Klassiker und Identifikationsfigur?

Ein Sammelband widmet sich „Kleists radikaler Poetik“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Krisen, Experimenten, von Auf-, Ab- und Umbrüchen ist im Zusammenhang mit dem Werk Heinrich von Kleists immer wieder zu Recht die Rede. „Gewagte Experimente – Kühne Konstellationen“ etwa lautet ein Sammelband aus dem Jahr 2001, der – so sein Untertitel – „Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik“ verortet. Und die große Doppelausstellung zum Kleist-Jahr 2011 trug den Titel „Krise und Experiment“. Günter Blamberger, der selbst mit einer großen Kleist-Biografie zum Kleist-Jahr vertreten war, bemerkt im Ausstellungskatalog in seinem Aufsatz „Krise und Experiment: Über das Unzeitgemäße an Kleist“ treffend: „Kleist taugt nicht zum Klassiker und auch nicht zum Identifikationsangebot für die gegenwärtige Generation, er war seinen Zeitgenossen fremd, und umso genauer wir hinschauen, desto fremder wird er auch uns.“ Andererseits betont er in seiner Kleist-Biografie – in bester Gegensatzspannung à la Kleist ebenfalls zu Recht: „Kleist ist der Experimentator im Laboratorium der Moderne“. Dieser Fokussierung auf den Experimentator Kleist im doppelten Sinne, als einem Autor, der mit seinen Kippfiguren unter anderem „an den Ordnungen der Geschlechter, der politischen Macht, des Rechts und des Mythos“ „gefährliche Versuche durchführt“, als auch einem Menschen, der sein „Leben ohne Sicherungsmaßnahmen“ aufs Spiel setzt, folgt der von Irmela von der Lühe und Hans Richard Brittnacher herausgegebene Tagungsband „Risiko – Experiment – Selbstentwurf. Kleists radikale Poetik“, wie der Germanist und Schiller-Biograf Peter André Alt als Präsident der Freien Universität Berlin in seinem Geleitwort schreibt.

Unter den Überschriften „Risiko und Ausnahmezustand“, „Die Poesie von Experiment und Arrangement“ sowie „Angesichts des Äußersten: Selbstentwürfe bei Kleist“ spannen die 20 Beiträge tatsächlich einen weiten Bogen, wie Alt betont. Herausgekommen ist, um es gleich vorweg zu sagen, ein Aufsatzband, der sicherlich in der Forschung immer wieder herangezogen werden wird.

Eröffnet wird der Sammelband von einem instruktiven Aufsatz von Rolf Peter Janz: „Zwischen Liebestaumel und Chauvinismus. Kleists Experimente mit Ausnahmezuständen“. Vor dem Hintergrund der Kleistʼschen „Skepsis gegen das, was gemeinhin als Normalität gilt“, liest Janz neben dem „Findling“, dem „Käthchen“ und der „Penthesilea“ insbesondere die „Herrmannschlacht“. Im Gegensatz zu Graf Mirabeau in der Schrift „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ – und damit einer These von Jochen Hörisch – ist die Hauptfigur in der „Herrmannsschlacht“ im Sinne der Staatstheorie Carl Schmitts ein „dezisionistischer Herrscher“, der in einer Welt im Ausnahmezustand die Lage jeweils unter Kontrolle hat. Dem gegenüber stellt der Kurfürst, die „rätselhafteste Figur des Dramas“ „Prinz Friedrich von Homburg“, seine Souveränität aufs Spiel, wie Maria Carolina Foi anhand rechtsphilosophischer Hintergründe der Zeit erörtert: Demnach lasse sich das Drama, „wenn man es von der Beigabe der preußischen Legende loslöst, einerseits als einer der bedeutendsten Texte zur Darstellung der Legitimationskrise der traditionellen Macht im nachrevolutionären Deutschland“ lesen, „andererseits als eine hochmoderne Parabel über die anhaltenden Paradoxien des Begnadigungsrechts.“

Alexander Mionskowskis Aufsatz gilt den „Aporien der Beredsamkeit“ in der „Penthesilea“, die er mittels einiger Texte Adam Heinrich Müllers herausarbeitet und als Drama einer scheiternden Kommunikation analysiert, eine wie immer geartete „Mobilisierung für eine Politik der Beredsamkeit“ werde bei Kleist ad absurdum geführt.

„Riskante Architektur“ steht im Fokus des Beitrags von Hendrik Hellersberg, nämlich als „heuristisches […] Modell“, denn Kleist betone, wie dabei anhand der „Penthesilea“ und des „Käthchens“ „das In-sich-Stehen im Fall“ verdeutlicht wird. Anne Fleig untersucht in ihrem Text Momente des radikalisierten, des „unbedingten Vertrauens“ in Kleists Erzählung „Der Zweikampf“: „Vor dem Hintergrund der Kleistschen Erkenntnis- und Sprachkritik erscheint das Vertrauen im Zweikampf vor allem als Bewegung, und zwar als Bewegung im doppelten Sinn von körperlicher Aktion und Empfinden, deren Stärke sich aus einer Gewissheit speist, die der Reflexion vorausgeht.“ „Als riskante Praxis“ setze sich Vertrauen dem „Gottesurteil“ aus.

Während sich der Theologe Claus-Dieter Osterhövener unter dem Titel „Die Kraft beschwichtigender Worte“ dem Luther-Bild in „Michael Kohlhaas“ widmet und dabei Luther – neben Lisbeth – begreift als „eine in sich klare Figur“, die „für ein unverfälschtes Rechttun und für eine alltagszugewandte Frömmigkeit“ stehe, wohingegen dem zerrissenen Kohlhaas „die christlichen Tugenden der Demut und Sanftmut nicht erschwinglich“ seien, liest der Mitherausgeber des Sammelbandes Hans Richard Brittnacher „Kohlhaas“ ausschließlich unter der Perspektive eines entsetzlichen Amoklaufs. So sehr dieser Fokus einiges für sich hat, so sehr verkürzt die Lektüre auch den Schluss der Erzählung, ja weitgehend deren zweite Hälfte. Der „märchenhafte Schluss“ mit der Nobilitierung des „rechtschaffenen Rosskamm“ und der Hinrichtung des Rachesüchtigen unterläuft – in bester Kleist-Manier – die vereindeutigende Lesart des entfesselten, rachsüchtigen Amokläufers.

Kleists „ungeschriebener Poetik“, als deren Kern ein „experimenteller Gestus“ auszumachen sei, geht Werner Frick in seinem luziden Beitrag nach. Im Rückgriff auf den „Brief eines jungen Dichters an einen jungen Maler“, die Essays „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ und „Über das Marionettentheater“ analysiert Frick „Kleists extrem bewegliches Denk- und Darstellungsverfahren“ als „Gestus einer kalkulierten Ent-Disziplinierung und Ent-Spezialisierung.“

Von den insgesamt lesenswerten Beiträgen seien noch der Aufsatz von Mitherausgeberin Irmela von der Lühe „Vom Mitleidseffekt zum Gewaltexzess. Kleists Findling“ genannt, die die Novelle „als aufklärerisches Experiment im Angesicht ihres Scheiterns“ liest, sowie jener von Dieter Heimböckel, der „Strategien und Inszenierungen der Verweigerung bei Kleist“ mit Albert Camusʼ Essays „Der Mensch in der Revolte“ in den Blick nimmt.

Fazit: Alles in allem ist ein gelungener und lesenswerter Band entstanden, der Heimböckels Sorge, dass „das zurückliegende Jubiläumsjahr“ uns Kleist um seine „Erdenferne“ beraubt habe, unbegründet erscheinen lässt. Im Gegenteil, es bleibt „eine bislang und vermutlich bis auf Weiteres nicht zu be- und entziffernde Distanz zu seinem Werk“, das immer wieder zu neuen Lektüren herausfordert, wie nicht zuletzt die Beiträge zu „Kleists radikaler Poetik“ eindrücklich zeigen. So bestätigt sich die eingangs zitierte Erkenntnis von Blamberger: „Kleist taugt nicht zum Klassiker und auch nicht zum Identifikationsangebot für die gegenwärtige Generation, er war seinen Zeitgenossen fremd, und umso genauer wir hinschauen, desto fremder wird er auch uns.“

Titelbild

Hans Richard Brittnacher / Irmela von der Lühe (Hg.): Risiko – Experiment – Selbstentwurf. Kleists radikale Poetik.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
406 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312883

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