Kühle Köpfe in Babylon

Gangolf Hübinger widmet dem Intellektuellentypus des engagierten Beobachters sein neuestes Buch



Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Beginn des 20. Jahrhunderts markiert den Aufbruch in eine pluralisierte und demokratisierte Moderne. Vor allem in den individualisierten Massengesellschaften der europäischen Metropolen Paris, London, Wien und Berlin entwickeln sich eine Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Lebensentwürfe und -erwartungen heraus, die zu einer Dauerspannung zwischen konkurrierenden Ordnungsideen führt. Es findet ein permanenter Ideen- und Geltungskampf der Überzeugungen statt. Robert Musil sprach in diesem Kontext von einem „babylonischen Narrenhaus“.

Der „engagierte Beobachter“, der sich in diesen Zeiten der Unordnung sowie der verloren gegangenen Sicherheit als Sondertypus des Intellektuellen entwickelte und erstmals vom französischen Philosophen Raymond Aron diesen Titel erhielt, behielt kühlen Kopf. Seine Aufgabe war und ist es, zu analysieren, ohne sich vereinnahmen zu lassen. Aus einer kritischen Distanz heraus betreibt er Zeitdiagnostik – der engagierte Beobachter ist Analytiker, Interpret und Handelnder in einem. Auf der Grundlage historisch-sozialer Erkenntnis reflektiert er das politische Handeln im Hier und Jetzt. Beobachter ist er insofern, als dass er stets die Distanz wahrt. Für den Publizisten Ralf Dahrendorf ist er deshalb der stärkste Intellektuellentypus.

Gangolf Hübinger, Professor für Vergleichende Kulturgeschichte der Neuzeit an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), widmet sich in seinem Buch „Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf“ ausführlich diesem Typus. Hübinger hat sich in zahlreichen Publikationen zur Geschichte der Ideen, der Intellektuellen und der Humanwissenschaft sowie zu religiösen Kulturen und politischen Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert als Experte für relevante Zeitdiagnostiker etabliert. Entsprechend souverän führt er den Leser durch die elf Kapitel dieses Buches, bei denen es sich im Wesentlichen um Aufsätze handelt, die Hübinger zwischen 2004 und 2015 geschrieben hat.
Eine schlüssige Struktur und sprachliche Zielgerichtetheit prägen dieses Buch.

Aufgeteilt in die drei Themenblöcke „Aufbrüche. Wissenschaftliche Selbstbeobachtung um 1900“, „Spannungen. Max Weber und Ernst Troeltsch“ sowie „Perspektiven. Zeitdiagnostik um 2000“ spannt Hübinger einen großen Bogen um 100 Jahre engagierten Beobachtens. Zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen ist hier im ersten Kapitel der Beitrag zum „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, das 1904 von Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber gegründet wurde und das als Wegbereiter für die internationale Sozialforschung galt. Eingebettet in den historischen Kontext wird die Entstehung und der Ansatz des engagierten Beobachtens beschrieben als ein Gegenentwurf zur drohenden Ordnungsverlust. Es folgen exemplarische Portraits von Max Weber, dem ersten Erforscher von Gegenwartsproblemen und Universalgeschichte. Auch Ernst Troeltsch, der Analytiker der revolutionären Umbrüche nach 1918, wird ausführlich dargestellt. Bei Fritz Stern steht die Synthese aus europäischer Bildung und amerikanischem Berufsweg im Zentrum des Interesses, die erschlossen wird aus seiner Komplexität der europäischen Vergangenheit und dem neuen Zugehörigkeitsgefühl als Amerikaner. Lesenswert ist auch Ralf Dahrendorfs kritischer Dialog mit Jürgen Habermas über 1989 und die Folgen. Im Aufsatz „Über die Aufgaben des Historikers“ fasst Hübinger am Ende seine Erkenntnisse zusammen. Seine Betrachtungen gelten dem intellektuellen Anspruch des Historikers, bewusst in zwei Welten zu leben – in Gegenwart und Vergangenheit. Gerade in Zeiten ideologisch-geprägter Diskussionskultur und emotional geleiteter Entscheidungsträger kommt die Erinnerung an den Typus des engagierten Beobachters wie eine Empfehlung zur Besonnenheit daher. Es könnte kaum einen besseren Zeitpunkt für dieses Buch geben.

Titelbild

Gangolf Hübinger: Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
279 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835317970

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