Der lange Weg zur Sichtbarkeit

Die Kunsthistorikerin Frances Spalding führt in ihrer reich bebilderten Biografie durch Leben und Epoche Virginia Woolfs

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Reiz, der von Leben und Werk Virginia Woolfs ausgeht, ist noch immer ungebrochen. In ihrer Biografie – 2016 zum 75. Todestag Woolfs im Sieveking Verlag erschienen, erstmals veröffentlicht in Großbritannien 2014 mit dem englischen Originaltitel „Virginia Woolf: Art, Life and Vision“ – gibt Frances Spalding Einblicke in Leben, Kunst und Visionen der großen Autorin. Illustriert sind die knapp 200 Seiten des Buchs mit mehr als 100 Gemälden, Tagebuchseiten und Fotografien.

Spalding, Kunsthistorikerin, Biografin und Expertin für britische Kunst des 20. Jahrhunderts, schrieb unter anderem über die Bloomsbury Group, in der Virginia Woolf eine zentrale Position einnahm, über Woolfs Schwester Vanessa Bell sowie Duncan Grant. Seit 2015 ist sie Herausgeberin des „Burlington Magazine“, eine der wichtigsten Fachzeitschriften für Kunstgeschichte.

Es existieren zahllose Bücher über Virginia Woolfs Leben und unzählige Studien sind ihrem Werk gewidmet, wie Spalding in ihrem Prolog bemerkt. „Leben, Kunst und Visionen“ ist das Buch zur Ausstellung, die von Juli bis Oktober 2014 in der National Portrait Gallery in London stattfand und „ein Leben in Bildern“ zeigte. Spalding als Co-Kuratorin der Ausstellung bemerkte zur Ausstellung, dass Woolf dort „aus allen möglichen Blickwinkeln betrachtet worden“ sei. Hinter der Geschichte ihres Lebens aber stehe eine große Verwundbarkeit.

Mit ihrem Buch knüpft sie direkt an die Londoner Ausstellung an, die, als „visuelle Erzählung“, an ein Porträt erinnere, und sich an alle Interessierte – Kenner von Woolf ebenso wie Menschen, die nicht mit ihr vertraut seien – richtete. Wie alle Porträts sei die Ausstellung notgedrungen selektiv gewesen: Sie befasste sich mit aufschlussreichen Elementen aus jeder Lebensphase der Autorin, achtete auf Veränderungen in ihrer Garderobe, ihrem Erscheinungsbild und Gesicht, „das zunehmend bekannt und zur Ikone wurde“. Auch Familienmitglieder, Freunde, „Rivalen und Verbündete“ waren darin zu sehen. Virginia Woolfs „kreative Ambitionen“ seien erwogen worden, Bekanntes als auch weniger Bekanntes habe Erwähnung gefunden. Einiges war zu sehen, das nie zuvor öffentlich ausgestellt wurde.

Die Ausrichtung der Exposition gibt dem Buch seine Struktur: Es setzt einen Schwerpunkt auf das, was man als „Entwicklung zur Sichtbarkeit“ beschreiben könnte, denn mit „wachsendem Ruhm wurde Virginia Woolf immer sichtbarer“. Porträts in verschiedenen Medien zeigen die Veränderungen im Erscheinungsbild der Autorin und veranschaulichen die einzelnen Phasen in ihrem Leben: Wie sie ihre viktorianische Herkunft hinter sich ließ, sich in Bloomsbury einrichtete, sich für die Hogarth Press und deren Autoren engagierte, ihr eigenes literarisches Projekt begann und schließlich, auf die Anforderungen des historischen Moments reagierend, ihrem „politischen Selbst“ eine Plattform gab.

Die Porträtkunst und das Festhalten von Identität, bemerkt Spalding, spielten in Virginia Woolfs Leben eine große Rolle: In ihrer Kindheit und Jugend war sie von Julia Margaret Camerons Fotos ihrer weiblichen Verwandten und berühmter Männer umgeben sowie von gemalten und gezeichneten Porträts des bedeutenden viktorianischen Malers und Bildhauers G. F. Watts. Woolfs Vater war ein Kurator der National Portrait Gallery und als Herausgeber für die ersten 26 Bände der „Dictionary of National Biography“ verantwortlich. Die Autorin ihrerseits schrieb in späteren Jahren eine Biografie des britischen Malers und Kunstkritikers Roger Fry und verfasste Vignetten von Menschen, die sie kannte oder kennenlernte. Zudem saß sie Malern und Fotografen Porträt.

Spaldings Buch ist eine Einladung an das Schauen, das Betrachten, das sich visuell Vertiefen in Gesicht, Form, Gestalt und Situationen. So, wie Woolf sich das Diktum Henry Jamesʼ zu Herzen nahm: „Beobachte immer!“, sehen sich die Leser der Biografie aufgefordert, genau hinzuschauen. Wir sehen Fotografien Virginia Woolfs, die Gisèle Freund und Man Ray aufnahmen, sehen Woolf auf dem Cover der Zeitschrift „Vogue“ im Mai 1925 exquisit gekleidet vor einem mit Vögeln und Blüten bemalten Wandschirm sitzend, ein Jahr später im Kleid ihrer Mutter, in dessen Stofffülle sie fast verschwindet.

Ein weiter Weg muss es gewesen sein von jener Virginia Stephens, die um 1900 an einem Winterabend von ihrem Halbbruder George „mit eigenartig scharfer, knarrender, verdrießlicher Stimme“ angewiesen wird: „Geh und zerreiß es“, als er sie in einem Kleid aus grünem Stoff sieht, kein Samt, kein Plüsch, sondern „etwas dazwischen“, hin zu jener Virginia Woolf, die wir im Juni 1926 in einem wundervollen Kleid samt Seidenmantel in Garsington im Garten der Lady Ottoline Morrell flanieren sehen, einer Garderobe, die die Pariser Modeschöpferin und jüngere Schwester des Modezaren Paul Poiret auf Anregung der Moderedakteurin Madge Garland für Virginia geschneidert hatte, nachdem diese Garland in einem ebensolchen zweiteiligen Kleid mit einfarbigem langen Seidenmantel bei einem Lunch bewundert hatte. In dieser Serie von Fotografien, aufgenommen von der Gastgeberin selbst, sehen wir Woolf stehend und rauchend, im Gespräch mit anderen Gästen, in einem Gartenstuhl sitzend selbstvergessen in ein Buch vertieft – und in jeder Aufnahme ausgesprochen elegant.

Es ist ein Vergnügen, diese Momentaufnahmen zu betrachten und in Woolfs Gesicht zu lesen, Leichtigkeit und Melancholie zu spüren und stets deren Aufmerksamkeit und feinnervigem Spürsinn zu begegnen. Die drei Doppelseiten gehören zu den schönsten des Buchs, ebenso wie die von Roger Fry und Vanessa Bell geschaffenen Porträtzeichnungen Woolfs, die um 1912 entstanden sind. Spalding bemerkt hierzu, dass die beiden Porträts nicht nur die unterschiedlichen Fähigkeiten ihrer Schöpfer offenbarten, sondern auch die Art der Beziehung, in der sie zu ihrem Modell standen: Die unterschiedliche Konstruktion von Virginia Woolfs Identität in diesen Porträts regte Bell zu weiterem Experimentieren an. In den drei folgenden Porträts, die sie zu dieser Zeit von der Autorin malte, lässt sie deren Gesichtszüge verschwimmen, überdeckt sie, um schließlich ganz auf sie zu verzichten. Diese Porträts gehören zu den faszinierendsten Entdeckungen des Buchs – eine gesichtslose Virginia Woolf, in einem weich fallenden Kleid in einem Deckstuhl liegend.

Faszination geht auch von den von Bell gestalteten Covern für Werke Woolfs aus, die von großer künstlerischer Ausdruckskraft und Lebendigkeit zeugen. Mit Blick auf ein Gemälde ihrer Schwester – „The Conversation“ aus den Jahren 1913 bis 1918 – schrieb Woolf an Bell: „Ich hatte vergessen, wie unglaublich brillant und fließend und witzig und kraftvoll diese Bilder sind“. Und sie fährt fort: „Aber ich bleibe bei meiner Meinung“, „dass du […] ausgesprochen geistreiche Kurzgeschichten erzählst & Situationen auf eine Art durchzuziehen verstehst, dass ich neidisch werde. Ich frage mich, ob ich Three Women wohl in Prosa verfassen könnte?“ Wunderbar außerdem die Fotografie der von Bell und Grant gestalteten Innenräume der Woolfs am Tavistock Square, die Anfang November 1924 in „Vogue“ zu sehen war!

„Viele Szenen sind gekommen & gegangen, ungeschrieben“, notiert Woolf im September 1926 in einem Tagebucheintrag. „[H]eute ist der 4. Sept., ein kalter grauer stürmischer Tag, der sich einprägen wird wegen des Anblicks eines Eisvogels & wegen meines Gefühls, als ich früh erwachte, wieder von dem ‚spirit of delight‘ besucht zu werden […]. Kein Biograph könnte jemals diese bedeutsame Tatsache in meinem Leben im Spätsommer 1926 erahnen“.

Woolfs kritischer Bemerkung zum Trotz: Spaldings kenntnisreiche Biografie bietet zahlreiche Einblicke in Leben und Werk der Autorin. Das Gesamtkonzept der an die Ausstellung anknüpfenden Biografie ist stimmig und ansprechend. Der Leser erfährt von Verdrängtem und von Wut, von künstlerischem Streben und konsequenter Arbeit an Brillanz, von der Bedeutung des Tods des Vaters als Befreiung zum Schreiben, wie Woolf im November 1928 in ihrem Tagebuch vermerkte: „Sein Leben hätte meinem ein absolutes Ende gesetzt. Was wäre passiert? Kein Schreiben, keine Bücher; – unvorstellbar.“ Wir sehen Dokumente einer Frau, die hoffnungsfroh und entmutigt, tätig und krank ist, Dokumente einer Schriftstellerin, die glücklich ist in ihrer Arbeit, „in der Fruchtbarkeit ihrer Phantasie, in der wachsenden Sicherheit ihrer Ausdrucksfähigkeit, in der anhaltenden Entfaltung ihrer Schöpferkraft“, wie Anne Olivier Bell in ihrer Einleitung zu den Tagebüchern Virginia Woolfs der Jahre 1925-1930 schrieb. Mit dieser Entfaltung als Schriftstellerin ist die Entwicklung ihres „Kleidungsbewusstseins“, wie Woolf selbst es in einem Tagebuch nannte, ihr Weg zur „Sichtbarkeit“, aufs Engste verknüpft.

Titelbild

Frances Spalding: Virginia Woolf. Leben, Kunst & Visionen.
Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Wulfekamp und Matthias Wolf.
Sieveking Verlag, München 2016.
232 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783944874463

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