Familienbande
Anna Mitgutschs neuer Roman „Die Annäherung“ legt zeitgeschichtliche Ursachen und Nachwirkungen einer Vater-Tochter-Beziehung offen
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAnna Mitgutsch bleibt als Romanautorin – bereits 2013 hatte sie zwei Bände mit Essays zu „Grenzen der Sprache“ und zur „Welt, die Rätsel bleibt“ vorgelegt – dem Thema ihrer früheren Werke treu: Der Sinn des Lebens samt seinen vielfältigen Schattierungen von Familien-, Freundschafts- und Liebesbeziehungen erschließt sich erst vom Ende her. Über den meisten Erkenntnissen, zu denen der Mensch im Laufe seines Lebens gelangt, prangt unerbittlich ein manchmal versöhnliches, meist aber zermürbendes ‚Zu spät‘. Im 2010 erschienenen Roman „Wenn du wiederkommst“ (2010) ließ Mitgutsch eine namenlos bleibende jüdische Erzählerin eine meisterhafte Totenklage um ihren verstorbenen Ehemann anstimmen, in deren Verlauf ihr die Konfrontation mit der Endgültigkeit des Todes auch Einblicke und Einsichten in lange zurückliegende Missverständnisse und Verfehlungen ihrer Ehe gewährt, für deren Korrektur es nun aber zu spät ist und vielleicht immer schon zu spät war. Auch in der drei Jahre zuvor publizierten Parallelbiografie „Zwei Leben und ein Tag“ (2007) stand die schonungslos vorgetragene Lebens- und Liebesbilanz der Hauptfigur Edith im Mittelpunkt, die angesichts gescheiterter Lebensentwürfe und einer zerbrochenen Ehe zu einem nüchternen und zugleich auch schmerzhaften Urteil über ihr Leben gelangt.
Diese Einsicht und Erfahrung teilt ebenso der 90-jährige Theo, der nach einem Schlaganfall mit dem nahenden Ende seines Lebens konfrontiert ist. Um seine beiden Ehen, seine Rolle und sein Verhalten als Soldat im Zweiten Weltkrieg und die Beziehung zu seiner bereits über 60-jährigen Tochter Frieda aus erster Ehe geht es in dem aus zwei unterschiedlichen Perspektiven erzählten Text: In nicht gleichmäßigen Wechseln erfährt der Leser zum einen von einem auktorialen Erzähler die Geschichte von Theos Ehen bis zu seinem Schlaganfall. Zum anderen schildert die Tochter Frieda in den anderen Kapiteln als Ich-Erzählerin ihre Sicht eben jener Familiengeschichte, die man mit einigem Recht in gesellschaftshistorischer Perspektive und mit Blick auf die Auseinandersetzung der um das Kriegsende geborenen Generation mit ihren Vätern als symptomatisch bezeichnen kann. Als die Handlung des Romans einsetzt, ist Theos erste Frau Wilma, die gleichsam und stellvertretend Frauen einer Generation verkörpert, die Träume aufgeben und sich in ein fremdbestimmtes Leben fügen mussten und schließlich daran zerbrochen sind, bereits über 50 Jahre tot. Dass der Tod der Mutter eigentlich ein Selbstmord war, stellt sich für Frieda erst im Laufe ihrer Auseinandersetzung mit dem Vater heraus. Der frühe Verlust hat bei den beiden unterschiedliche Wunden und Vernarbungen hinterlassen, deren Wirkungsmacht im Laufe des Romans deutlich wird. Wie so oft in den Texten von Anna Mitgutsch sucht auch dieser nicht die großen Gefühlsdarstellungen und verliert sich ebenfalls nicht in Erklärungsmodellen für die Befindlichkeiten und Gemütslagen seiner Figuren. Sowohl in der pragmatischen Fügung Theos in eine neue Ehe mit einer Frau, die fortan empfindlich den Kontakt mit seiner Tochter stört, als auch in dem beklemmenden Rückblick Friedas auf ein unerfülltes aber klaglos hingenommenes Leben werden Dulder-Mentalitäten sichtbar, die nicht mehr unserer heutigen Zeit anzugehören scheinen, sondern ihre Wurzeln in einer während und nach dem Krieg verunsicherten und unsicheren Gesellschaft haben, die nur scheinbar und nach außen hin eine gefestigte Struktur und verbindliche Werte präsentierte. So fällt Friedas Lebensbilanz insgesamt zwar negativ aus, doch dominiert vor der Klage der leise vorgetragene Schmerz. Das Hadern mit der eigenen Geschichte weicht der Einsicht, dass man jeden Verlust akzeptiert hat und alles weitergegangen ist. „Alle Zerstörungen“, räsoniert Frieda, „waren zivilisiert abgelaufen“.
Den Kern der Vater-Tochter-Beziehung bildet allerdings die auf Schweigen stoßende Frage Friedas zu den Erlebnissen und Taten ihres Vaters als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Vierzehn Jahre nach dem Krieg und mit einsetzendem politischem Interesse beginnt Frieda, Nachforschungen anzustellen, die jedoch durch die Weigerung des Vaters, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, immer wieder ins Leere laufen. Man mag darüber streiten, ob die damit wieder aufgerufene Väterliteratur, wie sie in den 1970er- und 1980er-Jahren eine Konjunktur erlebte, noch genügend Aktualitätspotenzial für einen Roman des Jahres 2016 besitzt. Gleichwohl kommt der bei Mitgutsch schwelende Generationenkonflikt zwischen Vater und Tochter ohne die quälende Schuldfrage oder sich ereifernde Schuldzuweisungen aus, was hauptsächlich den unterschiedlichen Erzählperspektiven geschuldet ist, die per se schon keine eindimensionale Sicht auf die Geschichte und ihre Protagonisten erlauben.
Die am schwächsten gezeichnete Figur ist die nach dem Schlaganfall angestellte, im Hause Theos lebende ukrainischen Pflegerin Ludmilla, zu der der alte Mann eine für den Leser allerdings nicht ganz nachvollziehbare Nähe und Vertrautheit aufbaut. Sie aber ist für die „Annährung“ von Vater und Tochter von entscheidender Bedeutung. Ihre Herkunft ruft im Vater offenbar Erinnerungen an seine Zeit als Soldat an der Ostfront wach, die auch zu einer Wandlung seines Verhaltens gegenüber Frieda führen. Was zwischen den beiden nicht ausgesprochen wurde – Theos Nachdenken über seine Kindheit, die frühen und entbehrungsreichen Jugendjahre und schließlich die Zeit in der Wehrmacht und seine beiden Ehen –, erfährt der Leser in den Gesprächen zwischen Ludmilla und Theo. Als Theos die Vertrautheit zwischen der Pflegerin und Theo für die zweite Ehefrau die Grenze des Erträglichen überschreitet, sorgt sie kurzerhand dafür, dass Ludmilla wieder zurück in ihre Heimat muss, ohne zu ahnen, dass sie damit die Grundlage für die Versöhnung ihrer Stieftochter mit Theo schafft. Dieser wendet sich verzweifelt an Frieda mit der Bitte, in Ludmillas Heimatdorf zu reisen und sie zur Rückkehr zu bewegen.
Die Reise dorthin mit dem ebenso gebildeten und kulturinteressierten wie kauzigen und gefühlskalten Edgar gerät zu einem Road Trip in die habsburgische Vergangenheit, in dem sich historische Landschaften mit der Gegenwart vermischen und in dem die Ich-Erzählerin Frieda ihrem Vater wohl näher ist als jemals sonst. Denn eingeflochten in ihren Reise-Bericht sind Ausschnitte der Kriegstagebücher ihres Vater, die dieser ihr – nachdem er viele Jahre geleugnet hat, dass solche überhaupt existieren – aus Dankbarkeit überlassen hat. In der Konfrontation mit der Gegenwart der Geschichte, wie sie für Frieda in den Landschaften und Städten der heutigen Ukraine und historischen Bukowina erfahrbar wird, kommt sie auch zu einer versöhnlichen Einordnung der Beziehung zu ihrem Vater. Angesichts seines zu Ende gehenden Lebens relativieren sich für Frieda die zurückliegenden Missverständnisse und Verletzungen, auch wenn sie nach dem Tod ihres Vaters zu der schmerzvollen Einsicht kommen muss, dass selbst der Tod letztlich nicht die Nähe bringen kann, die man auch im Leben nie erreichen konnte.
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