Ein Stück deutsche Kulturgeschichte

W. Daniel Wilson erzählt eine ebenso aufschlussreiche wie unterhaltsame Geschichte vom Umgang mit Johann Wolfgang von Goethes Erotica

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der US-amerikanische Germanist W. Daniel Wilson legt mit seinem Buch „Goethes Erotica und die ‚Weimarer Zensoren‘“ eine ebenso kurzweilige wie informative Studie zum Umgang mit Goethes erotischen Dichtungen vor. Es ist die „Geschichte einer ‚sanften‘ Zensur“, wie er selbst diesen Umgang nennt. Diese Geschichte liefert lehrreiche Einsichten in eine kuriose Episode der deutschen Klassikpflege. Kurios deshalb, weil Goethes erotische Gedichte die Hüter der Weimarer Klassik vor gewisse Probleme stellten: Einerseits handelte es sich bei diesen Dichtungen unumstritten um allerfeinste literarische Qualität, die allen Anforderungen des klassischen Ideals gerecht werden, andererseits aber eben auch um höchst delikate, um nicht zu sagen pornografische Texte. 

Goethes Erotica verteilen sich über die ganze Schaffenszeit des Dichters. Es gehören dazu derbe Sprachstücke wie die in frühen Jahren entstandene Farce „Hanswursts Hochzeit“ (1775) ebenso wie das großartige 1810 entstandene Gedicht „Das Tagebuch“ oder auch die ursprünglichen  Textfassungen der „Walpurgisnacht“ im Faust I. Im engeren Sinne indes gehören vor allem Texte aus den „Römischen Elegien“ und den „Venezianischen Epigrammen“ dazu. Jedenfalls befanden sich diese Texte nach dem Tod des Autors im legendären „Blechkasten“, in dem sie als Geheimzuhaltendes („Secretanda“) vom übrigen Werk abgesondert aufbewahrt wurden. Erst 1915 wurden die Texte wieder geborgen, um sie dann erstmals vollständig zu publizieren.

Der Meister selbst hatte noch zu Lebzeiten einiges aussortiert. So waren in Friedrich Schillers 1795 bis 1797 erschiener Zeitschrift „Die Horen“ 1795 nur 20 der 24 Gedichte umfassenden und von Goethe ursprünglich „Erotica Romana“ betitelten Sammlung abgedruckt. Es fehlten zunächst – und Wilson erläutert nebenbei, dass dadurch eine ursprüngliche innere Dramaturgie des Ganzen aufgegeben wurde – die beiden „priapischen Elegien“, in deren Mittelpunkt der phallusbewerte Gott Priapos steht. Die dichterische Preisung des missachteten Gottes, der „mit dem Pfale der dir roth von den Hüften entspringt“ so wohl umzugehen wusste, mochte wohl die „Admissibilität“ der Gedichte beeinträchtigen. Goethe jedenfalls folgte dem diesbezüglichen Rat der ehrenwerten weimarer Herrschaften, hatte er selbst sie doch um Rat gebeten. Zwei weitere Gedichte fehlten schließlich, weil Schiller sich als Herausgeber zwar verpflichtet sah, „anzügliche Stellen“ zu tilgen, andererseits aber auch die „hohe poetische Schönheit“ der Gedichte zu preisen wusste. So war es besser, im Einverständnis mit Goethe auf diese Gedichte ganz zu verzichten, statt sie durch ‚zensorische‘ Eingriffe zu verändern.

Diese „sanfte Zensur“ verlief letztlich einvernehmlich, weil Dichter, Herausgeber und die ehrwürdigen Ratgeber im Umfeld des Weimarer Hofes eine freundschaftliche Verantwortung für die Literatur einte. In dem Maße aber, wie nach Goethes Tod der Dichterfürst zum Repräsentanten einer idealisierten deutschen Klassik wurde, so erfährt man aus Wilsons Ausführungen, änderten sich die Maßstäbe im Umgang mit den erotischen Gedichten. Schon Schiller trug Sorge, dass des Dichters erotische Kunst nicht missverstanden wurde als das Werk eines Libertins. Denn das „Schreckbild des Libertins“, der „sich gefühl- und herzlos den niederen Trieben“ ausliefert, galt es, wie Wilson ausführt, „zu bannen“. Vermochten freilich die Dichtungen zu zeigen, dass die „sinnlichen Energien“ aus der „Fülle menschlicher Natur“ hervorgingen, dann war die Gefahr der Pornografie gebannt.

Mochte für Schiller die hohe poetische Schönheit als Garant für die Glaubwürdigkeit des Dichters ebenso wie für die eignen hohen Ansprüche gelten, so vertrauten die Nachgeborenen diesem Kriterium nicht mehr so ohne Weiteres. Eine bänglich-kleingeistige Weltsicht sah in den „erotischen Zügellosigkeiten“ eine ständige Gefahr für den ‚guten Ruf‘ des Dichters, des Gelehrten, des Staatsmannes. Wilson führt aus, wie insbesondere die Goethe-Enkel Wolfgang Maximilian von Goethe (1820–1883) und Walter Wolfgang von Goethe (1818–1885) und schließlich die Großherzogin Sophie (1824–1897) als Nachlasswalterin das Anzügliche aus seinem Werk zu bannen sich bemühten. Notfalls musste dann eben das pikante Material im Blechkasten abgesondert werden. Doch in einer sich verändernden Welt, in der auch die Germanistik als systematische Wissenschaft ihre Ansprüche an Werk- und Gesamtausgaben eines dichterischen Werkes anmeldete, wurden die Bemühungen zur Wahrung der Dichterwürde immer kurioser. Man behalf sich beispielsweise mit Anstandsstrichen, die zuweilen ganze Zeilen ersetzten, dann wieder so ‚eindeutig‘ gesetzt waren, dass es der geneigten Leserin und dem Leser kaum schwerfallen durfte, zu ‚erraten‘, welches Wort denn nun gemeint sei, wenn der Dichter schreibt: „Und doch kann dich nichts vernichten, / Wenn, Vergänglichen zum Trotze, / Willst dein Sehnen ewig richten / erst zur Flasche dann zur –“.

Daniel Wilson hat ein gut recherchiertes und immer wieder mit Vergnügen zu lesendes Buch geschrieben. Die Geschichte der ‚Zensur‘ von Goethes Erotica wird deutlich als ein ‚typisch deutscher‘ Umgang mit dem Material: Anlass einerseits zu überhöhter Idealisierung, andererseits zu ängstlich-verdruckstem Verschweigen. 

Titelbild

W. Daniel Wilson: Goethes Erotica und die Weimarer ‚Zensoren‘.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2015.
256 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783865254511

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