Gemordet wurde bis zuletzt

Zu Sarah Helms Buch über das Konzentrationslager Ravensbrück werden noch Generationen von Forschenden greifen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Nationalsozialisten haben in den zwölf Jahren ihrer Terrorherrschaft mehr und schlimmere Verbrechen begangen, als sich das menschliche Vorstellungsvermögen bis dahin ausmalen konnte. Sie brachen den bestialischsten Krieg der Menschheitsgeschichte vom Zaun und ermordeten Abermillionen unschuldiger Menschen allein wegen ihres jüdischen Glaubens. Im Zentrum des Holocaust und der Massenmorde an all den Menschen und Volksgruppen, die ihnen als ‚unwertes Leben‘ galten, stand die Todesmaschinerie der Konzentrations- und Vernichtungslager. Die Geschichte des einzigen Frauenkonzentrationslagers unter ihnen hat die britische Journalistin Sarah Helm nun in ihrer großangelegten Studie „Ohne Haar und ohne Namen“ untersucht, um „Licht auf die Verbrechen der Nazis gegen Frauen zu werfen“ und zugleich zu zeigen, „wie ein Begreifen des Geschehens im Frauengefängnis die ganze Nazigeschichte aufklären kann“. Der letzte Anspruch ist vielleicht zu hoch, weil ein Moment nie umfassend Auskunft über ein Ganzes geben kann. Dennoch ist ihre Arbeit über das KZ Ravensbrück fraglos von unschätzbarem Wert. Denn sie rekonstruiert nicht nur die Geschichte des KZ und die individuellen Verbrechen der befehlshabenden SS-Männer und der Wärterinnen, sondern gibt vor allem den gefangenen und ermordeten Frauen ihre Geschichte, ihre Namen, ihre Individualität und Identität wieder, die ihnen die Nazis nahmen, um sie nicht nur ihres Lebens, sondern auch ihrer Würde zu berauben. Darum schildert Helm die Abschiedsszenen beim ersten „Sondertransport“ hunderter zu ermordender Frauen in die Gaskammer von Bernburg so individuell wie möglich, ebenso die ganz persönlichen Bestialitäten der SS-Verbrecher. Ehr- und würdelos sind nicht die Ermordeten und Erniedrigten, sondern ihre PeinigerInnen und MörderInnen.

Helm hat nicht nur gründliche Quellenstudien in zahlreichen Archiven betrieben, sondern führte in den letzten Jahren in halb Europa zahlreiche Gespräche mit ehemaligen Gefangenen. So etwa mit Maria Bielicka, die Im Januar 1941 im Alter von nur 19 Jahren als polnische Untergrundaktivistin verhaftet und später nach Ravensburg deportiert wurde. Helm traf die zu diesem Zeitpunkt 89-Jährige 2010 in London. Diese Gespräche waren für Helms „kollektive Biographie“ weit wichtiger noch als ihre Archiv-Recherchen, denn „die Stimmen der Gefangenen selbst“ wurden ihr zum „Leitfaden für das, was wirklich geschah“.

Das Frauenkonzentrationslager Ravensrück wurde im Mai 1939 in Betrieb genommen und im gleichen Monat des Jahres 1945 von der Roten Armee befreit. In den sechs Jahren seines Bestehens waren insgesamt etwa 130.000 Frauen rund 40 verschiedener Nationalitäten gefangen. Zeitweise war das Lager mit 45.000 Frauen gleichzeitig belegt. Die geschätzte Zahl der Gefangenen, die die mörderische Lagermaschinerie nicht überlebten, schwankt zwischen 30.000 und 90.000.

Nur wenige hundert Meter von der Südmauer entfernt errichtete die Firma Siemens Werkhallen, in denen sich die gefangenen Frauen während des Krieges als Zwangsarbeiterinnen an der Waffenproduktion beteiligen mussten. Im Herbst 1944 waren unter den 2.300 Zwangsarbeiterinnen etliche Minderjährige. Zwar war Siemens das erste Unternehmen, das Produktionsstätten auf einem KZ-Gelände errichtete und Zwangsarbeiterinnen ausbeutete, doch sprach sich sein ebenso rentabler wie mörderischer Ausbeutungserfolg bald unter deutschen Großunternehmen herum und andere Konzerne wie Daimler-Benz oder Heinckel ließen sich für ihre Rüstungsproduktionen von den Nazi-Herrschern ebenfalls ZwangsarbeiterInnen zuführen. Entschädigungen geringen Ausmaßes erhielten die überlebenden ZwangsarbeiterInnen erst Jahrzehnte später. So berichtet Helm, dass etwa Siemens stets jede Haftung ablehnte und behauptete, unter Zwang gehandelt zu haben. Der Konzern zahlte deshalb nur „widerwillig“ kleinere Summen in einen Entschädigungsfond ein.

Helm folgt der Geschichte des Lagers insgesamt chronologisch, wirft dabei in den einzelnen Kapiteln jedoch zugleich Schlaglichter auf bestimmte Personengruppen wie den weiblichen Pendants der Kapos, den sogenannten „Blockovas“. Ursprünglich wurden nur Frauen, die als „Kriminelle“ und „Asoziale“ einsaßen, in dieser Stellung eingesetzt, die mit einigen Vergünstigungen und vor allem einer gewissen Macht über andere Gefangene einherging. 1940 aber gelang den gefangenen Kommunistinnen ein „Putsch“, indem sie einer der kriminellen Blockovas Diebesgut unterschoben und sie anschließend denunzierten. „Niemand dachte an das Schicksal der rausgekanteten Frauen; die Kommunistinnen dachten zuerst an die eigenen Genossinnen“, merkt Helm an. Wie sich bald zeigte, „waren einige politische Blockovas anscheinend ebenso schnell wie die Aufseherinnen, wenn es ‚Asoziale‘ zu melden gab“. Nach den Kommunistinnen „setzten“ polnische Blockovas „die Regeln der SS durch“. Auch von ihnen scheinen Helm zufolge nur wenige an ihrer Kooperation mit der SS gezweifelt zu haben.

Ganz anders hingegen die von ihren Mitgefangenen als „Kaninchen“ bezeichneten Frauen. So wurden die polnischen Gefangenen genannt, an denen auf Befehl Himmlers ab 1942 qualvolle und nicht selten tödlich endende medizinische Versuche durchgeführt wurden. Den Frauen wurden tiefe Wunden an den Beinen zugefügt, die mit Bakterien infiziert wurden. Zudem wurden Schmutz sowie Glas- und Holzsplitter in die frischen Wunden gedrückt. Anderen wurden Knochen gebrochen, entfernt oder ganze Glieder amputiert. Endeten die Experimente nicht tödlich, wurden die Gefangenen nicht selten erschossen, um die Verbrechen zu vertuschen. Zu Recht geißelt Helm die „grotesk-absurde Haltung“ des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) als „skandalös“, da diese „weltweit bedeutendste humanitäre Organisation“ sehr genau „von den Gräueltaten wusste“. Doch unternahm das IKRK nicht nur nichts gegen sie, sondern weigerte sich sogar, sein Wissen um die Menschenversuche an die Öffentlichkeit weiterzugeben.

Die Bezeichnung „Kaninchen“ aber wurde zum Ehrennamen, denn aus ihnen rekrutierte sich noch während und nach den Experimenten die effektivste Widerstandsgruppe des Lagers. Die polnischen Frauen, welche die Menschenversuche der ‚Ärzte‘ überlebten, schufen ein ebenso wagemutiges wie ausgeklügeltes System, um Informationen nach außen zu schmuggeln und ihren Angehörigen zukommen zu lassen. Vier gefangene Frauen, unter ihnen die Schwestern Janina und Krystina Iwańska, hatten 1942 damit begonnen, mit Urin Nachrichten auf die Umschläge der wenigen ihnen offiziell gestatteten Briefe zuschreiben. 1944 zählte die Widerstandsgruppe der „Kaninchen“ 77 Frauen. 2010 konnte die Autorin in der Wohnung von Krystina Iwańska und ihrer Tochter die zerbröselnden Blätter einiger Kassiber einsehen. 1945 sollten alle „Kaninchen“ getötet werden. Jedoch konnten die geplanten Morde dank der lagerweiten Solidarität nicht ausgeführt werden, denn die Widerstandskämpferinnen wurden von ihren Mitgefangenen in den Baracken verschiedener Blocks versteckt: „Nicht eine von ihnen wurde verraten oder erwischt.“

Steht eines der Kapitel des Buches unter dem Ehrennamen der Widerständlerinnen, so gelten andere bestimmten Einrichtungen, die der Erniedrigung der Gefangenen durch sinnlose Arbeit dienten, wie der „Sandgrube“, in der die Frauen tagein, tagaus Sand von einem Haufen auf einen anderen und dann wieder zurück schaufeln mussten. Wieder andere Abschnitte stehen unter dem Namen bestimmter Personen wie den berüchtigten SS-Ärzten Walter Sonntag und Friedrich Mennecke oder demjenigen der ersten Oberaufseherin Johanna Langefeld, die nach dem Krieg nie zur Verantwortung gezogen wurde und erst in den 1970er-Jahren völlig unbehelligt starb. War Langefeld auch Oberaufseherin, so lag das Oberkommando doch stets – selbstverständlich, möchte man sagen – in männlicher Hand. In den ersten Jahren hatte es der SS-Hautsturmführer Max Koegel inne. Die Aufseherinnen waren ihm und anderen SS-Männern als bloße Angestellte ohne Dienstgrad oder -rang untergeordnet. Meist bewarben sich stellenlose Fabrikarbeiterinnen oder Frauen, die nicht wussten, „wo sie sonst hätten hingehen können“, wegen der guten Entlohnung und des als sicher geltenden Arbeitsplatzes um eine Stelle als Aufseherin. Nicht selten waren es auch junge Frauen, halbe Mädchen noch, aus den um das KZ gelegenen Dörfern und Städtchen. So etwa Dorothea Binz, ein „Kleinstadtmädchen“ aus einem kleinen Ort in der Nähe des KZ. Als sie sich um eine Stelle als Wärterin bewarb war sie gerade 19 Jahre alt. Sie war, wie Helm formuliert, „ein unbeschriebenes Blatt“ und „lernte das Leben in ihren sechs Jahren als Aufseherin kennen; die Welt des Lagers war – für sie – die Normalität“. Während dieser Zeit entwickelte die junge Frau eine selbst unter den Wärterinnen außergewöhnliche „Lust am Quälen“, die sie unter den Gefangenen zu einer der gefürchtetsten Aufseherinnen machte. Anders als Langefeld wurde sie unmittelbar nach Kriegsende verhaftet, vor Gericht gestellt und 1947 hingerichtet.

Die gefangenen Frauen waren nicht nur dem Sadismus von Wärterinnen wie Binz ausgesetzt, sondern erlitten vom ersten Tag an sexualisierte Erniedrigungen. Schon am Tag ihrer Ankunft mussten sie sich in Anwesenheit von SS-Männern vollständig entkleiden, einigen von ihnen wurden zudem die Haare inklusive der Schamhaare rasiert, wenn sie nicht gar gezwungen wurden, sich in die Vagina schauen zu lassen. Wie selbstverständlich war es nur eine Frage der Zeit, bis Bordelle eingerichtet wurden, in denen gefangene Frauen aus Ravensbrück als Prostituierte für Männer-KZs missbraucht wurden.

Die Zusammensetzung der Gefangenen spiegelte die Heterogenität der Gesellschaft wider, zunächst die der deutschen, im Laufe des Krieges zunehmend die der europäischen. „Berufsverbrecherinnen“ und „Asoziale“, Sinti und Roma, Prostituierte, Intellektuelle und Zeuginnen Jehovas zählten ebenso zu den Gefangenen wie die Jüdinnen, Kommunistinnen und Sozialdemokratinnen. Die Jüdinnen wurden von Beginn an noch stärker gequält und misshandelt als alle anderen Gefangenen, von denen nicht wenige selbst antisemitisch waren. Helm erwähnt in diesem Zusammenhang  namentlich Kommunistinnen. Den Zeuginnen Jehovas wiederum stand es zwar jederzeit frei, zu gehen, sofern sie ihrem Glauben abschworen. Von den vielen Hundert Angehörigen der religiösen Sekte waren aber nur ganze fünf dazu bereit. Fast alle anderen wurden in den letzten Jahren vergast.

Am wenigsten konnte Helm über die „Kriminellen“ und „Asozialen“ herausfinden. Anders als von Intellektuellen und politischen Gefangenen gibt es von ihnen keine Berichte oder gar veröffentlichte Memoiren. Denn Kriminelle, Prostituierte und andere Gefangene aus der Unterschicht mussten nach Kriegsende befürchten, „noch mehr Schande auf sich zu ziehen“, wenn sie über ihre Internierung sprachen. Sie hatten zudem keinerlei Entschädigung für das erlittene Unrecht zu erwarten, zumal die deutschen Gefangenenhilfsorganisationen „von den Politischen dominiert“ wurden, die sich überwiegend für ihre kommunistischen GesinnungsgenossInnen einsetzten. So gab es zwar viele Tausende „Asoziale“ in dem Frauen-KZ, doch nicht eine von ihnen sagte nach dem Krieg als Zeugin in einem der Ravensbrück-Prozesse oder einem der anderen Gerichtsverfahren gegen KZ-AufseherInnen aus. Aus all diesen Gründen konnte Helm zwar viel darüber in Erfahrung bringen, was „die Politischen“ über die „Asozialen“ dachten, nicht jedoch, was diese umgekehrt über jene dachten. Um mehr über die „Asozialen“ zu erfahren, musste die Autorin auf einige spärliche Hinweise in Unterlagen der NS-Bürokratie zurückgreifen. Anhand dieser Akten gelang es Helm, auch einigen der „Asozialen“ ihren Namen und ihre Geschichte zurückzugeben. Sie hießen etwa Anna Sölzer, Ottilie Görres oder Else Krug. Krug war eine der zahlreichen Prostituierten im Lager. Um ihren Stolz zu brechen, befahl der Lagerkommandant Koegel ihr, die von ihm verhängte Prügelstrafe an einer Mitgefangenen zu vollziehen. „Nein, Herr Lagerkommandant“, erwiderte sie, „ich schlage niemals einen Mithäftling.“ Diese Weigerung büßte sie bald darauf mit dem Leben. Eine anderen Frau, der die Autorin ihren Namen widergibt, war Katharina Waitz. Der Trapezkünstlerin gelang dreimal die Flucht. Doch wurde sie jedes Mal wieder eingefangen. Ihre letzte Flucht endete nach drei Tagen. In dieser Zeit hatten ihre Mitgefangenen im Strafblock ohne Nahrung „strafstehen“ müssen. Wie andere ehemalige Gefangene später berichteten, übergab Koegel die durch Hundebisse schwer verwundete Geflüchtete nach ihrer Ergreifung den Frauen im Strafblock mit dem Worten, sie sollten sich „mit ihr amüsieren“. Katharina Waitz wurde von ihnen „buchstäblich zu Tode“ getrampelt.

Im Laufe des Krieges wurden immer mehr Gefangene aus den besetzten Ländern nach Ravensbrück verschleppt. Unter ihnen sehr viele Polinnen und nicht wenige Rotarmistinnen. Letzteres stand durchaus nicht im Einklang mit der Genfer Konvention. Die Stimmen der russischen Soldatinnen, „deren Berichte in offiziellen Texten leblos wirken“, lässt Helm aus deren in der Gedenkstätte Ravensbrück gelagerten privaten Aufzeichnungen erklingen. Und „nun schwatzen sie, trauern, erinnern sich, lügen, klagen an, lachen und erzählen Geschichten, die vor- und zurückspringen“. Gerade für die Rotarmistinnen gab es nach der Befreiung kein wie auch immer geartetes glückliches Ende, galten sie Stalin doch schon alleine aufgrund ihrer Gefangennahme als Kollaborateurinnen mit den Nazis. Kein Jahr nach Kriegsende  wurden sechs der im KZ Ravensbrück gefangenen Rotarmistinnen von einem Leningrader Gericht der Kollaboration mit den Faschisten für schuldig befunden und nach Sibirien in den Gulag verschleppt. So wurden alle anderen in Angst und Schrecken gehalten.

Aus Frankreich wurden nicht nur Frauen aus der Résistance und zahlreiche Jüdinnen ins KZ Ravensbrück verschleppt, sondern auch – wie die Autorin vermutet – tausende Prostituierte. Keine einzige der Memoiren ehemaliger französischer Gefangener nennt auch nur einen Namen einer mitgefangenen Prostituierten, klagt Helm. Dabei waren auch von ihnen einige in der Résistance tätig, wo sie „vor allem hinsichtlich der Fluchtlinien eine entscheidende Rolle spielten“. Sie versteckten etwa abgeschossene alliierte Flieger in Bordellen wie eine junge Frau, von der Helm immerhin herausfinden konnte, dass sie mit Vornamen Simone hieß und nach dem Krieg den von ihr geretteten Piloten heiratete.

Eine weitere, allerdings informelle Gruppe im KZ Ravensbrück war die der Lesben. Zwar war gleichgeschlechtliche Liebe unter Frauen auch im Nationalsozialismus nicht verboten. Dennoch wurden lesbische Beziehungen innerhalb des Lagers nicht erlaubt und wurden streng bestraft. Dies galt auch für Aufseherinnen, die „im Verdacht standen, lesbisch zu sein“. Zudem wurden die Lesben von heterosexuellen Mitgefangenen diskriminiert. So schreibt Wanda Wojtask 1948 in ihren Erinnerungen an die KZ-Zeit, lesbische Liebe „verschandele den Menschen“. Angesichts der „unwahrscheinlichen Szenen“ zwischen lesbischen Frauen habe sie aufgehört, „an Zärtlichkeit und Reinheit zu glauben“.

Von Herbst 1944 an kamen immer größere Gefangenengruppen nach Ravensbrück. Es handelte sich in erster Linie um Häftlinge aus Auschwitz und anderen Todes- und Konzentrationslagern, die von den Alliierten befreit wurden. Aber auch aus Ländern wie Ungarn erreichten zahlreiche neue Gefangene das Lager. Weil die Baracken des KZ Ravensbrück nicht ausreichten, um sie alle unterzubringen, mussten sie in einem 10 mal 40 Meter großes Armeezelt hausen. In diesem Herbst wurden bis Anfang Oktober 12.000 Warschauerinnen eingeliefert, von denen etwa jede zehnte schwanger war. Erstmals wurden Kinder im KZ Ravensbrück geboren. Bislang waren Föten zwangsabgetrieben worden. Doch dazu reichten die Kapazitäten der Mörder nun nicht mehr aus. Daher ließen sie möglichst viele der Neugeborenen „vorsätzlich verhungern“. Dennoch waren im Herbst 1944 „überall im Lager“ Kinder zu sehen, die nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto mit ihren Eltern verschleppt worden waren. Die Autorin beziffert die Zahl dieser Kinder auf insgesamt 400 bis 500. In den ersten Monaten des Jahres 1945 nahmen die Nazis an 200 jungen Mädchen und 500 in Ravensbrück gefangenen Frauen Massensterilisationen vor, „indem eine Substanz unter Druck in die Gebärmutter eigespritzt und die Wirkung auf die Eileiter auf einem Röntgenschirm beobachtet“ wurde. Begonnen wurde mit den acht- bis zehnjährigen Mädchen.

Ebenfalls im Herbst 1944 waren Rudolf Höß und andere Schlächter aus Auschwitz nach Ravensbrück gekommen, wo sie nun ihrem mörderischen Geschäft nachgingen. Es war Himmler, der „in den letzten Kriegsmonaten persönlich den Befehl zu einem Massenvernichtungsprogramm im Frauenlager gab“. Er besagte, dass rückwirkend von den vergangenen sechs Monaten an allmonatlich 2.000 der Frauen zu ermorden seien. Die SS vor Ort versuchte dem mörderischen Befehl nach Kräften nachzukommen. Im Angesicht des eigenen Endes erschossen die Nazis täglich 50 Frauen und vergasten bis Mitte Februar mindestens weitere 1.500 in eigens errichteten Gaskammern, die offenbar mobil waren. Da ihnen das Morden mittels Knickschuss und Gas noch immer zu langsam ging, wurden zahlreiche Frauen zudem durch gezielte Unterversorgung und Massenvergiftungen ermordet oder indem man sie verhungern und erfrieren ließ.

Am 28. April frühmorgens begann der Auszug aus dem KZ Ravensbrück quasi unter dem Donnern der nicht mehr allzu fernen Geschütze der Roten Armee. Zwei Tage später erreichten russische Soldaten das KZ. Damit jedoch hatte das Martyrium der Frauen keineswegs ein Ende. Vergewaltigungen durch Rotarmisten, die dabei weder zwischen Nazis und Häftlingen noch zwischen deutschen, jüdischen oder anderen gefangenen Frauen unterschieden, gehörten zur Tagesordnung. Wanda Wojtasik, eine der polnischen „Kaninchen“, erinnert sich in ihren Memoiren, dass es in dieser Zeit „unmöglich gewesen“ sei, „einem einzigen Russen zu begegnen, ohne vergewaltigt zu werden“.

Die Bedeutung des vorliegenden Buches kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dennoch sind abschließend einige Worte der Kritik vonnöten. Sie gelten insbesondere der Übersetzung. Den Lesenden wird angesichts einer ernsthaften, ja bedrückenden Lektüre wie dieser schwerlich nach Scherzen zumute sein. Umso empfindlicher werden sie reagieren, wenn sie unvermutet auf ein unangebrachtes Scherzwort stoßen, wie das aus nichtsdestoweniger und trotzdem amalgierte nichtsdestotrotz. Es wird ihnen auf den ersten Seiten gleich mehrfach und im weiteren Verlauf der Lektüre noch gelegentlich zugemutet. Der Autorin ist das natürlich nicht anzulasten. In der Originalausgabe findet sich an den fraglichen Stellen jeweils ein schlichtes „nevertheless“ – also nichtsdestoweniger. Anzukreiden ist der Fehlgriff also vielmehr dem offenbar mangelhaften Sprachgefühl des dreiköpfigen ÜbersetzerInnenteams sowie dem Lektorat. Zudem erweist sich die Übersetzung mehrfach als sehr lückenhaft und frei, auch weichen die Zitate in Umfang und Auswahl der zitierten Passagen nicht selten gravierend von denjenigen im Original ab.

Anderes hingegen geht sehr wohl auf das Konto der Autorin, doch handelt es sich dabei – soweit ersichtlich – um Marginalien. So ist es zwar eine allgemein bekannte Tatsache, dass sich „Töchter aus gute[m] Haus“ in den 1920er-Jahren die Haare kurz schnitten. Die Behauptung der Autorin, dies sei, „angeregt durch Rosa Luxemburg“ geschehen, hält jedoch schon einer oberflächlichen kulturhistorischen Nachforschung nicht stand. Von Olga Benario wiederum heißt es, sie sei 35 Jahre alt gewesen, als sie im November 1936 in die Hände der Gestapo fiel. Tatsächlich war die 1908 geborene Kommunistin zu diesem Zeitpunkt allerdings erst 28 Jahre alt.

All dies tut dem entscheidenden Punkt jedoch keinen Abbruch. Das Buch muss gelesen werden, nicht nur in den Schulen und in den Universitäten, nicht nur in historischen Seminaren. Es soll und muss gelesen werden von einem und einer jeden. Zwar macht das Grauen des Geschehenen, von dem das Buch berichtet, die Lektüre kaum erträglich. Dennoch sollte man, ja muss man es lesen, auch wenn man Gefahr läuft, Alpträume zu bekommen. Langsam und gewissenhaft muss man es lesen, ohne auch nur ein einziges Wort auszulassen. Es ist ein Akt der Ehrerbietung den leidenden und gemarterten Frauen gegenüber und denjenigen unter ihnen, „die sich verweigert haben“. Ihnen hat die Autorin das Buch gewidmet. Aber ebenso um der ihrer selbst willen sollten die Menschen das Buch lesen. Vor allem aber, damit sich nie wieder und nirgendwo ein solches Alpträume bereitendes Grauen wiederholen möge.

Man sollte bekanntlich vorsichtig damit sein, einem Buch bereits bei seinem Erscheinen den künftigen Status eines Standardwerkes zuzuschreiben. Im vorliegenden Fall ist das jedoch kein großes Wagnis. Mehr noch: Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Sarah Helms Buch über das KZ Ravensbrück für lange Zeit ein Standardwerk bleiben wird bleiben. Niemand, der sich mit den Konzentrationslagern der Nazis ernsthaft befasst, wird an ihm vorbeikommen. Generationen von Forschenden werden es zurate ziehen.

Titelbild

Sarah Helm: Ohne Haar und ohne Namen. Das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück.
Übersetzt aus dem Englischen von Martin Richter, Annabel Zettel und Michael Sailer.
Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2016.
802 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783806232165

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