Ein Leben in Lebensaltern

Thomas Asbridge über Guillaume le Maréchal und Ritterideale

Von Peter SomogyiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Somogyi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was wäre geschehen, wäre die Blanche-Nef mit ihren Passagieren in der Nacht des 25. November 1120 nicht in den kalten Fluten des Ärmelkanals bei Barfleur havariert? Was, wäre William Ætheling – der einzige, legitime männliche Erbe des englischen Throns – nicht dieser maritimen Katastrophe zum Opfer gefallen, deren Ursache schlicht und prosaisch volle Weinkelche waren? Anders gefragt: was wäre gewesen, hätten für Stephan von Blois „die Wellen sowohl Vergangenheit als auch die Zukunft ausgelöscht“, wie es der Chronist Ordericus Vitalis in seiner Historia Ecclesiastica für William und sein Gefolge betrauert? Wären die Herrschaftsverhältnisse Englands dennoch in dem verhängnisvollen Maß destabilisiert worden, hätte Heinrich I., jüngster Sohn Wilhelms des Eroberers und Vater des Kronprätendenten William, seine dynastischen Pläne ausführen können? Denn ironischerweise verließ gerade vor dem Aufbruch der Blanche-Nef wegen Diarrhoebeschwerden Stephan von Blois das sinkende Schiff in spe, der nach dem Tod seines Onkels Heinrich I. 1135 den rechtmäßigen Thronanspruch seiner Kusine, Kaiserin Matilda, in Frage stellte, sich zum König erhob, damit England spaltete und bis zum einigenden Vertrag von Wallingford 1153 – mit dem Stephan Matildas Sohn Heinrich zu seinem Nachfolger erklärte –  das Land in bürgerkriegsähnliche Verhältnisse stürzen ließ.

Erstens sind Was-wäre-wenn-Fragen zu vernachlässigen, führen sie bestenfalls zu produktiven Gedankenexperimenten oder schlechterdings zu Verschwörungstheorien (wie Victoria Chandler sie mit ihrem Artikel The Wreck of the White Ship. A mass murder revealed? anstellte, in dem sie den Untergang der Blanche-Nef entgegen der mittelalterlichen Rezeption nicht als Unfall, sondern als kriminalistischen Mordanschlag untersuchte und anhand einer spekulativen Beweislage Stephan von Blois als Drahtzieher und Nutznießer der Katastrophe zu entlarven meinte). Und schreibt zweitens nicht das Leben – die Historie – die sarkastischste, zugleich bissigste Form von Ironie? Als der König und älteste Barbarossasohn Heinrich VI. im Juli 1184 nach Erfurt kam, um in Fehdeangelegenheiten zwischen Landgraf Ludwig III. von Thüringen und Erzbischof Konrad von Mainz zu vermitteln, brach der Fußboden unter der Versammlung und eine große Anzahl der dort befindlichen Herren fand im Morast der Jauchegrube den Tod; Heinrich konnte gerettet werden, weil er in der gemauerten Nische des Fensters saß, um 13 Jahre später, 1197 in Messina zu sterben, an Malaria und vermutlich: Dysentrie (Ruhr). Stercus accidit, wie der Philosoph sagt.

Lassen wir Spekulationen und Ironie beiseite. Mit dem Untergang der White Ship lässt Thomas Asbridge seine neueste historische Abhandlung über Guillaume le Maréchal beginnen. Nun, nicht ganz. Als Historiker geht es Asbridge um Quellen. Dementsprechend beginnt er mit der weniger bekannten Auffindung eines einzigartigen Manuskripts durch Paul Meyer 1861 im Aktionshaus Sotheby’s, zwischen dessen Einbanddeckeln sich die als Histoire de Guillaume le Maréchal bekannte, kurz nach 1226 fertiggestellte Lebensgeschichte des „besten Ritters der Welt“ befindet, verfasst von einem unbekannten Anglofranzosen namens Jean. Nach Auffindung dieser Lebensgeschichte bildet nun Asbridges Buch den vorläufigen Höhepunkt eines langen wissenschaftlichen und produktiven Austauschs: Sidney Painter veröffentlichte bereits 1933 eine Monographie zu Guillaume le Maréchal, 1984 dann Georges Duby und 1990 (sowie 2002 in einer zweiten, erweiterten und 2016 in einer 3. Auflage) schließlich David Crouch mit seinem vielgerühmten Buch William Marshal, um nur die maßgeblichen Darstellungen zu nennen.

Wozu also eine neue Biographie des Earls of Pembroke und mittelalterlichen Parvenüs? Crouch stützt sich in seinem Herangehen besonders auf die Publikation von Painter und begründet seine Biographie in der dritten Auflage mit jenen 83 Jahren, die zwischen seiner und Painters Monographie liegen, denn „much work on both aristocratic society and political events of the Marshal’s lifetime has built up since 1937 [sic], and new questions have since been asked by historians.“ Asbridge dagegen verdankt vieles der Arbeit von Crouch, der „im akademischen Rahmen den Maßstab für sämtliche aktuellen Studien über Maréchals Leben und Einfluss vorgegeben“ hat. Asbridge jedoch geht es um mehr. Er möchte seinerseits das Leben Guillaumes „in einen sehr viel größeren Kontext stellen“ als seine Vorgänger. Wo Painter, Duby und Crouch vor ihm sich schlussendlich nur auf die Lebensgeschichte dieses Aufsteigers beriefen, öffnet Asbridge den Horizont und nimmt größere Themen ins Visier. Außerdem sind neue Erkenntnisse in den 25 Jahren seit Crouchs erster sowie 13 Jahre nach seiner zweiten Auflage und Asbridges Veröffentlichung gesammelt und neue Fragen von Seiten der Forschung gestellt worden (die in der dritten Auflage von Crouchs Monographie bis auf die aktualisierte Bibliographie kaum ins Gewicht fallen. Sein Text folgt bis auf wenige Änderungen jener der ersten Auflage. Er bezieht vor allem seine neue Publikation The Acts and Letters of the Marshal Family, Marshals of England and Earls of Pembroke 1145-1248 – erschienen 2015 – in seine Überarbeitung mit ein). Diese werden von Asbridge mit besonderem Fachwissen gegliedert, übersichtlich integriert und schlagen sich in der beachtlichen Seitenzahl von 478 Seiten nieder. So stützt er sich in seinem ersten Unterkapitel: Zeit der Wölfe beispielsweise auf David Carpenters maßgebliche Monographie The Struggle for Mastery: Britain 1066-1284 sowie Donald Matthews hochinformative Studie King Stephen; in Unterkapitel 3: Ein Leben als Krieger auf Richard W. Kaeupers Chivalry and Violence in Medieval Europe und Nigel Sauls For Honour and Fame. Chivalry in England 1066-1500; daneben werden unter anderem reichlich erhellende Exkurse zu Pferden, Schwertern, Rüstungen, Entwicklung des Ritterwesens und den Verhältnissen in outremer auf dem neuesten Stand der Forschung geboten, wobei sich Asbridge auf seine eigenen, detailliert recherchierten Studien zu den Kreuzzügen stützen kann, die in vielerlei Hinsicht Steven Runcimans epochalem Werk Geschichte der Kreuzzüge verpflichtet sind, dieses aber an entscheidenden Stellen aktualisieren.

Wo Crouch die 305 Seiten starke Arbeit von Painter mit ihren (seiner Ansicht nach) Simplifizierungen nicht nur des Feudalwesens sondern auch Maréchals zu einem „typical baron of his age: illiterate and socially clumsy; well disposed in general but still grasping; primitively religious; sophisticated only in the technicalities of war“ komprimierte und von Stereotypien befreite, erweiterte er (im Laufe seiner unermüdlichen Arbeiten zu dem Thema als work in progress) besonders Dubys in vielen Belangen schlanke Monographie quantitativ sowie qualitativ. Wo Crouch lobende Worte für Dubys auch hierzulande geschätzten Schreibstil hat, betrachtet er dessen Büchlein als nichtakzeptable Verzerrung der Forschungsbefunde und hat zudem einige vernichtende Worte für den französischen Kollegen parat. Auch Asbridge rät von der Lektüre von Dubys „überspanntem“ Guillaume le Maréchal oder der beste aller Ritter ab – jedoch gemäßigter und temperierter im Ton.

Nur selten tritt Asbridge als Autor und „Erzähler“ in den Vordergrund, etwa, wenn er sich auf seine wissenschaftlichen Vorgänger bezieht. Indem sich Asbridge wohltuend zurücknimmt, scheint sich die Geschichte wie von selbst zu erzählen. Durch glasklare Sprache und mannigfache Bezugnahmen sowie einen stringenten Erzählablauf entsteht ein vielschichtiges Werk, mit dem sich Asbridge stilistisch nicht hinter Dubys vielgerühmten Fähigkeiten zu verstecken braucht

Was Crouch über Passagen aus Dubys Guillaume-Buch scheibt, gilt in Gänze für Asbridges Der größte aller Ritter: es kann als Modell, als Vorbild betrachtet werden, wie Historiker_innen zu schreiben versuchen sollten, „be he [oder sie] French or English“. Es muss ergänzt werden: oder Deutsch. In diesem Fall ist für den hiesigen Rezipient_innenkreis die kongeniale Übersetzung von Susanne Held besonders hervorzuheben, die bereits Asbridges Die Kreuzzüge hervorragend übersetzte und zudem mit ihrer neuhochdeutschen Übersetzung die von Manfred Günter Scholz herausgegebene Erec-Ausgabe im Klassiker Verlag bereicherte. Asbridge gelingt nach Die Kreuzzüge wieder einmal der schwierige Spagat, wissenschaftliche hard facts zu liefern, ohne dabei die „Lust am Text“ zu verlieren, was Der größte aller Ritter zu einem wichtigen historischen Forschungsbeitrag und zugleich zu einem spannenden Lese- und Schmökertext werden lässt, auch für Geschichtsinteressierte außerhalb der akademischen Disziplinen (durch Beigabe der Karten von England, Frankreich und der Nordnormandie im Mittelalter sowie einer Auflistung der wichtigsten Personen der Maréchal-, der Anjou- und der Kapetingerdynastie sowie der adligen und geistlichen Personen im Umfeld Guillaumes wird – ebenso mit einem ausführlichen Register – höchste Übersichtlichkeit bei der Lektüre gewährleistet).

Asbridges Gliederung folgt im Großen und Ganzen chronologisch der Lebensgeschichte Maréchals, wie sie die Histoire überliefert und unterteilt seine Darstellung in vier Großkapitel, die er nach den Lebensjahren (Kindheit, Erwachsenenalter, mittlere und Altersjahre) Guillaumes benennt. Dabei geht er äußerst akribisch zu Werke und macht bewusst, dass der Biographie nicht in allen Schilderungen zu trauen ist. Da es sich bei der Primärquelle um ein Stück familiärer Hausüberlieferung der Maréchals handelt, ist mit ideologischen Aberrationen zu rechnen. Dennoch öffne die Histoire „ein unvergleichliches Fenster zur Welt des mittelalterlichen Ritters.“ Sie ermögliche, „aus erster Hand die Entstehung dieser fast mythischen Kriegerklasse mitzuverfolgen, die im Herzen der Geschichte des europäischen Mittelalters steht.“ Ähnliches konstatierte schon Duby. Nach ihm lege die Histoire „ein höchst seltenes Zeugnis davon ab, wie es in jener Zeit um das Geschichtsbewußtsein und das geschichtliche Wissen der Ritter bestellt war.“ Doch Asbridge intendiert, dieses seltene Zeugnis, dieses geschichtliche Wissen in einen größeren Kontext einzubetten: „Die Geschichte dieses Ritters spielt sich […] in einer der entscheidendsten Phasen unserer mittelalterlichen Vergangenheit ab. Sie erzählt von einem bemerkenswerten Mann, von der Herausbildung des Ritter-Ideals und von der Geburt einer Nation.“ Diese drei Schwerpunkte werden kenntnisreich verfolgt.

Jede Geschichte hat ihre Vorgeschichte. Jene Guillaumes lässt Asbridge mit dessen Vater, Jean le Maréchal, einem niederen Adligen und Warlord in Südwestengland, beginnen. Jeans machtpolitische Bestrebungen um Land und baronalen Einfluss werden mit dem nationalen Erzählstrang verzahnt, als deren geschichtlichen Anfang Asbridge den Untergang der Blanche-Nef setzt, um den bevorstehenden Kampf um die englische Krone zwischen Stephan von Blois und Kaiserin Matilda einzuleiten. Eine ebensolche interne Spaltung, wie sie England nach 1135 widerfuhr, findet ihr Pendant in der deutschen Geschichte mit dem doch reichlich ironischen Malaria- und Ruhrtod Heinrichs VI. im Jahr 1197. Nur war Guillaume – 1147 in die Nachbeben der Blanch-Nef hineingeboren – zu dieser Zeit bereits ein angesehener Mann. Seit 1189 verheiratet mit Isabel von Clare, Lady von Striguil, erhielt er als Herr von Striguil bedeutende Ländereien, konnte eine beachtliche Entourage um sich sammeln und kämpfte als führender Befehlshaber der Truppen mit Richard Löwenherz um die Wiedergewinnung angevinischen Territoriums. Ein beeindruckender Werdegang für einen mittel- und landlosen niederadligen Nachgeborenen. Anhand Guillaumes Aufstieg, besonders als junger Turnierritter mit dem jüngeren und früh verstobenen König Heinrich, erläutert Asbridge vor allem das, was unter Ritterideal und Ritterlichkeit zu verstehen ist: „Für Guillaume und seine Zeitgenossen war Ritterlichkeit eine nur locker zusammenhängende Reihe von Gebräuchen und Erwartungen […]. Damals zeigten ‚ritterliche‘ Ritter noch wenig Interesse an weiter ausgreifender gesellschaftlicher Verantwortung.“ Es bestand offenbar „nicht die geringste Unvereinbarkeit zwischen Ritterlichkeit und Materialismus“ oder zwischen einem hehren Ideal und „Habsucht, Hinterhältigkeit, Stolz, ja sogar einer gewissen Dünkelhaftigkeit.“ Aspekte, die Maréchal allesamt verkörperte und von der Histoire (gern) vernachlässigt werden (für Sidney Painter war der nahtlose Zusammenschluss von Ritterideal und schnödem Materialismus 1933 noch undenkbar). Wo die Primärquelle also schweigt, nur lückenhaft erzählt oder sich in emphatischem Lob ergeht (so geschehen mit Guillaumes Vater Jean, dessen Bedeutung die Histoire „in fast lachhaftem Ausmaß“ ausschmückt), ergänzt, füllt oder begradigt der Historiker Asbridge durch behutsame Quellenvergleiche; stets mit objektiver Zurückhaltung. So entsteht eine packende historische Darstellung über Königstreue (Maréchals Werdegang ist zugleich eine Geschichte der Anjou-Dynastie; er diente fünf Königen), militärischer Auseinandersetzungen und menschlichem Fehlverhalten, die spannender zu lesen ist, als so mancher Bestseller der Populärkultur. In dem Asbridge Maréchals Biographie in den größeren Rahmen der Historie Englands des 12. und 13. Jahrhunderts stellt und diese zugleich miterzählt, vermeidet er jene Stereotypien, die Crouch in der Arbeit Painters vorfindet und auch zugleich die „überspannte“, affirmative Panegyrik Dubys. In Anbetracht der regen Forschungsdiskussion, in der Der größte aller Ritter steht und seiner Strukturierung in Lebensabschnitte, drängen sich Max Webers Sätze aus Wissenschaft als Beruf unweigerlich auf: „Jede wissenschaftliche ‚Erfüllung‘ bedeutet neue Fragen und will ‚überboten‘ werden und veralten.“

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Thomas Asbridge: Der größte aller Ritter. Und die Welt des Mittelalters.
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Held.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015.
478 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783608949230

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