Heinz und die Welt von übermorgen

Thomas von Steinaecker nimmt uns in seinem Roman „Die Verteidigung des Paradieses“ mit in eine Zukunft nach der Zukunft

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man schreibt das Jahr 11 nach der großen Katastrophe zu Beginn von Thomas von Steinaeckers mittlerweile fünftem Roman Die Verteidigung des Paradieses. Ein gewaltiger Sonnensturm hat Mitteleuropa heimgesucht und in eine graue Wüstenei verwandelt, in der menschliches Leben nicht mehr möglich ist. Nachdem der 1977 geborene deutsche Autor, TV-Redakteur und Journalist uns in Schutzgebiet (2009) zunächst in die Vergangenheit und drei Jahre später in Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen (2012) in die krisengeschüttelte globalisierte Welt des dritten Jahrtausends mitgenommen hat, landen wir nun in einer Zukunft, in der die schöne neue Welt, als die sich naive Utopisten unser durchtechnologisiertes Morgen so gerne vorstellen, in Trümmern liegt.

Weite Teile des Kontinents sind wieder in die Steinzeit zurückgekehrt. Es herrschen Faustrecht und brutaler Überlebenskampf, wo gerade noch unter klug ersonnenen Schutzschirmen idyllische Landschaften blühten. Marodierende Banden ziehen umher, und wer Pech hat, gerät in die Hände grässlich mutierter Gestalten oder wird selbst zum Zombie. Anderswo – so gehen Gerüchte – soll es noch besser sein, aber Genaues weiß man nicht.

Heinz heißt der Held in von Steinaeckers Roman. Mit einer kleinen Gruppe Überlebender –zwei Frauen, darunter eine Schwangere, und drei Männern – hat er Zuflucht auf einer Alm am Steinernen Meer gefunden. Hier funktioniert noch einer jener raffinierten Schutzschilde, mit denen Städte und Regionen in der Mitte des 21. Jahrhunderts schädlichen Umwelteinflüssen trotzten: „Beim Untergang hat unser Kraftfeld vom einprogrammierten Zyklus der vier Jahreszeiten […] auf eine einzige umgeschaltet, einen ewigen Sommer, mit warmen, aber nie unerträglich heißen Tagen, und mit Nächten, in denen es regnet, aber nie stürmt.“

Angesichts der nebelverhangenen Ebene außerhalb des „Shields“ ein wahres Paradies. Aber auch eines, das bedroht ist. Bedroht von verrohten Horden Überlebender, die zufällig eine der Zugangsschleusen entdeckt haben könnten. Bedroht durch jene die Alm regelmäßig überfliegenden Drohnen, von denen man nicht weiß, ob sie in friedlicher oder in feindlicher Mission unterwegs sind. Bedroht aber auch von innen heraus. Denn bezüglich ihrer Zukunft bestehen, nachdem das Kraftfeld von Zeit zu Zeit ausfällt und nur noch Schutzanzüge die sechs Almbewohner vor den schädlichen Sonnenstrahlen bewahren, die Wasserresourcen infolge der Hitze knapp werden und die meisten ihrer Nutztiere einer Seuche zum Opfer gefallen sind, durchaus unterschiedliche Vorstellungen.

Heinz, mit 15 Jahren der Jüngste der kleinen Gruppe, hat von Cornelius, dem „Leader“, den Auftrag erhalten, die Geschichte ihrer Gemeinschaft für die Nachwelt festzuhalten. Und er ist überzeugt: „So lange ich schreibe, leben wir.“ Von Steinaeckers Roman besteht zu großen Teilen aus den Aufzeichnungen dieses merkwürdigen Jungen. Im „Schwarzen Heft“ hat er die Geschichte der kleinen Gemeinschaft bis zum Verlassen des Bio-Reservats in den Alpen niedergeschrieben. „Das Blaue Heft“ erzählt von der strapaziösen 17-tägigen Wanderschaft in ein Schleuserlager am östlichen Ufer des Rheins, der von einem Fluss zu einem See geworden ist. Das Heft mit dem grünen Umschlag ist der Ankunft in den von der Katastrophe verschont gebliebenen Gebieten auf der westlichen Rheinseite gewidmet, während der letzte Romanteil mit dem Titel „Das Gelbe Heft“ einen Rückblick des inzwischen greisen Chronisten auf die verflossenen Jahrzehnte in der „neuen Welt“ enthält.

Dass mit Heinz etwas nicht stimmen kann, merkt der Leser schnell. Einerseits kaum dem Kindesalter entwachsen, sich ängstlich und schutzbedürftig an ein elektronisches Spielzeug, seinen Robot-Fennek F-87 klammernd, der ihm unter anderem eine beachtliche Anzahl von Märchen vor dem Einschlafen erzählen kann, schwirren ihm andererseits Textbruchstücke im Kopf herum, deren Herkunft ihm und seinen Gefährten rätselhaft ist. Klingen sie doch ganz anders als alles, was man von einem Jugendlichen seines Alters erwarten würde.

Für den in der Welt der Literatur bewanderten Leser ist das Geheimnis um jenes so merk- wie staunenswürdige Innenleben des Jungen freilich keines. Die bunt sich mischenden Sprachsplitter sind die Anfangssätze von vor der Katastrophe berühmten Büchern. Lew Tolstois Krieg und Frieden, Adalbert Stifters Nachsommer und Dante Alighieris Göttliche Komödie sind darunter. Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht, Otfried Preußlers Krabat, Suzanne Collinsʼ Tribute von Panem lassen sich identifizieren. Zusätzlich finden sich Textzitate von W.G. Sebald, David Foster Wallace, Astrid Lindgren, Edgar Allen Poe, Herman Melville, Marcel Proust, Haruki Murakami und anderen. Die ganze Weltliteratur im Kopf eines Überlebenden zusammengepresst, der, wie sich später im Roman herausstellt, genau zu diesem Zweck auf der Welt ist: als Literatur-Klon zur Speicherung sämtlicher schriftlicher Zeugnisse der menschlichen Spezies erdacht.

Aber braucht man all das nach dem Ende der alten Welt überhaupt noch? Als Heinz die im besten Wortsinne „neuen Ufer“ erreicht, zu denen er ursprünglich mit seinen fünf Freunden – nicht jeder von ihnen schafft den Weg – aufgebrochen war, muss er erfahren, dass weder sein bewegtes literarisches Innenleben noch die Aufzeichnungen, in denen er penibel Leben und Treiben der kleinen Gemeinschaft in ihrem paradiesischen Refugium und auf der Flucht aus der mitteleuropäischen Todeszone heraus verzeichnet hat, mehr von Interesse sind. Er selbst als letztes Produkt der „Chiemgauer Klon-Fabrik“ wird zwar als kleine Sensation gehandelt, das humanistische Gedankengut, das er hinüberretten sollte, ist aber nicht nur heillos durcheinandergeraten, sondern scheint inzwischen auch vollkommen wertlos zu sein.

Die Verteidigung des Paradieses ist ein Roman, in dem es zugeht wie auf dem Speicherchip seiner Hauptfigur. Vom Heidiland des Alpen-Bio-Reservats führt er über düstere und von Mutanten wie in The Walking Dead besetzte Ebenen und dunkle Tunnel an Bord einer Arche mit dem schönen Namen „Loreley“ und von dort für einige Glückliche weiter in die neue Welt. Der wilde Mix aus Heimat-, Zombie-, Science-Fiction- und Zukunftsroman mit seinen märchen- und mythenhaften Zügen sowie einer Sprache, die durchsetzt ist mit den von Heinz so geliebten „Altwörtern“ aus der „Voruntergangszeit“ mag anfangs etwas gewöhnungsbedürftig sein. Spätestens aber, wenn Heinz und die Seinen in den Schleuserlagern am rechten Rheinufer ankommen, wo den Menschen, die sich voller Verzweiflung in ein besseres Dasein aufgemacht haben, noch die letzte Würde genommen wird, erreicht Thomas von Steinaeckers Buch den Punkt, wo es jenseits seines dystopischen Ansatzes plötzlich an die beklemmenden Vorgänge andockt, deren Zeugen wir alle gerade werden. Im Roman freilich sind es nun die Deutschen, die von einer Katastrophe zu Flüchtlingen gemacht werden und jenseits ihrer alten Heimat einen neuen Anfang machen müssen.

Ob Letzteres – Ankunft und Neubeginn – tatsächlich stattfindet oder nur ein literarischer Traum des mit unzähligen literarischen Träumen gefütterten Helden des Romans ist, lässt Thomas von Steinaecker am Ende in der Schwebe. Auf der letzten Buchseite findet sich nämlich eine lapidare Aktennotiz, aus der hervorzugehen scheint, dass Heinz das Rettungsschiff, das ihn – den Aufzeichnungen des „Gelben Hefts“ nach – sicher über den Rhein ins von der Katastrophe verschont gebliebene Frankreich gebracht hat, nie verließ. Im Gegenteil: Beurkundet wird sein Tod „aufgrund Fehlfunktion des Aufsichts-Robots“. Laut Notiz blieben von ihm lediglich „zerebrale Implantate (wiederverwertbarer Elektroschrott)“. Gemeint sind wohl die literarischen Paradiese all jener Bücher, als deren Träger durch die Zeiten er einst konstruiert wurde. Und wenn es ein bisschen Hoffnung gibt in von Steinaeckers Welt nach der Katastrophe, dann liegt sie allein in einem Wort: „wiederverwertbar“.

Titelbild

Thomas von Steinaecker: Die Verteidigung des Paradieses. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
410 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100014603

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