Vom Kunststück der beliebigen Beispiele

Rolf Selbmann geht es in seiner Studie um die „Die Wirklichkeit der Literatur“

Von Stefan TuczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Tuczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literatur entsteht niemals im luftleeren Raum, ihre Bezüge sind stets an Voraussetzungen geknüpft. Dass die Wirklichkeit das primäre Bezugssystem der Literatur ist, ist eine geradezu selbstverständliche und banale Feststellung. Ebenso selbstverständlich ist, dass sie diese niemals eins zu eins abzubilden vermag. Müsste eine Studie, die sich mit dieser Selbstverständlichkeit auseinandersetzt, nicht genauso banal sein? Die Antwort darauf lautet ganz klar nein, wenn man wie Rolf Selbmann das in „Die Wirklichkeit der Literatur“ tut, nur die richtigen Fragen stellt.

Selbmanns Fragen sind indes nur auf den ersten Blick selbstverständlich: Literatur bezieht sich zwar immer in irgendeiner Art und Weise auf die Realität, aber wie sieht dieses Verhältnis konkret aus? Ist es nicht sogar ein Wechselverhältnis? Selbmann trägt dem Rechnung, indem er zugleich danach fragt, ob nicht auch die Literatur Einfluss auf die Realität hat und sie semantisiert. In fünf großen Kapiteln widmet er sich ausgiebig diesem Wechselverhältnis, indem er Ort, Autobiografie, Geschichte, Intertextualität und Politik in den Blick nimmt. Was kann man sich konkret darunter vorstellen? In der Literatur wird auf reale Orte oder auf geschichtliche Ereignisse rekurriert, die durch genaue Abbildung oder Veränderungen die literarische Topografie beschreiben. Aber auch auf reale politische Ereignisse oder Entscheidungen wird zurückgegriffen; diese werden kommentiert beziehungsweise verarbeitet, wobei der Utopie als Gattung eine besonders wichtige Rolle zukommt. Unter dem Kapitel der Intertextualität kann man die behauptete Realität der Literatur verstehen, das heißt die Autoren arbeiten auch mit der Fiktion der anscheinenden Realität. Im Kapitel über Autobiographie fragt Selbmann schlicht danach, was es bringen kann, das Leben des Schriftstellers zu kennen und seine Biografie für die Interpretation des Textes nutzbar zu machen. Bis hierhin gibt es nichts auszusetzen. Man muss eingestehen, dass diese grobe Einteilung sogar recht schlau vorgenommen wurde, denn das Verhältnis von Realität und Literatur ist doch recht vielfältig und kaum zu überblicken.

Die theoretischen Fragen, denen sich Selbmann widmet sind ohne Zweifel interessant und auch stimmig – aber sie bleiben eben nur Fragen. Zu Beginn eines jeden Kapitels stellt der Münchner Germanist einen Fragenkatalog auf, der zum Denken anregt, auf den er im Folgenden jedoch nicht spezifischer eingeht – und das ist zugleich die Krux. Denn was ist eine gute Theorie ohne gute Beispiele? Die Beispiele – wie Thomas Manns „Tod in Venedig“ oder Johann Wolfgang von Goethes „Willkommen und Abschied“ – gehen kaum bis gar nicht auf die Fragen, welchen Erkenntnisgewinn es hat, die reale Topografie eines Ortes oder die genaue Biografie des Schriftstellers zu kennen, ein. Sie sind nur recht locker mit dem übergeordneten Thema verbunden. Selbmann gibt zwar Hinweise darauf, wo in den Beispielen der Realitätsbezug auffindbar ist, aber dies kommt in seinem Buch viel zu kurz – oftmals sind es in Relation zum Gesamttext nur ein Absatz oder ein paar Sätze, erst der letzte große Abschnitt, der sich dem der politischen Utopie widmet, wird konkreter, aber das mag letztlich am Thema selbst liegen, denn die Utopie besitzt immer einen Realitätsbezug, egal ob dieser positiv oder negativ zu verstehen ist. Jedoch ist dies viel zu wenig für eine Studie, die das Verhältnis zwischen Realität und Literatur untersuchen will.

Der Verdacht drängt sich auf, dass die Beispiele bereits vor dem theoretischen Zugriff – wenn man diesen so nennen will, den es sind in letzter Konsequenz doch nur Fragen – vorhanden waren. Man könnte fast meinen, dass hier Reste von Vorlesungsmanuskripten verwendet wurden, die wie auch immer verwertet werden sollten und für die man ein übergeordnetes Thema finden ‚musste‘. Dies muss nicht zwangsläufig schlecht sein, aber dann müssen Beispiele und Theorie aufeinander abgestimmt sein. Eine stringente Arbeitsfrage oder übergeordnete These fehlt jedoch bei Selbmann und der Fragenkatalog ist diesbezüglich nicht zufriedenstellend. Man fragt sich, warum ausgerechnet Friedrich Hölderlin, Thomas Mann oder Karl Bröger als Beispiele gewählt wurden. Denn ohne richtigen Zugriff bekommen die Beispiele etwas überaus Beliebiges. Stattdessen hätte man jedes andere literarische Werk wählen können und daran einen wie auch immer gearteten Wirklichkeitsbezug aufzeigen können. Ebenso fragt man sich, warum Selbmann die Realisten komplett ausspart, obwohl er vorher noch darauf hinweist, dass vor allem im Literatursystem des Realismus das Spannungsverhältnis von Literatur und Wirklichkeit am größten und auch am spannendsten sei.

Darüber hinaus stört Selbmanns Absolutismus. Des Öfteren stolpert man über den Hinweis, dass nur seine Lesart der Texte die richtige sei. Äußerungen, dass man Paul Celans „Meridian“-Rede als Kunstwerk und vom Ende her zu lesen und zu verstehen hat, schränken nicht nur die Meinung des Lesers und dessen Interpretationsermessen ein, sondern sind als Textstrategie, dass man über jeden Zweifel erhaben ist, doch ärgerlich.

Um Missverständnisse vorzubeugen: Trotz der Kritik muss eingestanden werden, dass die Beispiele doch recht interessant und keineswegs falsch sind; doch nur, wenn man den Titel, den damit verbundenen Anspruch sowie den Fragenkatalog ausblendet, erhält man eine kleine, feine Aufsatzsammlung. Lässt man im Gegenzug die Beispiele weg, dann regen die oft interessanten Fragen zum Nachdenken über Fiktion und Wirklichkeit an und vermögen den Blick auf ein vermeintliches banales Thema zu weiten. Aber beides zusammen – Fragen und Beispiele – passt letzten Endes nicht recht zueinander; ein stimmiges Gesamtbild ergibt sich nicht.

Titelbild

Rolf Selbmann: Die Wirklichkeit der Literatur. Literarische Texte und Ihre Realität.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2015.
195 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783826058806

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch