Die Reformation als Sprachereignis

Martin Luther, die Reformation und die Entwicklung einer deutschen Volkssprache

Von Christoph GalleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Galle

Die Entwicklung der deutschen Volkssprache nimmt im europäischen Vergleich eine Sonderrolle ein, da sie relativ spät vereinheitlicht und normiert wurde und zudem auch nicht den Status einer Nationalsprache errang. Anders als etwa in Italien, wo ein einheitliches Volgare bereits im 13. und 14. Jahrhundert insbesondere durch die Texte Dantes, Petrarcas und Boccaccios seinen fulminanten Anfang nahm, herrschten in Deutschland noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts unterschiedliche Regionaldialekte vor, die die Kommunikation zwischen einem Oberdeutschen und einem Lübecker zuweilen nahezu unmöglich machten. Während viele norddeutsche Hansestädte ab dem Beginn des 14. Jahrhunderts allmählich dazu übergingen, ihre Kaufmannsbücher und Handelsakten im volkssprachlichen Dialekt zu verschriftlichen, setzte dieser Prozess in anderen Regionen Deutschlands meist später ein, in weiten Teilen ist das amtliche Schrifttum des 15. Jahrhunderts sogar noch in lateinischer Sprache gehalten. Es bedurfte daher eines historischen Ereignisses mit tiefgreifenden Folgen für ganz Deutschland, um zunächst die vorhandenen Regionaldialekte zu vereinheitlichen und sodann in möglichst vielen Bereichen des öffentlichen Lebens zum Durchbruch zu verhelfen. Als Initialzündung dieser Entwicklung wird gemeinhin die Reformation angesehen, deren Protagonisten danach strebten, eine möglichst große Leserschaft über die territorialen Grenzen einzelner Fürstentümer hinweg zu erreichen. In diesem Zusammenhang wird der Bibelübersetzung Martin Luthers eine besondere Bedeutung beigemessen. So schlüssig diese Interpretation auch ist, sie geht doch überwiegend von einer mehr oder weniger einseitigen Beeinflussung aus, dass nämlich die Etablierung und Entwicklung einer einheitlichen deutschen Schreibsprache ihrerseits von dem ‚Medienereignis Reformation‘ profitierte. Es muss jedoch vielmehr von einer fruchtbaren wechselseitigen Wirkung ausgegangen werden, da der erfolgreiche Verlauf der Reformation ohne den bewussten Gebrauch der Volkssprache nicht denkbar gewesen wäre. Dies lässt sich sowohl an Luthers Berühmtwerden beobachten, als auch am Verlauf der reformatorischen Bewegungen und zuletzt auch an den gesamtgesellschaftlichen Folgen der Reformation.

Zum Verständnis der Reformation in ihren Anfangsjahren dienen gemeinhin Ereignisse in der Biographie Luthers als Orientierungspunkte. Die reformationsgeschichtliche Forschung hat sich lange mit der Frage auseinandergesetzt, ob es den Thesenanschlag Luthers im Oktober 1517 überhaupt gegeben hat. Klar dürfte in jedem Fall sein, dass dieses tatsächliche oder vermeintliche Ereignis keine überregionale, schon gar keine epochemachende Wirkung hatte, wie die Erinnerungskultur uns lange Zeit Glauben machen wollte. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass es sich um eine innerakademische Ankündigung handelte, die außerhalb Wittenbergs keinerlei oder nur sehr geringe Auswirkungen hatte. Wieso diese Lesart folgenreich für das Verhältnis zwischen Luther und der Volkssprache ist, ergibt sich aus der These Bernd Moellers, Luther sei über die Stadtgrenzen Wittenbergs hinaus auch nach der Thesenveröffentlichung nicht wirklich bekannt gewesen. Daran habe sich erst im Folgejahr etwas geändert, als Luther den ‚Sermon von Ablaß und Gnade‘ veröffentlichte, in dem er sich in der Volkssprache (!) mit der Ablassthematik auseinandersetzte. Die 95 Thesen aus dem Jahr 1517 hingegen sind in lateinischer Sprache formuliert und dürften demzufolge wohl nur unter Gelehrten bekannt gewesen sein. Die These Moellers wird untermauert durch die 26 Auflagen des ‚Sermons‘, die bis 1520 erschienen. Folgt man dieser Annahme, so muss das Gleiche auch für die frühreformatorische Auseinandersetzung zwischen Martin Luther und Johann Eck, für die Disputationen in Heidelberg und Leipzig gelten, über die jeweils nur in lateinischer Sprache berichtet wurde. Diese aus heutiger Sicht für die Vita Luthers wie auch die reformatorische Bewegung insgesamt so bedeutsamen Ereignisse haben daher für ein lateinunkundiges Publikum in gewisser Weise gar nicht stattgefunden!

Die rein volkssprachliche Leserschaft erfuhr von der gesamten Entwicklung, von der Ablasskritik und von den kirchenreformerischen Vorschlägen erst, als man sich mit volkssprachlichen Texten bewusst an sie wandte. Überrascht von der schnellen Verbreitung seines ‚Sermons‘, der in wenigen Monaten in verschiedenen Städten in ganz Deutschland nachgedruckt wurde, erkannte Luther bald das Potential volkssprachlicher Veröffentlichungen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, wieso er unter anderem seine drei reformatorischen Hauptschriften im Jahr 1520 allesamt in deutscher Sprache verfasste. Auch andere Theologen, insbesondere Georg Spalatin, machten sich daran, vormals in lateinischer Sprache erschienene Luthertexte als Übersetzungen auf den Markt zu bringen, so dass in kurzer Zeit eine Flut reformatorischer Texte Deutschland überschwemmte und große Teile der Gesellschaft in bislang nicht bekannter Weise erreichte. Die Wahl der Volkssprache hatte sich als der beste Multiplikator von Gedanken erwiesen. Das reformatorische Gedankengut konnte rasch verbreitet werden. Für Luther persönlich waren damit jedoch auch Risiken verbunden: es ist bezeichnend, dass er erst als Gefahr wahrgenommen und im weiteren Verlauf auch zum Ketzer erklärt wurde, nachdem seine Texte in der Volkssprache weite Teile der Gesellschaft erreicht hatten.

Bereits in den Jahren 1518/19 war sich Luther der unterschiedlichen Möglichkeiten von lateinischen Texten einerseits und deutschsprachigen andererseits bewusst. Er begann, zwischen zwei verschiedenen Rezipientenkreisen zu unterscheiden, denn beide Sprachen richteten sich an ein intellektuell wie sozial andersgeartetes Publikum. Er differenzierte zwischen Gelehrten, unter denen er Lateinkundige, insbesondere Theologen, verstand, und Laien, die den weitaus größeren Teil der Gesellschaft repräsentierten und höchstens über volkssprachliche Lektürefähigkeiten verfügten. Teilweise machte er bereits im Titel seiner Veröffentlichungen darauf aufmerksam, an welche Leserschaft er sich richtete: So wandte er sich 1519 mit seinem ‚Sermon vom hochwürdigen Sakrament des heiligen und wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften‘ an die Laien, mit seiner ‚Auslegung deutsch des Vaterunsers‘ gar an die einfältigen Laien. Insgesamt lässt sich beobachten, dass Luther dazu überging, wissenschaftliche Arbeiten wie Bibelkommentare oder reformatorische Streitschriften in lateinischer Sprache zu veröffentlichen, seelsorgerliche und katechetische Texte hingegen in der Volkssprache. Von den 27 Veröffentlichungen des Jahres 1520 ist die deutliche Mehrheit in deutscher Sprache erschienen und die Inhalte dieser Texte verdeutlichen, dass es darum ging, die Laien über die Missstände in Kirche und Klerus zu unterrichten. Die lateinische Gelehrtenwelt war darüber unter anderem durch das (lateinische) ‚Lob der Torheit‘ des Erasmus von Rotterdam und den wohl ebenfalls von diesem verfassten, aber anonym erschienenen Dialog zwischen Papst Julius II. und dem Apostel Petrus bereits hinreichend informiert. Dass die Vertreter der römischen Papstkirche lange Zeit keine öffentlich wirksamen Gegenmaßnahmen trafen, ist ebenfalls mit der Sprachwahl zu erklären, da sie es ablehnten, theologische Auseinandersetzungen vor einer breiteren Öffentlichkeit auszutragen und folglich lateinische Gegenschriften in Umlauf brachten.

Das Medienereignis Reformation ist ganz wesentlich auf die Einbeziehung der volkssprachlichen Leserschaft zurückzuführen. Abgesehen von den Inhalten, die den nach Erlangung des Seelenheils strebenden Menschen des frühen 16. Jahrhunderts interessierten, wurden nun erstmals für ihn Texte veröffentlicht, die meist aufgrund geringen Umfangs zudem auch kostengünstig waren. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wollte man den Erfolg der Reformation und die damit einhergehenden Folgen für die Vereinheitlichung der deutschen Sprache allein auf die zeitgenössischen Druckerzeugnisse zurückführen. Natürlich spricht die ungeheure Anzahl an gedruckten Texten, gerade auch der Flugblätter und Flugschriften, für sich, doch müssen ohne Frage auch andere Formen der Informationsvermittlung berücksichtigt werden. Schließlich ist davon auszugehen, dass nicht einmal jeder zehnte Deutsche in seiner Muttersprache lesen und schreiben konnte. Mit anderen Worten: Die Gesellschaft des 16. Jahrhunderts war in weitaus stärkerem Maße von mündlicher Kommunikation geprägt. Informationen erhielten Illiteraten vor allem von der Kanzel, durch Bekanntmachungen auf den Marktplätzen, durch gegenseitigen Austausch oder indem ein Lesekundiger konsultiert wurde. Vor dem Hintergrund, dass die Reformatoren der Predigt in der Volkssprache eine zentrale Bedeutung beigemessen haben, fungierte diese Form der mündlichen Kommunikation in mindestens gleichrangiger Weise als Massenmedium wie das reformatorische Tagesschrifttum. Während für die Vermittlung reformatorischer Inhalte auch der visuelle Aspekt vor allem in Form bildlicher Darstellungen in Druckwerken nicht außer Acht gelassen werden darf, ist für die Volkssprachenwerdung das Liedgut der Zeit von entscheidender Bedeutung. Wie die Predigt eine Aufwertung durch die Reformatoren erfuhr, gilt ähnliches für den liturgischen Gesang. Auch hier nahm Luther eine führende Rolle ein. Durch Lieder wurde es möglich, evangelisch-reformatorisches Theologieverständnis wie auch die Hauptinhalte von Bibel und christlichem Glauben zu vermitteln. Anders als im Falle der Rezeption von Texten machte die Teilnahme am Gesang keine Unterschiede zwischen Bildungsstand, sozialer Stellung oder dem Zugang zum öffentlichen Informationsaustausch. Durch mehrmaliges Singen eines Liedes konnte sich der Text mit Hilfe der Melodie leicht einprägen. Dies sorgte nicht nur für die inhaltliche Vermittlung, sondern war vor allem auch folgenreich für die sprachliche Entwicklung: Über regionale und dialektale Grenzen hinweg wurde ein einheitlicher Text gesungen, der Anteil hatte an der Etablierung einer einheitlichen Sprache. Nicht ohne Grund hat daher Friedrich Engels das von Luther gedichtete ‚Ein feste Burg ist unser Gott‘ als die ‚Marseillaise des 16. Jahrhunderts‘ bezeichnet. Wie auch immer man dieser Wertung gegenübersteht, sie bringt in jedem Fall treffend den Einfluss des reformatorischen Liedgutes zum Ausdruck. Die persönliche Entwicklung Luthers ist genauso wie die der reformatorischen Bewegung insgesamt primär auf den Einsatz der Medien Druckwerk und Liedgut in der Volkssprache zurückzuführen. Im Unterschied zu den Reformbestrebungen von John Wyclif und Jan Hus konnte die von Luther initiierte Reformation in Deutschland erfolgreich verlaufen, weil die Möglichkeiten der Buchdruckkunst als Massenmedium erkannt wurden – und man sich zusätzlich der Volkssprache bediente.

Zweifellos profitierte die Volkssprachenwerdung in Deutschland vom Reformationsereignis in vielfältiger Hinsicht und nicht nur durch Luthers Bibelübersetzung. Genauso ist der erfolgreiche Verlauf der reformatorischen Bewegung auf den Einsatz der deutschen Sprache zurückzuführen. Aus diesem sich befruchtenden wechselseitigen Verhältnis wiederum ergaben sich zahlreiche Veränderungen für die deutsche Gesellschaft: Auch wenn Jürgen Habermas erst im Zuge der bürgerlichen Bewegung die Ausbildung einer öffentlichen Meinung beobachtet hat, ist es nicht verfehlt, aufgrund der Fokussierung auf das Individuum in der Renaissance und der in der Reformation zu beobachtenden Einbeziehung weiter Bevölkerungskreise in den öffentlichen Diskurs bereits hier einen Vorläufer zu sehen. Sicher kann noch nicht von mündigen Bürgern gesprochen werden, wohl aber von informierten und einbezogenen Bürgern, deren Meinung Gehör fand und zur Verurteilung Luthers führte. Niedergeschlagen hat sich diese Meinung unter anderem im Interesse an reformatorischen Schriften, während gleichzeitig die Nachfrage an altgläubigen Schriften deutlich sank. Der Erfolg vieler reformatorischer Texte ist dabei auch auf unautorisierte Nachdrucke zurückzuführen, die an manchen Orten vervielfältigt wurden, um der Nachfrage gerecht zu werden. Da ein Copyright im heutigen Sinne fehlte, konnten die Verfasser der Texte eine unerlaubte Vervielfältigung nicht verhindern. Vermutlich waren sie aber auch gar nicht daran interessiert, da auf diese Weise eine noch größere Verbreitung ihrer Gedanken erzielt werden konnte. Von kirchlicher und obrigkeitlicher Seite konnten ebenfalls keine Gegenmaßnahmen getroffen werden, da die territoriale Zersplitterung Deutschlands keine flächendeckende Zensur zuließ. Die Folge war, dass Informationsaustausch und Kommunikation nicht wirksam eingedämmt werden konnten und erstmalig der gesellschaftliche Druck über die Interessen von Kirche und Kaiser triumphierte. Damit einhergehend stellte die Einbeziehung in den öffentlichen, volkssprachlichen Diskurs für viele auch einen Anreiz dar, sich eigene Lektürefähigkeiten zu erwerben. Um einer Predigt folgen oder ein Lied einstudieren zu können, war eine Lesefähigkeit nicht erforderlich. Wollte man aber auch selbst die überall in Umlauf befindlichen und günstig zu erwerbenden Flugschriften verstehen, musste man sich die nötigen Fähigkeiten aneignen. Aus diesem Grund ist schon in den 1520er Jahren – und damit bereits bevor die reformatorische Schul- und Universitätsreform ihre Wirkungen zeigte – ein deutlicher Anstieg der volkssprachlich Lesekundigen gemessen an der Gesamtbevölkerung nachweisbar. Diese Entwicklung hat ihrerseits wiederum die Etablierung einer einheitlichen deutschen Sprache gefördert.

Die Reformation war vor diesem Hintergrund mehr als nur der Versuch der Kirchenreform mit der Folge der Kirchenspaltung. Ihrem Charakter nach und auch in ihren Auswirkungen war sie ein Medien-, Kommunikations- und Bildungsereignis. Man möchte hinzufügen: Sie war auch ein Sprachereignis. Innerhalb des volkssprachlichen Bildungsprozesses kommt Martin Luther sicher die größte Bedeutung zu. Durch seine reformatorischen Schriften, sodann auch seine Bibelübersetzung hat er wesentlich zur Ausbreitung seiner eigenen, in der Folge einheitlichen deutschen Sprache beigetragen. Deren Herausbildung ist sicher von der Reformation nicht initiiert, wohl aber enorm gefördert worden, und die reformatorische Bewegung ihrerseits verdankt ihren Erfolg in Teilen dem Gebrauch der Volkssprache.

Auswahlliteratur:

Asa Briggs, Peter Burke: A Social History of Media. From Gutenberg to the Internet, 3. Aufl., Cambridge 2009.

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Bernd Moeller, Das Berühmtwerden Luthers, in: Zeitschrift für historische Forschung 15 (1988), S. 65-92.

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Georg Steer: Zum Begriff „Laie“ in deutscher Dichtung und Prosa des Mittelalters, in: Ludger Grenzmann, Karl Stackmann (Hgg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, Stuttgart 1984, S. 764-768.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg