deutschland von brennender Aktualität? In Stalins Imperium ließ sich die Aktualität nicht überprüfen. Denn die Aufführung des alten Dramas war von vornherein strikt verboten.

Von höchster Aktualität war damals auch „Hamlet“, gespielt ebenfalls am Gendarmenmarkt, mit Gustaf Gründgens in der Hauptrolle. Die Worte „Die Zeit ist aus den Fugen“ und „Dänemark ist ein Gefängnis“ dienten gleichsam als Motto der Aufführung. Das Stück spielte in einem Polizeistaat, in dem alle von allen ausspioniert werden. Der Minister Polonius traut nicht seinem Sohn, der sich nach Paris begeben hat, er schickt ihm einen Agenten nach, der ihn bespitzeln soll. Die Königin soll mit ihrem Sohn sprechen, aber auch ihr kann der Staat nicht trauen, der Minister belauscht persönlich die Unterredung.

Der Sohn, der Prinz Hamlet also, ist besonders verdächtig: Er liest und denkt zuviel, und überdies ist er gerade aus dem Ausland zurückgekehrt. Man holt rasch zwei Hofleute, die mit ihm aufgewachsen sind und daher für geeignet gehalten werden, ihn zu „erspähn“. Der junge Prinz ist ein Mann, dessen Existenz, anders als die seiner Zeitgenossen, von seinem Geist bestimmt wird, von seinem Gewissen.

„Hamlet“ – das war in Deutschland 1936 die Tragödie des Intellektuellen inmitten einer grausamen Gesellschaft und eines verbrecherischen Staates. Später sah ich dieses Stück in London und in Paris und Mitte der fünfziger Jahre im kommunistischen Polen, in Warschau. Ich begriff, daß der „Hamlet“ in jedem Land auf andere Weise verstanden und gespielt wird.

Ist es nun ein psychologisches Drama, eine historische Chronik, eine Kriminalgeschichte, ein immer wieder aktuelles politisches Schauspiel, eine philosophische Tragödie? Ja, das alles trifft schon zu, nur ist es immer ein und dasselbe Stück, geschrieben von einem Menschen, der sich William Shakespeare nannte. Jede Generation sucht im „Hamlet“ sich selber, die eigenen Fragen und Schwierigkeiten, die eigenen Niederlagen. Und in der Regel findet sie auch, was sie sucht. Das ist das Erstaunliche, das Ungeheuerliche, das Beglückende, das beinahe Unfaßbare – und das macht den „Hamlet“ zum erfolgreichsten, zum besten Bühnenwerk der Weltliteratur.

Von verblüffender Aktualität ist gerade heute auch der „Julius Cäsar“. Im Zeitalter des Fernsehens sind wir geneigt, den „Cäsar“ als ein Drama über die persönliche Ausstrahlung der Politiker zu betrachten und vor allem über die Rhetorik, ein Drama übrigens, das den Verdacht weckt, daß im Kampf um die Gunst der Bürger nicht der bessere Politiker siegt, sondern der bessere Redner und womöglich einer, der die Demagogie nicht verpönt. Zu den ganz großen Shakespeare-Erlebnissen meiner frühen Jugend gehört auch „Romeo und Julia“. An jenem Abend begann ich zu ahnen, daß die Liebe ein Segen ist und ein Fluch, eine Gnade und ein Verhängnis, eine Sucht, die keine Grenzen kennt. Und daß Liebe und Tod zueinander gehören, daß wir lieben, weil wir sterben müssen.

Das hier abgebildete Shakespeare-Porträt, das mein Sohn und seine Frau Ida in einer Galerie in Edinburgh gefunden haben, ist ein alter Stich, der auf das sogenannte Chandos-Porträt aus dem siebzehnten Jahrhundert zurückgeht. Allerdings ist die Authentizität dieses Bildes umstritten. Aber so ist es, wenn es um Shakespeare geht, so gut wie immer: Alles ist unsicher und umstritten. Nur nicht die Genialität seines Werks. Und unumstritten ist, was er auf der Bühne des Globe Theatre in London zu zeigen vermocht hat: eben die ganze Welt.

Hinweise von Thomas Anz: Marcel Reich-Ranickis kurzer Aufsatz über Shakespeare, der hier mit freundlicher Genehmigung seines Sohns Andrew Ranicki zum 400. Todestag des Schriftstellers erneut veröffentlicht wird, gehört zu der Artikel-Serie „Meine Bilder“, die zwischen September 2001 und Januar 2003 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschien und um einige Beiträge erweitert 2003 in der Deutschen Verlags-Anstalt als Buch. Die Serie enthält „Bilder“ von ihm im doppelten Sinn: Radierungen, Lithografien und Originalzeichnungen, die ihm im Laufe seines Kritikerlebens geschenkt wurden oder die er selbst erworben hatte, „Porträts von Schriftstellern, die für mich besonders wichtig waren und sind“. Zu ihnen verfertigte Reich-Ranicki ergänzende Porträts mit den ihm eigenen Mitteln, mit denen der Sprache: kleine, meist drei Druckseiten umfassende Essays, die neben einigen Bemerkungen zum jeweiligen Bild den dargestellten Autor charakterisieren und zugleich beschreiben, was einige seiner Werke dem Kritiker bedeuten. Das Shakespeare-Porträt erschien am 8.9.2002 in der F.A.S (Feuilleton, S. 23) und eröffnet die Serie in dem Buch. Weitere Veröffentlichungen Reich-Ranickis zu Shakespeare sind soeben im Rahmen einer Sonderausgabe von literaturkritik.de (Marcel Reich-Ranicki: Mein Shakespeare) unseren Online-Abonnenten zugänglich gemacht worden.