Marx lesen im 21. Jahrhundert

Ein Handbuch sucht die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Philosophen

Von Detlev MaresRSS-Newsfeed neuer Artikel von Detlev Mares

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Herausgeber eines Handbuchs zu Karl Marx sind nicht zu beneiden. Eine geradlinige Zuordnung ihres Protagonisten zu einer der heute gewohnten wissenschaftlichen Disziplinen ist kaum möglich – er stand über den Grenzziehungen zwischen Philosophie, Soziologie und Ökonomie, war Journalist und Revolutionär, nahm in massentauglichen Pamphleten Stellung zu Tagesereignissen, trug aber gleichzeitig auf höchstem Abstraktionsniveau zu den intellektuellen Debatten seiner Zeit bei. Noch nicht einmal berücksichtigt sind in dieser Skizze die weltumspannenden Folgen seines Denkens im 20. Jahrhundert, seien es die von ihm ausgehenden Anregungen für fast alle Human-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, seien es die Umsetzungsversuche in teilweise brutalen, grandios gescheiterten politischen Experimenten.

Ein Handbuch kann in dieser Situation thematische Breite oder sektorale Tiefe anstreben. Das vorliegende, von Michael Quante und David P. Schweikard herausgegebene „Marx-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung“ verbindet beides. Gemäß der Metzler-Handbuchreihe, in der es erscheint, wird der ökonomische und – vor allem – philosophische Denker eingehend behandelt. Zugleich werden Leben und Werk bis weit in die Rezeptionsgeschichte hinein erfasst. Die Biografie von Karl Marx wird eingangs kurz umrissen, bevor eine ausführliche Darlegung seiner Werke folgt. Im Zentrum dieser Werkpräsentation finden sich zwei große Abschnitte zu den philosophischen und ökonomischen sowie ein kürzerer zu den politischen Schriften. An diese schließt sich ein weiteres Großkapitel zu „Grundbegriffen und Konzeptionen“ an, in denen ebenfalls Philosophie und Ökonomie dominieren. Im abschließenden Kapitel zur Rezeption stehen philosophische Auseinandersetzungen mit Marx im Vordergrund, bevor seine Ausstrahlung in vierzehn weitere Disziplinen – von Soziologie und Geschichtswissenschaft über Pädagogik und Psychologie bis hin zu Mathematik und den Naturwissenschaften – vorgestellt wird.

Diese Gesamtkonzeption verleiht dem Band gewisse Eigenarten und hat stellenweise ihre Tücken. Bewusst wird das Autorenduo Marx/Engels auseinanderdividiert, um dem Bedeutenderen der beiden gerecht werden zu können. Dies wird plausibel begründet, zumal Friedrich Engelsʼ Rolle als Mitautor und später als Herausgeber der Schriften seines verstorbenen Freundes an den entsprechenden Stellen berücksichtigt wird. Dabei fehlt es nicht an der gebotenen Skepsis gegenüber seinen Eingriffen in die Textgestaltung und seiner problematischen Selbstwahrnehmung als erster Interpret des Marxʼschen Œuvres. Ebenso ist zu verschmerzen, dass seine Biografie nur als „Exkurs“ auf wenigen Seiten abgehandelt wird; doch warum sind die Literaturhinweise derart knapp gehalten, dass selbst die frühe, maßstabsetzende Engels-Biographie von Gustav Mayer keine Erwähnung findet? Auch im Fall von Marx wirken die Literaturhinweise, die zu den Teilkapiteln und als abschließende Auswahlbibliografie geboten werden, in der Gesamtschau oft lückenhaft. Angesichts der Fülle an Literatur, die zu Marx verfügbar ist, wird niemand eine Vollständigkeit der Angaben erwarten. Manche der Literaturlisten lassen aber nicht erkennen, dass sie eine systematisch begründete Titelauswahl anstreben würden (so beispielsweise zu Marx als Politiker). Der Gebrauchswert des Handbuchs als Ausgangspunkt für weitergehende Recherchen hätte sich an diesen Stellen leicht steigern lassen; auch ein eigener Eintrag zu den zentralen Wandlungen des Marx-Bildes wäre hilfreich gewesen.

Generell kommt die historische Figur Karl Marx eher wenig zur Geltung. Die journalistischen und politischen Schriften, in die er viel Schaffenskraft investierte, werden nur knapp präsentiert; der umfangreiche Briefwechsel wird nicht eigens analysiert. Auch diese Selbstbeschränkungen sind angesichts der Konzentration des Handbuchs auf den philosophischen und ökonomischen Denker plausibel. Dennoch hätte mancher eher historische Beitrag den Band sinnvoll abrunden können. Zwar finden sich knappe Hinweise zu „Realisierungsversuchen“ bei Lenin und Mao (kaum aber zur Bedeutung des Marxismus in Lateinamerika, der späteren Sowjetunion oder in Osteuropa), doch die historische Rezeption durch die Arbeiterbewegung wird nicht eigens thematisiert. Wegscheiden wie der Revisionismus-Streit finden sich – teilweise randständig – eingeordnet in die Theoriekapitel (im vorliegenden Fall in den Eintrag zu „Revolution“). Der Nutzung des Handbuchs für die Rekonstruktion solcher Zusammenhänge wäre neben dem Personenregister ein Sachregister dienlich gewesen.

Wichtiger aber angesichts des selbstgewählten Schwerpunkts ist die Darstellung des philosophischen und ökonomischen Denkens von Marx – und hier finden sich glänzende, teilweise regelrecht spannende Beiträge. Die schwierige Frage nach dem System- oder Fragmentcharakter des Marxʼschen Werks wird nicht von allen Autoren gleich beantwortet, aber größtenteils transparent reflektiert. Für die entsprechenden Debatten wesentlich sind die Überlieferungsweisen der einzelnen, zu Lebzeiten von Marx oft unveröffentlichten Schriften; umso wichtiger ist das recht kurze, aber in diesem Kontext zentrale Kapitel zur Editionsgeschichte. Auch im Fall des „Kapital“ geht der inhaltlichen Vorstellung eine Auseinandersetzung mit dem „Dickicht aus Manuskripten und Editionen“ voran. Prononciert wird die These vertreten, dass Marx in seinen ökonomiekritischen Texten ab 1857 an zwei unterschiedlichen, jeweils mehrbändigen Projekten arbeitete. Manche der in der Forschung häufig als Vorstufen des „Kapital“ behandelte Schriften (wie die „Grundrisse“) entstammen nach dieser Lesart dem parallel verfolgten Projekt, waren also keine unmittelbaren Entwürfe für das berühmte Hauptwerk.

Die detaillierte Vorstellung einzelner Schriften lässt die Verschränkung von Arbeits- und Denkprozess bei Marx plastisch hervortreten. Es wird deutlich, wie er bestimmte Themen regelrecht umkreiste, sich an anderen Autoren abarbeitete und immer wieder zu neuen Formulierungen seiner eigenen Positionen gelangte. Diese lassen sich oft nicht widerspruchsfrei miteinander in Einklang bringen – stellenweise sprechen die Autoren des Handbuchs explizit von theoretischen Defiziten und Sackgassen im Denken ihres Protagonisten. Das Hauptkapitel zur Dialektik (die gleich an verschiedenen Stellen des Handbuchs in unterschiedlichen Zusammenhängen eingehender behandelt wird) beschreibt einen „Selbstverständigungs- und Explikationsdiskurs“, in dessen Verlauf Marx Modifikationen und didaktische Umformungen vornahm, sodass es schwer ist, „die Frage nach Funktion und Struktur der Dialektik im Denken von Marx angemessen zu beantworten“. Auch der berühmte „Leitfaden“ aus dem ersten Heft der „Kritik der politischen Ökonomie“ von 1859, der das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, Basis und Überbau eingängig und deswegen vielzitiert präsentiert, wird gleich in mehrfacher Hinsicht als „unscharf“ argumentierend dekonstruiert.

Solche Passagen des minutiösen und kritisch-denkerischen Nachvollzugs befreien Marx aus den Fesseln einer dogmatisierten Rezeptionsgeschichte, auch wenn diese nicht völlig gebannt erscheint. So wird die Pariser Kommune im biografischen Abriss lakonisch als „lokal realisierte Diktatur des Proletariats“ bezeichnet, ohne dass diese auf Marx zurückführende Charakterisierung auf ihre historische Validität hin überprüft würde; auch wenn Marxʼ Kommune-Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ als Beitrag zu seiner „Transformationstheorie“ präsentiert wird, prägt die Begrifflichkeit der Rezeptionsgeschichte die Perspektive auf das Werk. Größere Berechtigung als bei den Werkvorstellungen hat diese Perspektive im Kapitel zu den philosophischen Grundbegriffen. Hier wird das Denken von Marx auf seine Bedeutung für Kernbereiche der Philosophie wie Erkenntnistheorie, Ontologie und Ethik befragt und damit oft notgedrungen in Kategorien gefasst, die von außen an ausgewählte Stellen seines Werkes herangetragen werden. Die hier präsentierten Systematisierungen seines Denkens stehen teilweise in einem – gelegentlich auch explizit benannten – Spannungsverhältnis zu den vorangegangenen Darlegungen seines Arbeits- und Denkprozesses.

Im Rezeptionsteil stehen ausdrücklich unterschiedliche Perspektiven auf das Werk im Fokus des Interesses. Über die Auswahl der Marx-bezogenen „philosophischen Strömungen“ lässt sich wie üblich streiten – so fallen unter den Begriff „Strömungen“ immer wieder Personen (Antonio Gramsci, Rosa Luxemburg, Ernst Bloch, Louis Althusser, Leo Trotzki) und es lässt sich fragen, warum beispielsweise der Feminismus nicht genannt wird (insgesamt erscheint die Beschäftigung mit Marx im Handbuch als sehr maskulines Phänomen – nur wenige der 33 Beiträger sind Frauen, die überhaupt nur im Rezeptionsteil vertreten sind). Es kommen aber immerhin auch Marx-kritische Stimmen zu Wort, so der Kritische Rationalismus Karl Poppers.

Insgesamt ist ein anregendes Handbuch gelungen, das gerade in den Werkpräsentationen einen faszinierenden Sog entwickelt und zum Nachvollzug der Marxʼschen Denkprozesse sowie der Auseinandersetzung mit den Brüchen in seinem Werk einlädt. Damit wird das Unabgeschlossene seines Denkens betont und eine rasche Systematisierung vermieden, wenn auch nicht von allen Autoren und in allen Kapiteln in gleichem Maße. Die Potenziale zur expliziten Historisierung, die auch in dieser Zugangsweise liegen, werden allerdings nicht konsequent entwickelt, da der Fokus des Bandes auf der Entwicklung und Wirkung des bedeutenden Denkers liegt. Dieser Interessenshorizont ist dafür breit abgesteckt, womit nun hilfreiche Bausteine für eine neue Phase der Marx-Lektüre im 21. Jahrhundert vorliegen.

Titelbild

Michael Quante / David P. Schweikard (Hg.): Marx – Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
Unter Mitarbeit von Matthias Hoesch.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2015.
443 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783476023322

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