Eintreten in den Heidegger-Kosmos

Peter Trawny und Donatella Di Cesare klären über die „Schwarzen Hefte“ auf

Von Thomas MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alle Bemerkungen zu Martin Heidegger haben zur Zeit – und das mehr als je zuvor – den Status des Vorläufigen. Die Aussage mag unsinnig erscheinen, schließlich geht die „Gesamtausgabe“ seiner Schriften auf ihr Ende zu. Doch die systematische Einordnung einerseits, die Ausbildung und Begründung geeigneter Methoden zur Erschließung der sogenannten „Schwarzen Hefte“ andererseits – von denen bis jetzt die „Überlegungen“ (2014) und die „Anmerkungen“ (2015) vorliegen – stehen noch weitgehend aus. Ganz zu schweigen davon, dass es noch große Mengen unerschlossenen Materials im Deutschen Literaturarchiv Marbach gibt, die Familie Heidegger womöglich noch wichtige Bestände in Händen hält und die zahlreichen Korrespondenzen Heideggers noch weitgehend unerschlossen sind. Letzteres auch deshalb, weil nicht wenige Briefwechsel von privater Seite zurückgehalten werden, da Heidegger-Dokumente ständig im Wert steigen.

Dazu, das kann hier nicht weiter ausgeführt werden, erscheinen weltweit außerordentlich wichtige Arbeiten, die sich den Fragen, Antworten und Deutungen Heideggers widmen. Es ist gar nicht absehbar, wie diese Erkenntnisse ins Verhältnis zu setzen sind mit dem, was als Heideggers Nationalsozialismus und Antisemitismus bezeichnet wird. Nur für seit Jahrzehnten tätige Apologeten und Überführungsfanatiker ist uneingeschränkt klar: Entweder ist alles philosophisch gedacht und somit per se nicht nationalsozialistisch und antisemitisch oder alles ist nationalsozialistisch und antisemitisch, weil ‚schon immer‘ nationalsozialistisch und antisemitisch gedacht. Wie sehr sich die Lager angenähert haben, zeigt nichts weniger, als dass für die Lager inzwischen die Heiligenlegende wie der Teufelspakt im Jahr der Habilitation 1915 beginnen. O sancta simplicitas!

Um es pointiert für alle anderen – Historiker, Philosophie- und Ideengeschichtler sowie Philosophen – abzukürzen: Was immer die halbwegs vernünftigen Interpreten zu den Bänden 94 bis 97 der „Gesamtausgabe“ zu sagen haben, sie stimmen immerhin darin überein, dass eine erneute Inblicknahme des Gesamtwerkes vonnöten ist. Die beiden hier anzuzeigenden Bücher liefern dazu erste Verstehensversuche.

Peter Trawny hat im Laufe seiner langen Auseinandersetzung mit Heidegger, die im Studium begann und die ihn bis zur Herausgabe mehrerer gewichtiger Bände der „Gesamtausgabe“ geführt hat, darunter den „Überlegungen“ und „Anmerkungen“, stets von allen Seiten Prügel einstecken müssen. Den orthodoxen Heideggerianern war er nicht orthodox genug, der Überführungsfraktion auf fatale Weise kompromisslerisch. Beiden Seiten gab Trawny im Laufe der Jahre genügend Gründe für ihre Verdachtshermeneutiken an die Hand, aber dabei ging völlig unter, dass er zu den ganz wenigen in diesem durch und durch vergifteten Milieu der Extrempositionen gehört, der Positionen räumen kann. Seine „kritische Einführung“ ist in jedem Falle eine unbedingt lesenswerte Probe darauf, wie Heideggers Denkentwicklung aus der Immanenz des Werkes verstanden werden könnte. Trawny sieht – das wäre ausführlich zu diskutieren – in den Paragraphen zur „Geschichtlichkeit“ in „Sein und Zeit“ eine Fehlleitung von Heideggers Konzept der „Zeitlichkeit“. Und das heißt für den Interpreten, dass sich für Heidegger aus dem in den „Geschichtlichkeits“-Paragrahen Gesagten das notwendig gewordene Eingreifen in die nunmehr historischen Abläufe ergab. Wie jedem Buch über Heidegger sollte man Trawny andere Deutungen zur Seite stellen. Gleichwohl wird man intellektuell redlich über ein Problem aufgeklärt, das mit dem Namen „Heidegger“ prominent wurde – den möglichen Zusammenhang von Totalitarismus und Philosophie.

Einen anderen Anspruch hat das Buch „Heidegger, die Juden, die Shoah“ der italienischen Hermeneutikerin und Religionsphilosophin Donatella Di Cesare, die sowohl an der La Sapienza, als auch am Rabbinerseminar in Rom lehrt. Ihr Buch ist der erste umfassende Versuch, die „Schwarzen Hefte“ in Bezug auf ihren vermeintlichen oder tatsächlichen zentralen Inhalt – Heideggers Nationalsozialismus und Antisemitismus – zu lesen und den Zusammenhang philosophiehistorisch und systematisch zu erschließen.

Dazu wird zunächst ein ausführlicher Blick auf die Entwicklung der neuesten „Affäre Heidegger“ geworfen, anschließend eine pointiert-klare Übersicht zur „Philosophie und der Hass gegen die Juden“ geliefert, um dann in zwei Großkapiteln der Seinsfrage und der „Judenfrage“ sowie den Folgen der beiden Fragen nachzugehen. Die deutsche Ausgabe, eine Überarbeitung der italienischen Edition, wird ihren Platz in den kommenden Diskussionen schon deshalb behalten, weil Di Cesare bereit ist, in die Maschinenräume des Heideggerʼschen Philosophierens und Denkens zu gehen: „Das Geschick, das Los des Judentums wird mit dem Schicksal der Metaphysik verbunden. Hierin liegt einer der Hauptknoten von Heideggers Auffassung. Als letztes Ergebnis der Moderne stellt die jüdische Welt die Herrschaft des Seienden dar.“ Für Di Cesare inszeniert Heidegger – und das ist ein eindeutiger Bruch mit „Sein und Zeit“ – in den sogenannten „Schwarzen Heften“ eine permanente Schlacht von Seiendem und dem „Seyn“ – also jenem „Seyn“, das in Abgrenzung vom ontotheologisch bestimmten „Sein“ durch die Ablösung der „Philosophie“ durch das „Denken“ Heideggers Schützenswertestes wird. Dieses „Seyn“ wird „rein“ gedacht, damit es, in Abgrenzung zu dem „verjudeten“ Seienden, einen anderen Anfang – neben der andauernden Analyse von „Sein und Zeit“ sicherlich das auf Heideggers Denken bezogene Hauptthema der „Überlegungen“ und „Anmerkungen“ – möglich machen kann. Um zu diesem „anderen Anfang“ zu gelangen, müssen Hürden überwunden werden, die sich in der Real- wie Denkgeschichte zeigen. Es ist sehr begrüßenswert innerhalb einer ohne historische und ideengeschichtliche Erkenntnismodelle arbeitenden Heidegger-Literatur (das gilt nahezu für alle Seiten), dass Di Cesare die Spezifika von Heideggers Konstruktion durch die Einbeziehung anderer, zeitgenössischer antijüdischer Diskurse aufhellt. So etwa, wenn sie sich mit Werner Sombarts „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ auseinandersetzt (hier wäre darauf hinzuweisen, dass durch die Forschungen von Nicolas Berg inzwischen weitaus mehr gesagt werden kann) oder Carl Schmitts radikalen, auf Umsetzung abzielenden antisemitischen Texten.

Dass mit der Charakterisierung von Heideggers Antisemitismus als eines „metaphysischen Antisemitismus“ ein Pflock in den Deutungsgrund eingerammt wurde, der scharfe Kontroversen nach sich ziehen wird (oder schon gezogen hat), versteht sich von selbst. Und das ist gut so, denn nichts wäre jetzt fataler, als dass die Diskussion an den alten Frontlinien stillgestellt würde. Man möchte sich vorstellen, dass Di Cesare, die durchaus ein sehr kluges und persönliches Buch von ungemeiner Anregungs- und Widerspruchskraft, von klarer Positionierung, aber vielfältiger Verkürzung geschrieben hat, sich in Marbach mit, sagen wir, Holger Zaborowski, Sidonie Keller, Per Leo, Rainer Marten und Dieter Thomä sowie der Familie Heidegger an einen Tisch setzt und alle zusammen überlegen, wie es weitergehen könnte. Der Rezensent ist eitel genug vorzuschlagen, dass er jederzeit zur Moderation zur Verfügung steht. Die Marbacher guten Geister Ulrich Raulff und Ulrich von Bülow könnten hier als Schirmherren fungieren. Das mag anmaßend sein – aber die Philosophie und das Denken Heideggers benötigen rasch guten Willen von jenen, die noch nicht alle Hoffnung aufgegeben haben, nachdem sie in den Heidegger-Kosmos eingetreten sind.

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Donatella Di Cesare: Heidegger, die Juden, die Shoah.
Heidegger Forum 12.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2016.
406 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783465042532

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Titelbild

Peter Trawny: Martin Heidegger. Eine kritische Einführung.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M. 2016.
184 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783465042617

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