Eine umfassende Bildergeschichte der Moderne

Zu Gerhard Pauls „Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel“

Von Michael KurzmeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Kurzmeier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerhard Paul hat mit seinem Werk Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel eine der wohl umfassendsten Geschichten visueller Kultur vorgelegt. Er behandelt darin die Entstehung und Rezeption von Bildern, angefangen bei den frühen Anfängen der Fotografie bis hin zu der Flut an digitalen Bildern unserer Zeit. Dabei konzentriert sich das Werk nicht ausschließlich auf Fotografien, sondern schließt auch Plakate, Illustrationen, Kunstwerke und schließlich digitale Bilder ein.

Besonders macht das Buch seine Herangehensweise: Bilder werden hier nicht als rein technische Abbilder verstanden, sondern – ganz im Gegenteil – als wirkungsstarke Ausdrücke von Politik, Kultur und Gesellschaft. Das visuelle Zeitalter ist also keine technische Aneinanderreihung von bereits Bekanntem, sondern eine oft überraschende Geschichte sich gegenseitig beeinflussender, sich weiter verbreitender und bekämpfender visueller Eindrücke.

Insofern stehen für Paul Bilder nie allein, sondern immer in einem Zusammenhang zu der Technik, die sie ermöglicht, der Politik, die sie erzeugen und den Betrachtern, die sie deuten. Die Rezeption eines Bildes ist für ihn ein Vorgang, der wie das Lesen eines Buches oder das Navigieren im Internet erst gelernt werden muss. Dabei hatte der „Visual Man“ zu lernen, Informationen – etwa aus Komposition, Motiv und Farbwahl – in kurzer Zeit aufzunehmen und zu interpretieren. Eine gewaltige Herausforderung, die Paul immer in Verbindung mit den technischen Möglichkeiten seiner Zeit in Verbindung bringt. Als etwa die Verbreitung relativ günstiger und einfach zu bedienender Fotoapparate einsetzte, sah sich der Zeitgenosse mit einer expotenzierten Zahl an Bildern konfrontiert, mit denen er sich im Alltag auseinandersetzen musste. Die damit verbundene Fähigkeit, ein Bild in kurzer Zeit verstehen zu können, sich die Regeln des Zeigens und Nicht-Zeigens instinktiv anzueignen, war mindestens so wichtig wie die in den frühen 2000er-Jahren oft geforderte digitale Teilhabe, also die Fähigkeit und Möglichkeit, in der digitalen Gesellschaft mitzuwirken.

Das Buch begründet all das sehr anschaulich, indem es die massiven Veränderungen in der Zirkulation von Nachrichten und vor allem Bildern darlegt. Als es endlich möglich war, ein Bild von England und später auch von Amerika so schnell nach Europa zu transportieren, dass es am nächsten Tag in den Zeitungen erscheinen konnte, änderte sich die Rolle des Journalisten grundlegend. Bilder, denen man einen größeren Wahrheitsgehalt zusprach, wurden nun zu schlagkräftigen Argumenten im politischen Diskurs; die Aufgabe des Journalismus änderte sich von einer lückenfüllenden Interpretation der Ereignisse zu einer Kompilation und Kommentierung der Bildquellen.

Mit der zunehmenden Visualisierung der Politik änderten sich auch gängige Formen der Repräsentation und des politischen Handelns. Während vor dem Beginn der Fotografie kaum ein Untertan seinen Herrscher jemals zu Gesicht bekam und Kommunikation oft durch Briefe und Bekanntmachungen erfolgte, konnte nun jeder dem Kaiser in einer Illustrierten in die Augen sehen. Einer der ersten Stars dieser frühen Mediengesellschaft ist dann auch tatsächlich Kaiser Wilhelm II. gewesen, der die Kräfte des Bildermarktes für seine Zwecke zu gebrauchen verstand. Stets bemüht, ein möglichst attraktives Motiv abzugeben, konnte er sich im Gegenzug auf viele Pressefotografen und die flächendeckende Verbreitung seiner Porträts verlassen. Eine Art der Selbstdarstellung, die seitdem in der Politik über Erfolg oder Scheitern einer Person oft mehr bestimmt als ihre Leistungen. Man braucht sich nur den ‚Fernsehkanzler‘ Gerhard Schröder im Vergleich mit dem eher medienscheuen Helmut Kohl vorzustellen.

Mit dem Ersten Weltkrieg endete auch die relativ einheitliche, weil überschaubare Bilderwelt und zerbrach in immer autonomer werdende, oft abgeschottete Bildwelten. Der Krieg war wie kein vorheriger Konflikt von einem Kampf der Bilder bestimmt. Alle Parteien setzten Kameratrupps und Kriegsfotografen ein, um der neu entstandenen Propaganda ständig neues Material zu liefern. Paul zeigt hier anschaulich die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte berühmter Motive wie das der Trümmerfrau, die schon 1943 durch Schauspielerinnen des Hamburger Schauspielhauses ihr markantes Bild erhielt.

Generell rückt der Autor ab dem dritten Kapitel von der bisherigen chronologischen Ordnung ab und behandelt nun Bilderwelten mehr nach ihrem Zusammenhang, was Wiederholungen vermeidet und der gewachsenen Produktion von Bildmaterial gerecht wird. Ähnlich wie etwa Bilder der Gräueltaten des Krieges erst durch die Dezentralisierung der Bilderproduktion entstehen konnten – einfach zu entwickelnde Filme befreiten die Bildproduktion aus staatlichen Händen –, so konnten die neuen und komplexen Bilderwelten des digitalen Zeitalters erst durch die Verbreitung günstiger Kameras und des Internets entstehen. Es spricht für Pauls Engagement, bei dieser Analyse auch Folterbilder aus Abu Ghraib nicht auszulassen und die Ästhetik des mit seiner Waffe verschmolzenen Piloten von den Propagandaplakaten des Zweiten Weltkriegs über den Sport bis hin zu den Videos moderner Drohnenangriffe zu verfolgen.

Generell finden sich überraschend viele gegenwärtige Themen in dem Werk. Wo manche Bände wohl mit den Bildern von 9/11 geendet hätten, analysiert Paul mutig Bilder des sogenannten IS zusammen mit neuen Möglichkeiten des Sehens wie etwa Google Earth. Man ist bei der Lektüre immer wieder überrascht, wie aktuell die angesprochenen Themen sind. Auch die gewählten Beispiele zeugen von einem guten Überblick des Autors über die stetig wachsende Bilderflut des digitalen Zeitalters. Wer sich mit Visual Studies oder allgemeiner der gesellschaftlichen Bedeutung von Bildern zusammen mit den Bedingungen, die zu ihrer Entstehung führten, auseinandersetzt, kommt an diesem umfassenden Werk nicht vorbei.

Diese neuen, vielfältigen und vor allem komplexen Bilderwelten verstärken jenes Problem, mit dem sich der „Visual Man“ bereits am Anfang des Siegeszuges der Bilder auseinandersetzen musste: Was bedeutet in einer Welt, in der über 300 Millionen Bilder täglich auf Facebook eingestellt werden, visuelle Kompetenz? Oder ist es einem einzelnen Betrachter schon lange nicht mehr möglich, einen Überblick in diesem Netzwerk aus Produktion und Rezeption zu behalten? Das Buch stößt in diesem Punkt zum Teil an die Grenzen des Mediums, zu den meisten der vielen gut gewählten Beispielen stellen sich noch ganze Bilderwelten, die keine Erwähnung mehr finden konnten. Zwar kommt das Buch in einem großzügigen Format, das viele Bilder am Seitenrand abbildet, aber ein System darüber hinaus verweisender Links hätte helfen können, die räumlichen Beschränkungen zu überwinden, mehr Informationen anzubieten und auch die gelegentlich zu kleinen Bilder besser verständlich zu machen. Diese Einschränkungen können die hervorragende Leistung von Pauls Buch jedoch nicht schmälern. So umfangreich, genau und doch zugänglich hat das visuelle Zeitalter hier einen würdigen Zeugen gefunden.

Titelbild

Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
768 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835316751

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