Luthers Erbe?

Wolfgang Wippermanns Etikettenschwindel

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Rezensent gesteht, dass es ihm bei diesem Buch wie mit einer enttäuschten „Liebe“ gegangen ist: man sieht eine schöne Gestalt und ist unmittelbar von ihr angetan, doch wenn die Schöne den Mund auftut und man einen grausigen Dialekt hört, schlechte Zähne sieht und Fäulnis riecht, ist die Enttäuschung riesengroß und man wendet sich mit Grausen ab. Genau so geht es mit dem Buch von Wolfgang Wippermann mit dem verheißungsvollen Titel „Luthers Erbe“. Womöglich stammt dieser Titel gar nicht von ihm, sondern von scheinbar cleveren Verlagsstrategen, die eifrig auf den wachsenden Zug der Luthermania anlässlich des ominösen 500-Jahre-Jubiläums 2017 aufspringen wollten. Selbst wenn es so wäre, könnte man den Autor nicht von Verantwortung für diesen irreführenden Titel freisprechen, der vielleicht wirklich eine „Kritik des deutschen Protestantismus“ vorlegen wollte. Aber selbst damit hapert es.

Schon die Einleitung belehrt den Leser, dass er mit seiner Erwartung wegen des Titels auf dem Holzweg war. Diese Einleitung beginnt mit einem Zitat des sogenannten Darmstädter Worts, in dem der Bruderrat der Evangelischen Kirche 1947 eine Art Schuldbekenntnis ablegt über das kirchliche Verhalten während der nationalsozialistischen Diktatur. Die evangelische Kirche sei „in die Irre gegangen“, so nimmt Wippermann einen zentralen Begriff des Darmstädter Worts auf, „weil sie Staat, Krieg und Kapital für gut, Juden, Roma und Frauen dagegen für böse gehalten haben.“ So weit, so schlicht. Ohne zu diskutieren, ob diese simple Zuspitzung überhaupt stimme oder zulässig sei, begibt sich der Autor ganz retro in die 1970er Jahre und erklärt im Ton dieser Zeit, dass seine Behauptung „im Folgenden mithilfe von ideengeschichtlichen Methoden und durch einen ideologiekritischen Zugriff dargestellt und kritisiert“ werde. Und fügt nur einen einzigen Satz hinzu, der einen Bezug zum Buchtitel herstellt: „Im Zentrum der Kritik des deutschen Protestantismus stehen Luther und sein (ideologisches) Erbe.“ Das ist ein ganz offensichtlich sinnloser Satz in diesem Zusammenhang, auch und gerade, wenn man die nächsten Sätze liest, die das Vorgehen des Autors beschreiben sollen:

Wir beginnen jeweils mit dem, womit alles anfing und anfangen sollte: mit der Bibel und ihren Geboten und Verboten, und fragen in den ersten drei Kapiteln danach, ob die Kirche ‚Gott mehr gehorcht hat als den Menschen’, ihre und die ‚Feinde’ ihres Staates geliebt und nicht dem ‚Mammon’ gedient hat. Mit Kirche ist einmal die ‚alte’ beziehungsweise die Katholische Kirche gemeint, die dann von Luther reformiert und zur ‚neuen’ evangelischen Kirche gemacht worden ist.“ (Hervorhebung V. H.)

Hallo! Möchte man da rufen. Hier soll es doch um eine Kritik des deutschen Protestantismus und um Luther gehen! Hat Herr Wippermann da eine falsche Abzweigung genommen? Faktisch eindeutig ja, allerdings ziemlich bewusst, weil er doch ein paar so schöne ältere Aufsätze in der Schublade hatte, die er unbedingt der Zweitverwertung zuführen wollte. Da stört es dann nicht allzu sehr, wenn man mit Chuzpe eigenes Material recycelt und ein falsches Etikett draufpappt. Diese Behauptungen des Rezensenten verlangen nun natürlich nach Belegen:

Um sich mit Luthers Erbe kritisch auseinanderzusetzen, bedürfte es – für einen Historiker zumal – der Auseinandersetzung mit Luther in seiner Zeit (zum Beispiel sein Wandel von einer durchaus judenverstehenden zu einer brutal-radikal antijudaistischen Haltung im Laufe von 20 Jahren), um zu sehen, was denn das Erbe des sogenannten Reformators wäre. Diese Auseinandersetzung mit Luther fehlt nahezu vollständig.

Im Literaturverzeichnis ist Wolfgang Wippermann der am häufigsten genannte Autor (17 mal). Was wunder, dass die drei zentralen Themen (Juden, Roma, Frauen) dort schon behandelt wurden. Beim Zusammenführen der ganz offensichtlich schon vor Jahren geschriebenen Aufsätze für dieses Buch knirscht es an der einen oder anderen Stelle hörbar. Dass da das Lektorat gerade geschlafen haben muss, sei nur am Rand vermerkt (etwa wenn es heißt, „Ende des letzten Jahrhunderts“ und ganz offensichtlich das 19. Jahrhundert gemeint ist; der Aufsatz, mit dem sich Wippermann wohl selbst plagiiert, stammt vom Ende des 20. Jahrhunderts).

Was gibt es dann zu lesen in diesem Buch?

Durchaus verdienstvoll beispielsweise eine kleine Geschichte des Antiziganismus, der vorderhand allerdings nichts mit Luther oder der Reformation zu hat. Das gleiche gilt für das, was Wippermann „Antifeminismus“ nennt, und der in der christlichen Tradition fest verankert sei. Die Verwendung des Begriffs „Antifeminismus“ (er stammt aus dem 19. Jahrhundert) hält der Rezensent in diesem Zusammenhang für unglücklich und in Bezug zu biblischen oder vorreformatorischen Texten geradezu für ahistorisch. Die Verbindung zu Luther ist auch bei diesem Thema eher marginal.

Dass die Kirchengeschichte (evangelisch und katholisch), ausgehend von einem theologisch begründeten Antijudaismus bis hin zum rassistischen Antisemitismus unheilvoll ist, betont Wippermann zu Recht. Ebenso richtig prangert er die unkritische Reflexion kirchlicher Vertreter über Antisemitismus sowie das geradezu unchristliche Verhalten gegenüber verfolgten Mitmenschen nicht nur während der nationalsozialistischen Diktatur an. Doch mit Verlaub, das ist für den kirchlich Interessierten alles nicht neu, sondern ein vielfältig behandeltes Thema seit den 1970er Jahren, den Jahren, in denen Ideologiekritik über allem stand. Die Frage, inwieweit die evangelischen Kirchen (der Plural sei hier betont, Wippermann spricht, eher unevangelisch immer von der Kirche) gerade auch durch ihr Schweigen im Nationalsozialismus Schuld auf sich geladen haben, inwieweit es eine Traditionslinie von der lutherischen Reformation zur nationalsozialistischen und völkischen Ideologie gebe, gehört in der Regel zum Rüstzeug evangelisch-kirchlicher Diskussionen. Die „Stuttgarter Schulderklärung“ beziehungsweise des „Stuttgarter Schuldbekenntnisses“ von 1945 und die daran anschließenden zum Teil wütenden Auseinandersetzungen über dieses zentrale Dokument scheint Wippermann kaum zu kennen, geschweige denn zu würdigen. Dass die Schuldfrage, auch die Frage nach Antisemitismus in der Kirche, in manchen kirchlichen Kreisen noch immer nicht eindeutig beantwortet ist, bedarf auch heute noch der pointierten Auseinandersetzung. Wenn Wippermann diese gemeint haben sollte, hat er sich verirrt. Denn dazu ist dieses Buch leider nicht geeignet.

Fazit: Das Buch mit dem in die Irre führenden Titel „Luthers Erbe“ von Wolfgang Wippermann gehört zu der Kategorie „gut gemeint, aber nicht gut gemacht“. Eine konsistente „Kritik des deutschen Protestantismus“, die zweifellos immer wieder aufs Neue nötig ist, müsste anders aussehen als das Zusammenschustern für sich genommen verdienstvoller Einzelteile. Wobei einen schon wundert, wie ein Historiker streckenweise ganz und gar ahistorisch polemisiert. So wird auch noch die hin und wieder angebrachte Polemik unglaubwürdig.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Wolfgang Wippermann: Luthers Erbe. Eine Kritik des deutschen Protestantismus.
Primus Verlag, Darmstadt 2014.
224 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783863120726

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