Eine zentrale Reflexionsfigur der Moderne

Über Johannes F. Lehmanns „Einführung in das Werk Heinrich von Kleists“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An Biografien und monografischen Werkzugängen zu Heinrich von Kleist herrscht gewiss kein Mangel. Nicht zuletzt sind im Umfeld des Gedenkjahrs zu Kleists 200. Todestag 2011 weitere gewichtige Bücher hinzugekommen. So stammen beispielsweise von Günter Blamberger, Peter Michalzik, Gerhard Schulz, Jens Bisky oder Hans Joachim Kreutzer neue Werkbiografien.

Dass dennoch eine „Einführung in das Werk Heinrich von Kleists“ nicht überflüssig ist, zeigt die vorliegende von Johannes F. Lehmann. Die in der bewährten WBG-Reihe „Einführung Germanistik“ erschienene Studie erfüllt ihren Zweck bestens, um dies gleich vorwegzunehmen: Klar gegliedert und mit schlagwortartigen Zusammenfassungen einzelner Abschnitte als Randglossen bietet sie in sechs Kapiteln, inklusive einer Zeittafel und neun Abbildungen sowie der Nennung der wichtigsten Forschungsliteratur, einen guten Überblick für Studierende, aber auch für interessierte Laien, ohne den Leser zu über- oder gar zu unterfordern.

Auf wenigen Seiten skizziert Lehmann einleitend Kleist als Autor zwischen „Mythos und Moderne“, um dabei den vor allem „im 20. Jahrhundert“ konstruierten „Mythos“ des unverstandenen und unzeitgemäßen Dichters und seiner Dichtung mit Recht zu relativieren. Denn zum einen wurde Kleist durchaus zu seinen Lebzeiten rezipiert – von Martin Wielands bekanntem Diktum über den „Guiscard“-Entwurf bis zur „Käthchen“-Uraufführung in Wien reichen die wichtigsten Erwähnungen –, zum andern lag der „Abstand des Künstlers zu seiner Mitwelt“ ja gerade auf der klassischen Dichter-Linie à la Schiller und Goethe: „So steckt auch noch im heutigen Bild Kleists als dem großen Unverstandenen, Unzeitgemäßen und Antiklassiker ein gewisses Maß an undurchschauter Mythisierung, die auf eben diese Klassik und ihre Stilisierung des Autors als Zeitgenosse der Nachwelt zurückgeht.“

Angesichts der verschiedensten „Ausnahmezustände“ und der von Kleist in seinem Werk „obsessiv“ thematisierten „Identitäts-, Sprach- und Ordnungskrisen“ sieht Lehman im Frankfurter Offizierssohn „eine zentrale Reflexionsfigur der Moderne“. Einem ebenso knappen wie trefflichen Überblick auf „Heinrich von Kleist als Gegenstand der Forschung“ im zweiten Kapitel, in dem Lehmann die Linien von der „Dichterrenaissance“ seit der Reichsgründung 1871 zwischen nationalem Mythos und ästhetisch-biografischem Zugang zieht – mit Blick auf die „nationalsozialistische Vereinnahmung“, die NS-Verstrickung maßgebender Kleistforscher, auf frühe Editionen und die „erneute intensive und bis heute anhaltende Kleistforschung“ nach der „Aufarbeitung des nationalistischen Kleist-Mythos seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts“ bis zum anhaltenden Boom „seit dem linguistic turn“ in den Literatur-, Kultur- und Geschichtswissenschaften –, folgt im dritten Kapitel die biografische und historische Einordnung Kleists. Mit Blick auf die „Metapropaganda“ (Blamberger) der „Herrmannsschlacht“ betont Lehmann: „Das Stück variiert wie jedes andere Stück von Kleist, seine Grundthemen, die Frage nach der Möglichkeit sprachlicher Verständigung […], die Frage nach der Bedeutungspolitik von Zeichen […], die Strategien der Beglaubigung von Authentizität, die Rolle des Gefühls und die Gefahr seiner Verwirrung“ sowie die „Gewaltverhältnisse der Familie“. Mit Barbara Vinken stellt Lehmann fest: „Herrmann ist nicht das Sprachrohr Kleists.“

Im Anschluss daran behandelt Lehmann „Programmatik und Poetik, Themen und Schreibweisen“. Mit Rückgriff auf Helga Gallas geht der Autor von einer „‚Eposstruktur‘ der Werke Kleists“ aus, gehe es in ihnen doch wie im Epos zentral um „Erniedrigung und Beschämung“. Unter anderem mit Bezug auf „Amphitryon“, den „Findling“ und die Anekdote „Der Griffel Gottes“ erläutert Lehmann die Selbstreflexivität der Kleistʼschen Werke.

Einzelanalysen folgen zum „Amphitryon“ als einem Drama, das auf der Ebene der Sprache „für Unentschiedenheit sorgt“, zur „Penthesilea“ als einer Tragödie, die von der „gefühlsverwirrten Verwechslung von Küssen und Bissen“ zu einer „Metaphern und Vergleiche wörtlich“ nehmenden, gesicherten Entschiedenheit geht, die so „Wirklichkeit“ konstituiert und konstruiert. Es folgen Lektüren zur Erzählung „Das Erdbeben in Chili“, in dem Macht und Zeit verhandelt werden, zu „Michael Kohlhaas“ und zum „Homburg“. Bringt im „Kohlhaas“ die Abdeckerszene „als zentrale Achse“ der Novelle die „Wende in der Logik der Erzählung“ von der Frage, wie Kohlhaas zu seinem Recht komme, zur Frage, wie er sein Leben retten könne, so verhandelt „Homburg“ in verschränkten Tausch- und Täuschungsoperationen zentral die Frage nach dem „Wert und Preis des Lebens“.

Ein knapper Blick auf die literarisch-künstlerische Rezeption Kleists rundet den Band ab: Gab es im 19. Jahrhundert einige dichtende Kleistleser – Joseph von Eichendorff, Jean Paul, Heinrich Heine, Karl Gutzkow, Eduard Mörike, Christian Dietrich Grabbe, Ludwig Börne, Karl Immermann, Theodor Storm und Theodor Fontane seien genannt –, so dominierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Dichtung die „Identifikation mit dem Außenseiter“. Neben biografischen Anverwandlungen verlaufe die „Kleist-Rezeption seit den 60er Jahren im wesentlichen über Theaterinszenierungen und Filme“. Eine schöne Kleist-Reminiszenz, die Lehmann freilich noch nicht kennen konnte, hat dieser Tage Thea Dorn in ihrem gelungenen Roman „Die Unglückseligen“ im letzten Kapitel vorgelegt, wenn dort die Hauptfiguren Johanna Mawet und Johann Wilhelm Ritter die „Todeslitanei“ von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel alludieren.

Johannes F. Lehmann hat eine gleichermaßen fundierte wie konzise „Einführung in das Werk Heinrich von Kleists“ vorgelegt, deren einziger Nachteil ist, dass sie neben den angesprochenen detaillierteren Lektüren nicht weitere Einzelanalysen vornimmt, wenngleich andere Texte immer wieder herangezogen werden, und – wohl dem Reihenformat geschuldet – nach bereits 126 Seiten zum Ende kommt.

Titelbild

Johannes F. Lehmann: Einführung in das Werk Heinrich von Kleists.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2013.
144 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783534243044

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