Lass deine Komfortzone hinter dir

Anneliese Macintosh gelingt mit ihrem Erzählungsband „So bin ich nicht“ ein intensives Debüt

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Gretas Storys“ lautet der Untertitel von Anneliese Mackintoshs Band „So bin ich nicht“. Greta also erzählt aus ihrem Leben, von Kindheit und Jugend, von ihrer Familie und ihren wechselnden Freunden. Je mehr sie von ihrer Biografie preisgibt, desto düsterer wird das Bild: Der Vater ist an Krebs gestorben, die Mutter Alkoholikerin, Greta selbst trinkt auch ganz ordentlich und die Schwester ist nach einem Selbstmordversuch in der Psychiatrie. Greta ist in vielerlei Hinsicht eine Überlebende und versucht sich in der britischen Kunst der stiff upper lip: „Ich trinke ein Delirium Tremens, stelle meine Tattoos zur Schau und fühle mich heute mal zugehörig.“

In Macintoshs Stories hört man die Stimme einer neuen Generation: rau, patzig, unbestechlich und verletzt. Die Stimme einer Generation, die in ihrem Leben zu viele To-do-Listen angefertigt hat, die sich im Hamsterrad der Selbstoptimierung totläuft, die nach einem Internet-Artikel die Selbstdiagnose Borderline stellt, die sich im Sportstudio neben anderen Selbstoptimierern perfektioniert, die Motivationssprüche („SEI ALES WAS DU SEIN KANNST“) auf ihren T-Shirts trägt, die über prekäre Jobs nicht klagt, weil sie nichts anderes mehr kennt, aber im Grunde das Gefühl nicht los wird, von Anfang an verraten und verkauft zu sein. Sex gibt es ohne große Umschweife, dafür ist er gleich wieder vorbei. Alkohol gibt es überall, und den Kater danach als Bonus-Track. Jobs gibt es auch, aber sie machen einen so fertig, dass man abends nur noch trinken will. Und nicht zu vergessen die Liebe, die wirkliche und wahrhaftige, doch man nehme sich vor ihr in Acht, denn sie kann schrecklich wehtun.

Gerade der Gestus des lakonischen Aufzählens aller Verirrungen zeigt das Ausmaß der Verzweiflung. Die Mutter fragt die Ich-Erzählerin, ihre Tochter, wie sie mit der Trennung von ihrem Freund klarkommt: „Ich beschloss, ihr nicht zu erzählen, dass ich bei sieben verschiedenen Dating-Websites angemeldet war, dass ich nachts im Wald Lachgas ausprobiert und eine 60 Pfund teure Ladung Koks weggeputzt hatte, dass ich mit zwei Lesben und einem Schwulen im Bett gewesen war und mich jede Nacht in den Schlaf weinte.“

Diese Geschichten atmen den Geist eines Poetry Slam. Beim Lesen meint man die Autorin auf einer kleinen Bühne stehen zu sehen, ihre Stimme zu hören: atemlos, rau, patzig. Sie wendet sich direkt ans Publikum, erzählt ihre intimsten Schrecknisse und reißt kurz danach einen zynischen Witz. So gibt sie eine Anleitung in zwölf Schritten „Wie werde ich alkoholkranker Schriftsteller“: „Lass deine Komfortzone hinter dir und trink auch dann, wenn du nicht in der Stimmung bist. Dabei können interessante Ergebnisse zustande kommen. (Keine Sorge, man kann auch im Sommer lange Ärmel tragen.)“ Oder sie gibt im Stil der marktgängigen Psycho-Ratgeber Verhaltenshinweise zum „Trauern für Anfänger“. Die Tipps beginnen harmlos und gutmütig, werden dann aber sarkastisch skurril: „Irgendwann wird das Aufwachen weniger schmerzhaft sein, und das Einschlafen auch. Irgendwann werden Sie feststellen, dass Sie solche Situationen auch ohne zwei Flaschen Wein, drei Valium oder ungeschützten Sexualverkehr mit einem Wildfremden überstehen.“

Die Texte zeichnen sich durch ihre Kürze aus; Macintosh kommt schnell zum Eigentlichen. In „Wenn ich einmal tot bin“ entwirft sie kurzerhand ihre eigene Beerdigung, anspruchslos, doch überaus detailliert: „Ich meine, machen wir uns nichts vor – ich bin tot, und ich soll eingeäschert werden. Da brauche ich keine Schuhe. Und Mascara könnt ihr weglassen, weil meine Augen geschlossen sind. Aber ein bisschen Aufwand darf trotzdem sein. Schönes Kleid, neue Strumpfhose. Etwas Lipgloss.“ Dieser leicht zynische Narzissmus endet zwanglos im bescheidenen Wunsch: „Ganz schön fände ich auch, wenn fünf Minuten nach dem Ende der Feier die Welt untergehen könnte. Nichts Luxuriöses. Nur eine kleine Apokalypse.“ Sie wünscht sich nichts Protziges: „Nur eine kurze, diskrete Implosion. Einen ruhigen Ausklang.“

Die stärkste Geschichte im Buch ist „Für alle, die meine Freunde werden wollen“. In ihr werden eine mehrfache Vergewaltigung in der Toilette eines Pubs und das sich daran anschließende Weihnachtsessen mit der Familie geschildert. Wer wissen möchte, wie sich ein Schock anfühlt und was ein Trauma anrichtet, lese diese Geschichte – sie ist erschreckend, mitleidlos und ehrlich bis auf die Knochen.

Die Autorin Anneliese Macintosh wurde in Deutschland geboren – daher der hübsche Vorname –, lebte in Manchester, Glasgow, Washington DC, Berlin, San Francisco und jetzt in Cornwall im Südwesten Englands. Sie ist Mitbegründerin von Words per minute, einer literarischen Clubnight in Schottland, unterrichtete Creative Writing und schreibt derzeitig ihren ersten Roman, der 2017 erscheinen wird. Für „Any Other Mouth“, so der Originaltitel des vorliegenden Erzählungsbandes, wurde sie 2014 mit dem Green Carnation Prize ausgezeichnet.

Die Übersetzung von Gesine Schröder ist großartig. Es ist ihr gelungen, die Sprache der britischen Endzwanziger in Gestus und Wortschatz so zu übersetzen, wie hier die Endzwanziger reden. Es ergibt sich ein munterer Erzählton, in dem von „Künstlernasen“, „knülle sein“ und „Schwabbelbauch“ die Rede ist. Im Deutschen ist das genauso poetisch und sarkastisch, so verletzlich und ordinär wie im Englischen.

Anneliese Mackintoshs Erzählungen zu lesen, ist ein solches Vergnügen, dass man auch noch einmal so jung sein möchte wie die Figuren – obwohl … nein, lieber doch nicht.

Titelbild

Anneliese Mackintosh: So bin ich nicht. (Gretas Storys).
Übersetzt aus dem Englischen von Gesine Schröder.
Aufbau Verlag, Berlin 2016.
256 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783351036287

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