Eulenspiegel schreibt Gespenstergeschichten

Wolfgang Koeppen im Dritten Reich

Von Jörg DöringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Döring

I

Wolfgang Koeppen gilt noch immer in erster Linie als Nachkriegsautor, wiewohl zwei seiner fünf Romane vor 1945 erschienen sind. Er gehört – wie Günther Eich, Peter Huchel und Horst Lange, wie Marie Luise Kaschnitz, Hans Georg Brenner, Gerhart Pohl oder Wolfgang Weyrauch – zu jener Generation der zwischen 1900 und 1910 Geborenen, die in der späten Weimarer Republik zu schreiben begannen und deren Pech es war, dass ihr literarischer Durchbruch mit dem Ausbruch der Diktatur zusammenfiel. Keiner der genannten Autoren kann als Parteigänger des Nationalsozialismus bezeichnet werden, al­lesamt beriefen sie sich nach 1945 auf ihre (wenn auch unausgesprochen gebliebene) Ab­lehnung des Dritten Reiches von Beginn an; und Koeppen gar entwickelte sich zu einem exponierten Kritiker der Aufarbeitungsversäumnisse in der westdeutschen Nachkriegsge­sellschaft.

Dennoch musste seinerzeit ihr Wunsch, zu publizieren, stärker gewesen sein als die Missbilligung der totalitären Verhältnisse. Zwar blieb die Diktatur für ihr Schreiben nicht folgenlos, aber beeinträchtigte (vorerst) nicht ihre Verbreitungschancen. So entstand eine Literatur, die gleichermaßen nicht-oppositionell wie nichtnationalsozialistisch war – so mindestens die Auffassung von Hans Dieter Schäfer, dem das Verdienst gebührt, die Ge­meinsamkeiten dieser Autorengeneration als erster betont zu haben.[1]

Auch wenn Schäfers Thesen, dass der Literaturbetrieb im NS keineswegs als so gleichgeschaltet sich darstellte wie häufig angenommen und bis Kriegsbeginn auch die Ab­sperrung gegenüber der internationalen ästhetischen Moderne nicht konsequent gelang, im allgemeinen nach wie vor Bestand haben und von neueren Untersuchungen noch be­stätigt werden[2], so sind einzelne Autoren dieser „jungen Generation“ und deren Haltung zum NS seither nicht unumstritten geblieben.

Die unlängst geführte Kontroverse um die Hörspiele von Günther Eich steht hierfür als Beispiel, aber auch Koeppen sind bereits – vor allem des zweiten seiner Romane wegen (Die Mauer schwankt) eine gewisse Anfangseuphorie für den NS und ein gefährlicher „Kurs der Anpassung an die faschistische Ästhetik“[3] nachgesagt worden.

Bislang drehte sich die Auseinandersetzung um Koeppen, an der der Autor selbst teilhatte[4], allein um Texte aus der Frühzeit der Diktatur: Feuilletons, die Koeppen 1933 als junger Redakteur des Berliner Börsen Courier verfasst hatte, sowie die beiden Romane Unglückliche Liebe (1934) und Die Mauer schwankt (1935), die in rascher Folge beim renommierten Cassirer-Verlag in Berlin erschienen wa­ren. Geschrieben hatte Koeppen allerdings den zweiten dieser Romane bereits in Holland, wohin er Ende 1934 gemeinsam mit jüdischen Freunden ausgereist war – ohne allerdings selbst je bedroht gewesen zu sein, wie er nachträglich versicherte.

Über die Fortsetzung seiner Karriere als Autor war seither auffallend wenig bekannt, jedenfalls kaum mehr, als Koeppen selber in Interviews oder autobiographischen Skizzen anzudeuten bereit war. Ende 1938 kehrte er aus dem freiwilligen Exil nach Deutschland zurück, um fortan, wie etliche seiner Schriftstellerkollegen, als Drehbuchautor dem deutschen Film zuzuarbeiten – gutbezahlt zwar, wie er einräumte[5], aber mit einer lange Zeit erfolgreichen Subversionsstrategie, die ihn vor schuldhafter Verstrickung in den NS­Filmapparat bewahren sollte. Er beteuerte, so gearbeitet zu haben, dass keines der von ihm verfassten Drehbücher je wirklich hätte verfilmt werden können und er dennoch – als ewiges Talent – von der Filmgesellschaft weiterbeschäftigt wurde. In Kriegszeiten bedeu­tete dies zudem, mit „Unabkömmlichkeitsbescheid“ dem Frontschicksal zu entgehen. So oder ähnlich resümierte Koeppen seine Tätigkeit als Filmautor im Dritten Reich; Konkre­teres, etwa zu den Filmprojekten, an denen er beteiligt gewesen war, hat er nie verlauten lassen.

Bis 1943 ging Koeppens Strategie auf, danach sei ihm – so Koeppen – der Produkti­onschef der Bavaria auf die Schliche gekommen und habe ihn zur Bearbeitung eines dezi­diert propagandistischen Stoffes verpflichten wollen. Anderenfalls hätte ihm das Ende seiner Filmtätigkeit gedroht; der unverzügliche Stellungsbefehl wäre die unausweichliche Folge gewesen. Daraufhin tauchte Koeppen unter und verbrachte die Zeit bis Kriegsende, teils hungernd und ständig bedroht von Denunziation, im Keller eines Tennis-Hotels am Starnberger See. Erst 1951 trat der mittlerweile 45jährige Autor mit dem Roman Tauben im Gras wieder und diesmal nachhaltig ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit.

Soweit die durch (spärliche) Selbstauskünfte gewissermaßen autorisierte Kurzfassung von Koeppens Schicksal zwischen 1933-45. Wenn er auf diese Zeit zu sprechen kam, dann viel lieber in raunenden Andeutungen als detailliert und konkret: „Das Grauen kam über die Welt. Ich stellte mich unter, ich machte mich klein, ich ging Eulenspiegels Wege, ich erlebte Grotesken und Verhängnisse, Freundschaft und Verrat, ich war ein Schaf unter Wölfen und ein Wolf unter Schafen“.[6] Mit Eulenspiegel also verglich er seine Rolle im Dritten Reich, jenem Virtuosen der Überanpassung, der gerade dadurch – in der Maske des Narren – die geltende Ordnung subvertiert. Über viele Jahre hinweg stellte Koeppen über diesen Eulenspiegel im Dritten Reich einen autobiographischen Roman in Aussicht. Er blieb ungeschrieben.

Die Koeppen-Forschung hat sich lange Zeit damit zufrieden gegeben, das Werk Koeppens in zwei deutlich voneinander geschiedene Produktionsperioden zu unterteilen: die beiden frühen Romane aus den Anfangsjahren des NS, und dann, 16 Jahre später, der Auftakt zu der berühmt gewordenen Nachkriegstrilogie. Dazwischen lag in werkbiogra­phischer Hinsicht eine terra incognita, mit der sich gut leben ließ, solange man sie außer acht lassen konnte. Doch spätestens seit 1992, seit der Bekanntgabe der Autorschaft Koeppens an Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch von 1948 – der Geschichte eines jüdischen Briefmarkenhändlers, der auf abenteuerliche Weise die Shoah und das ga­lizische Ghetto überlebte – war deutlich geworden, dass man bei Koeppen keineswegs vor werkbiographischen Überraschungen gefeit war. Quasi über Nacht musste Koeppens Selbstdarstellung eines vorgeblich werklosen Interims in Zweifel gezogen werden, und der ganze Lebenszeitraum zwischen 1933 und 45, den man vorher guten Gewissens glaubte vernachlässigen zu können, wurde plötzlich deutungsrelevant. Wie war Koeppens Nach­kriegsengagement für eines der überlebenden Opfer der Judenverfolgung in Einklang zu bringen mit seiner Zeit als Drehbuchautor beim NS-Film? Die behauptete Lücke im Koeppen-Œuvre entpuppte sich in Wahrheit als Kenntnislücke der Koeppen-Forschung.

Zum Teil neues, von Koeppen bislang unerwähnt gebliebenes Quellenmaterial, einige Textfunde, die nicht Eingang in die Werkausgabe gefunden haben, Briefe aus dem Exil, Koeppens Personalakte im (ehemaligen) Berlin Document Center und einige Belege für seine Aktivitäten beim Film konnten dazu beitragen, diese Lücke zu verkleinern. Sie zeigen, dass der Autor Koeppen, obwohl er nach 1935 seine Arbeit als Romancier vorerst abbricht, sich dennoch fortwährend weiterbewegt im ganzen Spektrum der Möglichkeiten schriftstellerischer Praxis: Er lässt auch vom Exil aus den Kontakt zu den Zeitungsredaktionen im Reich nicht abreißen, publiziert Kurzprosa, tex­tet für die Kabarettbühne, bietet sich als Filmkritiker an; nach seiner Rückkehr nach Deutschland taucht er neben seiner Tätigkeit als Szenarist und Drehbuchbearbeiter beim Film gleichzeitig auch als Sachbuchrezensent auf. Auch dieses neue Material gibt nur einen vorläufigen Ausschnitt von Koeppens Schreiben zwischen 1933-45 zu erkennen. Doch immerhin relativiert es jene lang herrschende Vorstellung einer er­zwungenen Schreibabstinenz. Koeppen schrieb vielleicht nicht weiter am Werk (das auch für ihn gleichbedeutend war mit Romanwerk), aber er blieb ein Autor. Nicht zuletzt eine Kurzerzählung, die Koeppen unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1939 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte, eine „Gespenstergeschichte“,[7] wie er später befand, und ein Filmdrehbuch, an dem Koeppen mitgeschrieben hat, sind aufschlussreiche Quellen dafür.

II

Seit April 1932 schrieb Koeppen, nachdem er sich zuvor republikweit bei den verschie­densten Zeitungen und Zeitschriften – von der Roten Fahne bis zur Neuen Badischen – als Beiträger versucht hatte, regelmäßig für den Berliner Börsen Courier. Das Blatt gehörte – zusammen mit der Deutschen Allgemeinen Zeitung und der Frankfurter Zeitung – zu den renommierten überregionalen Tageszeitungen in der Weimarer Republik. Koeppen selber charakterisierte es später wie folgt: „in seinem politischen Teil demokratisch liberal, im Wirtschaftsteil hochkapitalistisch und im Feuilleton kulturbolschewistisch.“[8] Der Feuille­ton-Redakteur, dem dieser Ruf sich verdankte, war es auch, der den damals 26jährigen Koeppen für den Börsen Courier entdeckte: Herbert Ihering – neben Alfred Kerr der füh­rende deutsche Theaterkritiker –, u.a. ein publizistischer Förderer Brechts und der Pisca­tor-Bühne. Bald schon avancierte Koeppen hinter Ihering und Emil Faktor zum dritten Feuilleton-Redakteur des Blattes und war mehrmals wöchentlich mit zumeist kürzeren Beiträgen vertreten. Der Zeitpunkt dieses Karrieresprunges ist deshalb hier von Interesse, weil deutlich wird, dass Koeppen seine gefestigte Position im Börsen Courier des Jahres 1933 nicht etwa erst der Demission jüdischer Mitarbeiter verdankte. Im Gegenteil: Der Börsen Courier gehörte zu den Blättern, die mittels arischer Decknamen ihren jüdischen Autoren so lang als möglich eine Schreibmöglichkeit zu erhalten suchten. Über das Tele­phon-Buch, so Koeppen später, hätten Ihering und er dem damaligen Feuilleton-Beiträger Günther Stern ein Pseudonym verschafft: Fortan nannte er sich Günther Anders.

Auch wenn der Börsen Courier nach 1933 politisch zu großen Anpassungsleistungen gezwungen war, so ist doch immerhin auffällig, dass das Schreiben eines Autors wie Koeppen davon zunächst mehr oder weniger unberührt blieb. Nun kam ihm zugute, dass er als Feuilleton-Autor nur im zweiten oder dritten Glied stand. Ihering, dem prominen­ten Großkritiker, wurden jetzt kulturpolitische Bekenntnisartikel abverlangt, die den Gesinnungswandel und die weltanschauliche Zuverlässigkeit des Blattes unter Beweis stellen sollten. Der bisweilen ausgesprochen strategischer Opportunist er­füllte diese Erwartungen. Koeppen hingegen schrieb weiter wie zuvor in der Weimarer Republik – sowohl was das Spektrum als auch die Tonart seiner Beiträge betrifft.

Nach wie vor lieferte er Filmkurzkritiken und -drehberichte, besprach die Auffüh­rungen der Vorstadttheater und Variétes und schrieb – ganz im Stile neusachlicher Repor­tage-Tradition – kleine Lokalgeschichten über die Sensationen des Gewöhnlichen. So wie er vor 33 von einem verruchten Rummel am Kleistpark[9] oder über die Weinkeller unter der Friedrichstraße[10] berichtet hatte, so stellt er jetzt die ‚Götterwerkstatt‘ in der Gips­formerei der Staatlichen Museen vor,[11] schwärmt von Luxusautomobilen bei einem Charlottenburger Edelgebrauchtwagenhändler[12] und beschreibt, nicht ohne genießerische Anteilnahme, die metropolitane Frühstückskultur in den Berliner Caféhäusern[13] – die auch nach 33 nicht vor 11 Uhr geöffnet hatten.

Was seine Literaturkritiken im Börsen Courier betrifft, so sind sie den denkbar gegen­sätzlichsten Autoren und Büchern gewidmet: Koeppen schreibt über den ersten Band von Thomas Manns Joseph-Romanen ebenso wie über Moeller van den Brucks Drittes Reich, über Musils Mann ohne Eigenschaften wie über die Blut und Boden-Dramatik von Emil Gött, über Joseph Conrad und Marinetti wie über Kurt Heuser und Manfred Hausmann. Für den Germanisten Karl Prümm ist diese scheinbar wilde Mischung in der Buchauswahl – von rechts und links, von ästhetisch hoch ambitioniert und trivial – Ausdruck der weltanschaulich ambivalenten Haltung des Rezensenten. Ebenso gut ließe sich auch mit der Berichtspflicht des Feuilletons argumentieren: In der Buchauswahl spiegelt sich ein immer stärker sich polarisierendes literarisches Feld am Anfang der Diktatur, in dem die ästhetische Moderne noch nicht restlos verdrängt ist und die NS-Autoren sich noch nicht zur Gänze durchgesetzt hatten.

Welches sind nun aber die umstrittenen Texte aus der Börsen Courier-Zeit, die Koep­pen später zur Last gelegt wurden? Zunächst sein Bericht von einer Paris-Reise, Paris in diesem Frühjahr[14], der am 4.6.1933 erschien und in dem sich Koeppen u.a. in fragwürdiger Weise zum Thema der deutschen Emigration äußert. Wer aber nur diese anstößigen Pas­sagen zitiert – so wie Prümm und andere – verfehlt die allgemeine Tendenz dieser Repor­tage; sowohl Koeppens ganz private Intentionen wie auch der publizistische Kontext sind von Interesse.

Denn jenseits aller politischen Zuspitzung nimmt sich dieser Text zunächst wie eine reichlich konventionelle (und zudem spannungslose) Reisebeschreibung aus, bei der uns all die sattsam bekannten, häufig genug literarisch vermittelten Paris-Klischees wiederbe­gegnen: die Bouquinisten am Seine-Ufer, Liebende in der Metro, Villons Katzen und der Brunnen Balzacs am Place St. Michel. Nur mühsam gelingt es dem impressionistisch ge­stimmten Betrachter Koeppen, in Paris „die Zeichen unseres politischen Frühjahrs“ auf­zufinden, die zu suchen er vorgibt. Denn der Anlass dieser Reise war offenbar, sich einen Eindruck vom aktuellen Stand des deutsch-französischen Verhältnisses nach Hitlers Machtergreifung zu verschaffen. So berichtet Koeppen von Büchern „über die Ereignisse in Deutschland“, die eifrig nachgefragt würden, von erfolgreichen deutschen Filmen in den Pariser Kinos und glaubt bei seinem Streifzug durch das kulturelle Leben „das wert­volle deutsche Werk“ grundsätzlich anerkannt. Insgesamt zeigt er sich bemüht, ein trotz der politischen Umwälzungen entspanntes Bild der deutsch-französischen Beziehungen zu entwerfen.

Eigentlich setzt eine solche Perspektive, die allerjüngste Entwicklungen im Blick ha­ben will, einen Paris-erfahrenen Beobachter voraus. Und in der Tat geriert sich Koeppen, als sei die Stadt ihm eine alte Bekannte, die er erst vor Jahresfrist das letzte Mal besucht habe. In Wahrheit war es, wie man heute weiß, Koeppens erste Paris-Reise – ein Traum, seit den Leseabenteuern seiner Jugendzeit. Erst der Spesen-Scheck des Berliner Börsen Courier half, ihn sich zu erfüllen. Der nur schwer zu beruhigende Enthusiasmus des er­sten Blickes ist dem Text anzumerken und macht dessen Schwäche aus. Angekommen an seinem Sehnsuchtsort, war Koeppen augenblicklich bewusst, wie er später häufig bekann­te: Er wollte in Paris Kulturkorrespondent werden, eine Art Friedrich Sieburg des Berliner Börsen Courier. Man mag sich vorstellen, wie es gewesen sein musste, in dieser euphori­schen Stimmung in den Pariser Cafés auf jene jüdischen Kollegen zu treffen, die gerade vor Hitler aus Deutschland geflohen waren. Dies ist der persönliche Hintergrund von Koeppens Paris-Reportage und seinen Auslassungen zum Thema Emigration.

Der publizistische Anlass wiederum für den Börsen Courier, aus Paris über die deutsch-französische Stimmungslage zu berichten, mochte ein Artikel gewesen sein, den jener eben erwähnte Friedrich Sieburg wenige Wochen zuvor in der vielgelesenen Frank­furter Zeitung veröffentlicht hatte.[15] Darin berichtet der Korrespondent verbittert von anti-deutschen Ressentiments in Frankreich nach Hitlers Machtergreifung und zeichnet ein düsteres Bild vom einsamen, unverstandenen Auslandsdeutschen. Der deutsche Patriot in Frankreich, der (so wie er) nicht gewillt sei, den politischen Umschwung in seiner Heimat als „einen Sieg niedriger Mächte oder einen Akt kollektiven Wahnsinns“ zu be­zeichnen, stehe in Paris mit dem Rücken zur Wand: Seit den Märzwahlen würden „täglich fast zehntausend Fragen“ an ihn gestellt, schreibt Sieburg, „sie richten sich wie Gewehr­läufe gegen meine Brust.“ Von der Linkspresse sei er sogar, weil er das neue Deutschland in Schutz nahm, als „Propaganda-Agent Hitlers“ tituliert worden. „Daß ein Deutscher das Bedürfnis haben könnte, die Wucht der Anklagen, die auf sein Land niederrasseln, aufzu­halten, […] das will gewissen Franzosen nicht in den Kopf.“ Der Text gipfelt in der pa­thetischen Forderung an alle Auslandsdeutschen, daß man zum Vaterland ohne Reserve „ja sagen muß, wenn man weiterleben will.“ „Deutschland ist heute einsamer denn je, das ist wahr.“

Liest man nun Koeppens ungleich gemäßigteren Bericht von der öffentlichen Mei­nung in Frankreich über die deutschen Verhältnisse, dann drängt sich der Eindruck auf, der Börsen Courier habe dem kulturkämpferischen Furor Sieburgs ganz bewusst etwas ent­gegensetzen wollen. Koeppen schreibt, die Mehrzahl der französischen Bücher über Deutschland sei „um eine sachliche Deutung der deutschen Dinge“ bemüht, und auch eine Kulturinstitution „mit antideutscher Tendenz“ habe er in Paris nicht gefunden. In diesen Zusammenhang nun – dem impliziten Einspruch gegen Sieburgs patriotische Stellungsge­fechte – streut Koeppen Bemerkungen über die deutsche Emigration ein. Sie wird kleinge­redet, und zwar nicht weil Koeppen sie leugnen wollte, sondern damit sie nicht mit dem von Sieburg behaupteten antideutschen Ressentiment in Verbindung gebracht wer­den konnte. Denn unausgesprochen waren Sieburgs Vorwürfe exakt auf jene Nestbe­schmutzer unter den Auslandsdeutschen gemünzt; in der Polemik der französischen Lin­ken erkannte er die Sprache der deutschen Hitler-Opposition wieder: „Es sind dieselben Leute, die bei sich zu Hause vor dem Gedanken des sozialen Aufstiegs auf dem Bauche liegen und Adolf Hitler dadurch zu verspotten versuchen, daß sie ihn einen früheren An­streicher nennen.“ – Soweit Sieburg.

Koeppen nun spricht das heikle Thema der Emigration ungleich direkter an, und das mit gespielter Ahnungslosigkeit: „Jedenfalls sind die Gerüchte über eine deutsche Emigra­tion in Paris genau so übertrieben wie die Gerüchte über Deutschland unter diesen Emi­granten. Eine wirkliche deutsche Emigration im Sinne der russischen z.B. gibt es in Paris überhaupt nicht. Die Deutschen, die sich zur Zeit dort aufhalten, haben fast alle die Ab­sicht, in ihre Heimat zurückzukehren. Ihre Gespräche handeln nicht vom Aufbau ihrer Existenz in Frankreich, sondern von der aus irgendwelchen Gründen besonderen Situa­tion für sie in Deutschland und der Möglichkeit der Rückkehr, der in den meisten Fällen nichts als eine Verwirrung entgegensteht […]. Die Mehrzahl dieser sogenannten Emigran­ten lebt sparsam und still auf dem Montparnasse.“

Das klingt in der Tat nach dem kalkulierten Opportunismus eines 27jährigen, der von Hitler-Deutschland aus in Paris Kulturkorrespondent werden will. Zu dieser Zeit lebten in Paris Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Gustav Regler, Johannes R. Becher, Joseph Roth, Alfred Kantorowicz, Leopold Schwarzschild, Willi Münzenberg und viele andere. Clai­re Goll schrieb: „Nach 1933 wurde Paris ein Vorort von Berlin.“[16] Koeppen selber hatte Günther Anders und Hans Sahl getroffen und wird über ihre Lebensumstände informiert gewesen sein. Man ist geneigt, die politische Verwirrung, die Koeppen den Emigranten zuschreibt, ihm selbst zu unterstellen. Denn natürlich waren die Emigranten auf Deutschland fixiert und beständig mit Rückkehrhoffnungen beschäftigt – Hans Sahl nannte das Pariser Exil bekanntermaßen einen „Wartesaal Dritter Klasse“ –, doch im Be­wusstsein ihrer Vertreibung.

Wenn Koeppen hier die Emigranten scheinbar gelassen zur Rückkehr auffordert, dann will er damit gleich zweierlei demonstrieren: dass Sieburgs Hysterie über antideut­sche Tendenzen in Frankreich ebenso übertrieben war wie die Auffassung der Emigran­ten über die Zustände im nationalsozialistischen Deutschland. Damit glaubte Koeppen, sich seiner Zeitung gegenüber als abgeklärter Diplomat zu profilieren, dem man getrost die weitere Berichterstattung aus Frankreich anvertrauen konnte.

Auf eine mit politischer Naivität kaum zu entschuldigende Weise entpolitisiert er da­bei das Thema der deutschen Emigration, auch wenn dies die einzige Art und Weise ge­wesen sein dürfte, wie in einer reichsdeutschen Zeitung des Jahres 1933 davon die Rede sein konnte. Und dennoch: Koeppen schreibt sich erst jenes entpolitisierte Wunsch-Paris zurecht, das ihm so anziehend vorgekommen sein muss. Am Ende seiner Reportage heißt es: „Dem flüchtigen Blick scheint es, als ob die Weltpolitik dieses Frühjahrs Paris umgan­gen hätte.“ Deshalb will er hin, und damit dies so bleibt, möchte er die politisierenden Emigranten am liebsten nach Deutschland zurückschicken.

Bleibt noch das Ende dieser Geschichte: Koeppens Plan scheiterte; der Börsen Courier bestellte ihn mitnichten als Kulturkorrespondent nach Paris. Statt dessen erhielt er seines Artikels wegen einen Rüffel in der Redaktion. Der von den Nazis eingesetzte kommissa­rische Chefredakteur rief ihn zu sich und schimpfte: „Wollen Sie die Juden etwa zurück­führen?“[17]

Auch andere umstrittene Koeppen-Artikel aus der Börsen Courier-Zeit verdie­nen, in ihrem zeitgenössischen publizistischen Kontext situiert zu werden – mehr als dies bisher geschehen ist. So entpuppen sich zwei Texte, aus denen Karl Prümm mit Recht bestimmte Sympathien Koeppens für den Jugendlichkeitskult des NS herausliest, als klei­ne Seitenstücke zur Expressionismusdebatte des Jahres 1933.Es handelt sich dabei um den Aufsatz Die Jugend und die schönen Künste[18],den Koeppen im Juli-Heft der Zeitschrift Melos plazierte, und um das Börsen Courier-Feuilleton Von Myrons Kuh und des Gelehrten Affen[19] vom 28.11.1933.Im ersten Fall berichtet Koeppen von einer Kundgebung des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes, die unter der Parole „Jugend kämpft für deutsche Kunst“ im Audimax der Berliner Universität stattgefunden hatte, und lobt die leidenschaftliche Parteinahme der Diskutanten für Künstler wie Barlach, Kolbe, Schmidt-Rottluff und Emil Nolde – freilich im Namen einer deutsch-nationalen Kunst. Für Karl Prümm steht fest, dass der Rezensent sich damit „wie viele damals – zum Spre­cher einer Jugend [aufschwingt], die einen revolutionären, mitreißenden Konservatismus propagiert.“[20] Wenn man aber berücksichtigt, dass nur wenige Tage zuvor Alfred Rosen­berg im Völkischen Beobachter Noldes Kunst als „negroid“ und Barlach-Figuren als „halbidiotisch dreinschauende Mixovariationen undefinierbarer Menschensorten“[21] be­zeichnet hatte, dann erhält Koeppens Plädoyer für die umstrittenen und bereits als kul­turbolschewistisch verfemten Künstler ein anderes Gewicht. Es findet sich darin die Hoffnung ausgedrückt (die man im Sommer 1933 noch gehegt haben mochte), „daß der politische Kampf der Jugend jetzt auch zu einem Kampf für die Freiheit der Kunst wird.“ So der Schlusssatz von Koeppens Aufsatz. Dies ist der Kern von Koeppens Affinität zum Nationalsozialismus im Jahr 1933:Er glaubte, dass mit der nationalen Revolution auch ei­ne artistische Modernisierungsbewegung in Gang gebracht werden könnte, und muss kurzzeitig auf eine deutsche Avantgarde im Stile des italienischen futurismo gehofft ha­ben: „Das Beispiel Italien hat hier die Richtung gewiesen“, schreibt er in Die Jugend und die schönen Künste:“Dort waren und sind die nationale Bewegung des Faschismus und die junge künstlerische des Futurismus immer gemeinsam marschiert, und nur bei uns glaub­ten bis heute einige Reaktionäre ältester Schule, daß eine Jugend nationalen Charakters sich in übertriebenem Konservatismus gegen alles, was modern ist, in den Künsten zu stellen habe.“ Beim Kampf gegen diese ästhetischen Reaktionäre, die „Banausen im Rau­schebart“, wie er sich ausdrückte, schreckte er auch vor dem Schulterschluss mit dem NS-Studentenbund nicht zurück.

Von hier aus ist der Weg nicht weit zu Gottfried Benns kunstpolitischen Positionen des Jahres 1933. Und in der Tat erweist sich Koeppens Börsen Courier-Text Von Myrons Kuh … als Parteinahme für Benn und sein soeben in der Deutschen Zukunft erschienenes Bekenntnis zum Expressionismus[22] – jene leidenschaftliche Verteidigung der expressionisti­schen Dichtergeneration gegen eine Schmähschrift, die der prominente Balladendichter Börries von Münchhausen, ein Vertreter jener völkisch-nationalen Literaten, die mit dem Dritten Reich ihre Zeit für gekommen hielten und um kulturelle Hegemonie zu kämpfen begannen, fast gleichzeitig in 34 Tageszeitungen veröffentlicht hatte.[23] Er war wie Benn Mitglied der Berliner Dichter-Akademie. Die Argumente in diesem Ex­pressionismusstreit sind bekannt und müssen hier nicht eigens wiedergegeben werden. Doch bemerkenswert ist, dass Koeppen in seinem Plädoyer für den Expressionismus sogar noch über Benn hinausgeht. Dieser wollte zwar die Schmähungen Münchhausens nicht gelten lassen, hielt aber gleichwohl den Expressionismus als Kunstform für überlebt – „die letzte Kunst Europas, ihr letzter Strahl, während schon ringsumher die lange, großartige, zerfurchte Epoche starb.“[24] Diesem Abgesang folgt die verblasene Apologie eines neuen Geschlechtes, organisch gewachsen aus der Rassepolitik der nationalsozialistischen Bewe­gung und belebt mit den Mitteln des Wortes: „Propaganda berührt die Keimzellen, das Wort streift die Geschlechtsdrüsen […]: was politisch geprägt wird, wird organisch er­zeugt.“[25]

Wer allerdings Koeppen seines zustimmenden Artikels im Börsen Courier wegen in geistiger Verwandtschaft zu solchen Vorstellungen sieht, missversteht dessen Grundüber­zeugungen. Weit davon entfernt, sich wie der Dichter Benn als Besamer einer neuen Men­schenrasse zu imaginieren, gründet sich Koeppens Beifall für Benn nur auf die Ehrenret­tung der expressionistischen Autoren – einer Literaturbewegung, der er sich schon als ju­gendlicher Leser fernab von Berlin in der vorpommerschen Provinz sehr eng verbunden gefühlt habe, wie er später betonte. Was er im Expressionismus vor allem ausgedrückt fand, war die Absage an jede Form von kleinbürgerlicher Nachahmungsästhetik, der nur „der halb­gebildete Spießer der Städte“[26] nachhänge. In der Entrüstung solcher Autoren wie Münchhausen erkannte er die Neuauflage des Trivial-Einwandes: „es gibt doch keine blauen Pferde!“[27]

Bezeichnend für Koeppens Affinität zum Expressionismus, die sicher maßgeblicher war als die Sympathie für Benn und dessen NS-Kitsch, ist sein leise geäußerter Vorbehalt, ob der Expressionismus als Kunstform tatsächlich bereits so abgelebt sei wie von Benn behauptet: „Er [Benn; J.D.] nannte ihn den letzten europäischen Stil, der nun vergangen ist. Ohne hier weiter untersuchen zu wollen, ob der Expressionismus tatsächlich schon so vergangen ist, oder ob er noch weiter wirkt in den Arbeiten Späterer, ist die Richtigkeit der Bemerkung anzuerkennen, daß im Expressionismus die Kunst (und besonders auch die deutsche) ihren vorläufig letzten und sichtbarsten Aufstieg genommen hat“.[28]

Soweit zu Koeppens ästhetischen Ansichten des Jahres 1933 –einer „Phase des illu­sionären Einverständnisses mit der Macht“[29], wie Karl Prümm überspitzt formu­liert. Die Beispiele aus seinen publizistischen Arbeiten verdeutlichen lediglich, dass er sich im Umkreis von Debatten bewegte, die im Anfangsjahr der Diktatur, als der Richtungs­streit der Partei noch nicht entschieden war, auch innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung geführt wurden und bei denen es um die Maximen einer künftigen NS-Kultur­politik ging. In diesen Auseinandersetzungen mit den völkisch-nationalen Traditionalisten hat Koeppen stets im Sinne der ästhetischen Moderne optiert – illusionär allenfalls im Hinblick darauf, wieviel Modernismus dieser nationalen Erhebung wirklich zuzumuten war. Dies muss hier ausdrücklich betont werden, auch und gerade weil Koeppens zweiter Roman Die Mauer schwankt von 1934in den Verdacht geriet, sich der reaktionären Hei­mat- und Schollen-Literatur angenähert zu haben.

Am 31.12.1933 musste der Berliner Börsen Courier sein Erscheinen einstellen; er wurde mit der (politisch verlässlicheren) Berliner Börsen Zeitung zwangsfusioniert. Für Koeppen bedeutete dies den Abschied vom Journalismus. Obwohl er ein gutdotiertes Angebot des großen Ullstein-Boulevardblattes B.Z. am Mittag erhalten hatte, entschied er sich für den ungleich ungesicherteren Status eines freien Autors. Fortan wollte er nurmehr Romane schreiben – eine langgehegter Wunsch; immerhin hatte der berühmte Cassirer-Verlag, aufmerksam geworden durch literarisch ambitionierte Feuilletons von Koeppen im Berli­ner Börsen Courier, einen Erstling bei ihm in Auftrag gegeben.

Über die Motive des erstrebten ‚Rollenwechsels‘ zum freien Autor gab der Noch­-Journalist implizit bereits in einem Feuilleton Auskunft, das am 19.9.1933 im Börsen Courier erschien: Vom Beruf des Schriftstellers[30]. Darin ist von den Schwierigkeiten eines „werdenden Schriftstellers in dieser Zeit“ die Rede, und es liest sich – retrospektiv be­trachtet – wie ein Selbstverständigungstext Koeppens. „Das Artikelschreiben, der Journa­lismus“, heißt es da, sei meist der Ausweg, „der dem Schriftsteller die Mittel gibt, zu leben […]. Aber es ist die Gefahr der Handfertigkeit, der Glätte, der Fixigkeit, des Abgeschlif­fenwerdens, des Vielschreibenmüssens, der Abhängigkeit vom Tag mit seinen Ablenkun­gen, die den Schriftsteller im Journalismus bedroht […]. Der Schriftsteller kann vom Journalismus verschluckt werden.“[31] Nicht zuletzt, um dieser Gefahr zu begegnen, zog er es vor, sich mit dem Ende des Börsen Couriers aus dem journalistischen Tagesgeschäft zurückzuziehen. Seinem Entschluss vorausgreifend, beschließt er seinen Artikel mit einer überaus skeptischen Prognose dessen, was ihn erwartet. Sein (Selbst-)Bild des designierten Autors schließt eine Verhaltenslehre mit ein, die von melancholischem Heroismus ge­kennzeichnet ist:

Das tägliche Brot zu erwerben wird immer schwieriger. Ein Leben der Boheme ist nicht mehr möglich. Der junge Schriftsteller (vorausgesetzt, er ist einer!) steht in einer harten und kämpfenden Welt, die er hart und kämpfend erlebt. Was soll er tun, um nicht unterzugehen und um das aufschreiben zu können, was er fühlt? Die Frage ist nicht zu lö­sen. Sie ist so wenig zu lösen, daß man sie im Anblick unseres Jahrhunderts nur so be­antworten kann: Er soll ein Soldat sein![32]

Das Soldatische manifestierte sich zunächst nur in der Zwangskorporierung im „Reichsverband Deutscher Schriftsteller“, bei dem Koeppen sich im Dezember 1933 um Mitgliedschaft bewarb. Er beanspruchte, in die Fachschaft „Erzähler“ aufgenommen zu werden, und musste am Ende des Antragsformulars auch eine Ergebenheitsadresse an die NS-Machthaber unterschreiben: „Ich […] werde mich jederzeit für das deutsche Schrifttum im Sinne der nationalen Regierung einsetzen.“[33] – Schlechte Zeiten für ein Debüt als frei­er Schriftsteller.

III

Unzufrieden geworden mit seinen Lebensumständen im Dritten Reich – er nannte sie „unbehaglich“[34] – nahm Koeppen Ende 1934 eine Gelegenheit wahr, Berlin zu verlassen und jüdische Freunde in ihr holländisches Exil zu begleiten. Er mochte sich Luftverände­rung und Muße zum Schreiben versprochen haben, zudem unterstützte ihn die Familie Michaelis auch materiell; in ihrem Haus im Grunewald hatte er seinen Erstling Eine un­glückliche Liebe geschrieben, der gerade erschienen war. Doch was zunächst als kurzes Intermezzo gedacht war, wuchs sich aus zum Aufenthalt von unbestimmter Dauer. Ob es daran lag, dass die Auslandsgestapo auf ihn aufmerksam geworden war, wie er später be­richtete, dass er für Erika Manns Exil-Kabarett „Pfeffermühle“ getextet hatte oder dass ein deutscher regimetreuer Rezensent seines ersten Romanes ihm polemisch den Arbeits­dienst anempfahl, oder ob vielleicht war er auch die finanzielle Abhängigkeit von seinen jüdischen Gönnern ein Grund war, warum er nicht ohne weiteres nach Deutschland zurückkehren konnte, lässt sich nachträglich nur schwer rekonstruieren. Aus den Briefen jedenfalls, die er aus Hol­land an seinen früheren Börsen-Courier-KollegenIhering nach Berlin schrieb, geht hervor, dass er sich schon sehr bald wie ein wirklicher Exilant gefühlt haben muss. Häufig sind sie gekennzeichnet durch Melancholie, tiefe Niedergeschlagenheit, ja Depression. Vereinsa­mung in der sprachfremden Umgebung, Spannungen mit der Familie Michaelis taten ein Übriges. „Und nur die Arbeit kann mich retten, die Arbeit, die vielen schlechten, schwar­zen, erlahmenden Stimmungen unterworfen ist“[35], ließ er Ihering wissen. In diesem Klima ist Koeppens zweiter Roman im Sommer 1935 in Holland entstanden; er erschien unter dem Titel Die Mauer schwankt wiederum bei Cassirer in Berlin. Wenn man so will, ist es ein Exil-Roman, geschrieben für den reichsdeutschen Markt. Dieser seltsame Status des Textes ist nicht ohne Belang für die Interpretation und erklärt seinen Kompromisscha­rakter, vielleicht auch sein Misslingen, in jedem Fall aber das Unbehagen, das Koeppen ihm gegenüber empfand. Nicht nur litt er unter der Isolation in der Fremde, sondern musste auch noch den Anforderungen gerecht werden, denen die Literatur im nationalso­zialistischen Deutschland unterworfen war.

Auch die inhaltlichen Vorgaben seines Verlagslektors entsprachen keineswegs dem, was er schreiben wollte. Denn sein Freund und Entdecker Max Tau wünschte einen deut­schen Kleinstadtroman, ein Buch über Koeppens Kindheit in Ostpreußen. Tau, selber ein Oberschlesier, hoffte, Koeppen auf diese Weise in den Kreis seiner „Dichter des deutschen Ostens“ einzubinden, die er im Cassirer-Verlag versammelt hatte. Dazu gehörten u.a. Au­gust Scholtis, Josef Wiessalla, Max René Hesse, Günther Birkenfeld und Hans-Georg Brenner. Ein solches, an Heimatliteratur orientiertes Verlagsprofil deckte sich nicht nur mit Taus persönlichen Vorlieben, sondern sollte ebenso den Versuch darstellen, einem jüdischen Verlag gegenüber der Reichsschrifttumskammer ein wenig Spielraum zu erhal­ten.

Worum geht es in diesem Auftragsroman? Koeppen erzählt einen stark autobiogra­phisch gefärbten Stoff, dessen Mittelpunktsfigur, der preußische Baumeister Johannes von Süde, der von seiner Behörde kurz vor dem Ersten Weltkrieg in die ostpreußische Provinz geschickt wird, deutlich die Züge jenes Onkels trägt, bei dem Koeppen seine Kindheit verbracht hat. Die Mutter, von Koeppens leiblichem Vater verlassen, war ihrem Bruder ins masurische Ortelsburg gefolgt. Diese Personenkonstellation findet sich auch im Roman wieder, und – was oft unbeachtet geblieben ist – in dem Knaben Gert verbirgt sich ein Selbstportrait des Autors als Kind. Hier soll beileibe keinem Biographismus das Wort geredet werden, aber für die Frage, welche Haltung Koeppen gegenüber seiner Mittelpunktsfigur einnimmt, dessen ideologische Überzeugungen häufig genug mit denen des Autors gleichgesetzt wurden, ist dieser familiäre Hintergrund von Belang. Das Ver­hältnis zu seinem Ziehvater muss, wie man aus späteren autobiographischen Texten weiß, äußerst spannungsreich gewesen sein und hat Koeppen zeitlebens beschäftigt;[36] insofern kann Die Mauer schwankt auch als Literarisierung dieses Beziehungsproblems verstanden werden.[37]

Die Romanhandlung zerfällt in zwei Teile: Der erste spielt um 1913 und lässt den jun­gen Baumeister, kurz bevor er seinen Beamtendienst beginnt, die lang ersehnte Italien-Reise antreten; der Süden, Venedig, die Bauten Palladios bewirken kulturelle Lockerung: Er, der künstlerisch Veranlagte, gleichwohl ganz im Sinne preußischer Pflichterfüllung Erzogene, fühlt sich „frei und froh“ wie seit langem nicht, „in einer Luft, die ihn seltsam beschwingte“[38], bis ihn eine familiäre Depesche zur Weiterreise in einen (nicht näher be­zeichneten) Balkanstaat nötigt. Dort steht ihm die aufregendste Zeit seines Lebens bevor; er wird in revolutionäre Aufstände gegen ein Polizeiregime hineingezogen und erlebt die erotische Offenbarung mit einer Freiheitskämpferin, die schließlich am melodramatischen Höhepunkt ihrer Liebesbegegnung in seinen Armen erschossen wird. Er wird verhaftet, begehrt auf, beschuldigt die Behörden, muss schließlich ausreisen.

Der zweite Teil, der die Zeit vom Kriegsausbruch bis zur Novemberrevolution umfasst, spielt in der ostpreußischen Provinz und schildert den Baumeister, der ins bürgerli­che Beamtenleben zurückfinden muss. Aber die rauschhafte Episode auf dem Balkan, die Ahnung von Aktion und Emphase, läßt ihn nie mehr los und legt sich wie ein Schatten auf sein von Gleichmaß bestimmtes Leben. Hin-und-hergerissen zwischen Verpflichtung und Leidenschaftlichkeit entschließt er sich, fortan leidenschaftlich seine Pflicht zu tun. Der Rest des Romans schildert die Strenge des einfachen ostpreußischen Lebens und die Nöte des Baumeisters mit seinem Pflichtbegriff. Er, der betraut ist, die im Krieg zerstörte Kleinstadt wiederaufzubauen,[39] arbeitet wie ein Besessener, doch verschließt er sich seiner Umwelt, „gewinnt […] immer deutlicher die Züge einer soldatischen Existenz“[40], ahnt „die Zusammenbrüche des Reiches“ und erkennt das Scheitern seines heroischen Pflicht­ethos. Eine alte, sinnstiftende Ordnung ist zerbrochen, die neue zeichnet sich noch nicht ab. Am Ende, als er erlebt, wie sein Neffe, der Knabe Gert, bei einer Arbeiterdemonstra­tion verletzt wird, wird ihm sein Versäumnis gegenüber der Jugend bewusst: „War dies die Pflicht, die versäumte Pflicht gewesen? […] Er dachte an die Zukunft der Knaben. Die Welt war weit. Ihnen mußte man sie bewahren.“[41]

Die ideologischen Vorbehalte gegenüber einer solchen Mittelpunktsfigur liegen auf der Hand. Prümm sah Die Mauer schwankt als symbolisch aufgeladenen Zeitroman, der bewusst an Theoreme der konservativen Revolution anknüpfte und den Zusammenbruch der bürgerlichen Welt des Wilhelminismus als visionäre Vorwegnahme, als „Geburtsweh­stunde“ einer neuen Epoche begrüßte. In dem Versöhnungsmodell des Endes – so Prümm – mussten die Leser des Jahres 1935 eine „Huldigungsadresse“ an die völkische Erhebung erkennen, „die hier als legitimer Erbe des alten Preußentums ausgewiesen“[42] sei. Koeppen hätte seinen Roman der „plumpen nationalistischen Phraseologie“ geöffnet: „‚Die Mauer schwankt‘ legt Zeugnis davon ab, daß auch ein Autor wie Koeppen Gefahr lief, der Faszination des Faschismus zu erliegen.“[43]

Eine solche Deutung muss sich den Vorwurf gefallen lassen, zwischen Figurenper­spektive und Autorintention nicht hinreichend zu unterscheiden. Die Frage ist, inwieweit sich Koeppen mit dem Baumeister Johannes von Süde identifiziert oder ob nicht vieles von dem, was Prümm dem Autor anlastet, auch als Kritik des Erzählers an den Überzeu­gungen seines Protagonisten verstanden werden muss.

Koeppen ist den Vorwürfen vor allem mit dem Hinweis begegnet, seine Darstellung des anonymen Terrorregimes auf einem „Fabelbalkan“ im ersten Teil des Romans sei die ge­tarnte (und dennoch jedem Leser erkenntliche) Beschreibung der Verhältnisse im faschi­stischen Deutschland gewesen. Diese Passagen deshalb als Widerstandsgeste, hineinge­schmuggelt in einen unscheinbaren Kleinstadtroman, zu deklarieren, erscheint mir den­noch abwegig.

Aufschlussreicher für die Frage nach dem Standort und der Parteinahme des Erzählers ist es zu kontrastieren, wie der Baumeister sich selbst sieht und wie er gesehen wird. Die anstößigen Passagen, die Prümm zitiert, spiegeln allein die Weltsicht der Figur; der Erzäh­ler hingegen verschweigt nicht, dass seine Umwelt den Baumeister bisweilen „als die bei­nahe schon gespenstische Verkörperung der Pflicht und der Strenge“[44] wahrnimmt. Sein körperlicher Verfall korrespondiert mit der inneren Erstarrung seiner Überzeugungen, an denen er dennoch bis zur Selbstaufgabe festzuhalten bemüht ist. Am deutlichsten wird diese Diskrepanz von Außen- und Selbstwahrnehmung in einer Passage, in der dem Bau­meister eine steinerne Vision der Pflicht vors innere Auge tritt, während es den Besuchern seines Amtes so vorkommt, als sei sein Gesicht „von dem Mörtelstaub, dem Muschelkalk, einem Hauch des Schimmels, der schon phosphoreszieren mochte, bestäubt.“ Dieser sel­ber fast schon zum staubigen Standbild Mutierte aber sieht „in der Weise einer Vision, die Pflicht über allem sich erheben. Marmorn formte sie sich in der regungslosen Luft des Bü­ros zu einem Standbild und war wie ein Grabengel aus dem Vorgarten des Steinmetzen beim neuen Friedhof. Erst nur starr und ehern das Haupt des toten Vaters tragend, wan­delte sich die Erscheinung dann, indem sie kopflos wurde und ihr Flügel wuchsen, zur schreitenden Göttin des Sieges, zur Statue der Victoria von Samothrake“.[45] So versteinert wie er selber ist seine Vision, eine Friedhofs- und Todesfigur, zunächst nur die (freilich leblose) Inkarnation seines Über-Ichs, die erst, indem sie kopflos wird und die Züge des Vaters ablegt, sich in eine Siegesallegorie verwandelt – der schale, halluzinogene Triumph einer verblendeten Wahrnehmung.

Zur Selbsterkenntnis gelangt der Baumeister dann wenige Seiten später, als ihm ein weiteres Standbild der Pflichterfüllung – diesmal ganz real – gegenübertritt; in der Person des sterbenden Postdirektors Schmidt erblickt er plötzlich sein alter ego, die Vergeblichkeit seiner eigenen Haltung. Dieser bricht zusammen, während der Telegraph gerade die Nachricht von der deutschen Kapitulation übermittelt: „und auch er, der Mann im Frack und im Schein einer blakenden Lampe, war ein Standbild der Pflicht – ein wenig nur ab­sonderlich verzerrt. Die Pflicht allein sie kann das volle, das ganze, das wirkliche und das Ganze umfassende Leben nicht sein“[46], kommt es dem Baumeister zu Bewusstsein. Erneut die Vision der Pflicht, seiner bisherigen und so verzweifelt verteidigten Bestimmung, al­lein diesmal nicht in Gestalt einer Siegesgöttin, sondern als sterbende Karikatur und im Bewusstsein der unwiderruflichen, gewissermaßen amtlich beglaubigten Niederlage.

Die Gegenüberstellung dieser beiden Visionserlebnisse mag kein besonders subtiles erzählerisches Mittel sein, doch sie verdeutlicht die Haltung des Autors gegenüber seinem Protagonisten. Der Baumeister wird als scheiternde Figur vorgeführt, dessen heroisches Pflicht- und Beamtenethos als unzeitgemäß und korrekturbedürftig erscheint. Damit sind die problematischen Implikationen der Versöhnung, in der der Roman ausklingt, zwar noch nicht ausgeräumt, aber es dürfte deutlich geworden sein, daß der Ideologieverdacht gegenüber der Mittelpunktsfigur nicht umstandlos auf Koeppen als Autor übertragen werden darf.

1938 emigrierte der Verleger Bruno Cassirer nach London; sein Verlag wurde liqui­diert. Ein Jahr später erschien dann Koeppens Roman ein zweites Mal: bei einem neuen Verlag und unter verändertem Titel. Koeppen hat die Umstände rückblickend immer so dargestellt, dass gegen seinen Willen der Universitas-Verlag der Neuauflage seines Romans eigenmächtig den Titel Die Pflicht vorangestellt habe: „Diese falsche Firmierung kehrte ins Gegenteil, was ich hatte andeuten und sagen wollen.“ – So Koeppen im Vorwort zur Neuauflage von Die Mauer schwankt 1983.[47]

Es gehörte zu den Überraschungen der lange unbekannten Korrespondenz Koeppens mit Herbert Ihering, dass sie der Debatte um den Titel von Koeppens zweitem Roman ei­ne neue Pointe hinzufügt. Dem Manuskript beigelegt, das er Ihering für Rezensions­zwecke vorab zur Verfügung stellte, sandte Koeppen dem Kritiker am 16.8.1935 folgende Zeilen: „Der Schluß wird aber bestimmt noch geändert, und ich hoffe, daß sie am Montag diese Seiten von mir bekommen können. Der Titel war ‚Die Pflicht und die Strenge‘, doch steht er, weil von T. [Max Tau; J.D.] nicht gut gefunden, nicht mehr auf der Titel­seite. Eine andere Benennung gibt es vorläufig nicht.“[48] Offenbar ist der Titel Die Mauer schwankt, der später von Koeppen so vehement verteidigt und für allein sachlich gerecht­fertigt bezeichnet wurde, nur der Beharrlichkeit seines früheren Lektors geschuldet, wäh­rend sein ursprünglicher Vorschlag nicht weit von dem Titel entfernt ist, den der Uni­versitas-Verlag der 1939er-Auflage verpasst hatte.

Koeppens wissentlich irreführende Darstellung ist eigentlich nur so zu erklären, dass er nachträglich dem Eindruck entgegentreten wollte, die Titelveränderung sei ein Verrat an seinem jüdischen Ursprungsverleger und als Konzession an den nationalsozialistischen Buchmarkt zu verstehen. In diesem Sinne ist der vermeintlich neue Titel auch missdeutet worden; Prümm z.B. nennt ihn „martialisch“[49]; unsere Auseinandersetzung mit dem Roman sollte hingegen gezeigt haben, dass der (alte) neue Titel beanspruchen kann, min­destens ebenso stimmig zu sein wie die später von Koeppen bevorzugte Variante.

Auch Koeppens Selbsteinschätzung seines Romans unmittelbar nach dessen Fertig­stellung ist bemerkenswert. Im Brief an Ihering heißt es weiter: „Ich selber halte, offen gestanden, von diesem Buch im ganzen nicht sehr viel. Wenn sie es einigermaßen finden sollten, würde es mich natürlich ungeheuer freuen. Und für eine Tageblatt-Förderung [Ihering war inzwischen Kritiker beim Berliner Tageblatt]würde ich ihnen sehr dankbar sein.“[50] Ihering notierte handschriftlich auf die Rückseite des Briefes – offenbar als ersten Kommentar zu dem Manuskript: „Baumeister von Süde – zuviel des Guten!“

IV

 Ende 1938 konnte Koeppen aus dem holländischen Exil nach Deutschland zurückkehren. Der Filmregisseur Paul Verhoeven hatte ihm nach vielen vergeblichen Anläufen eine erste Filmarbeit verschafft: die Erstellung eines Exposes für ein Filmlustspiel für die Tobis-Sa­scha in Wien. An Ihering schrieb Koeppen dazu am 7.1.1939: „Leider kann ich mit dem Thema nicht viel anfangen. Liegt mir gar nicht. Aber ich werde mir des liebenswürdigen Verhoeven wegen die größte Mühe geben, es doch noch gut zu machen. Und – um ‚rein zu kommen‘.“[51] Um diese Arbeit annehmen zu können, musste Koeppen zuvor seine Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer, die in den Jahren seiner Abwesenheit ge­ruht hatte, wieder erneuern. (Auch für Filmautoren erklärte sich die Reichsschrifttums­kammer, nicht etwa die Filmkammer, zuständig.) Dem „Fragebogen zur Bearbeitung des Aufnahmeantrages“ musste auch ein ausführlicher Lebenslauf beigefügt werden, der des­halb hier von Interesse ist, weil er die erste gewissermaßen autobiographische Verlautba­rung Koeppens darstellt – ausgerechnet in einem Dokument der Nazi-Bürokratie. Erstaunlich ist dabei, wie es ihm gelingt, seiner Zeit als vagabundierender Gelegenheitsjobber und Bohemeexistenz in den Weimarer Jahren, die ihn aus Sicht der Reichsschrifttums­kammer zu einer fragwürdigen und haltlosen Figur machen konnte, im Rückblick eine gewisse Stringenz zuzuschreiben. Er rechtfertigt diese Zeit kühn als Vorschule des Lebens für einen werdenden Schriftsteller. Über seine Zeit als Hilfsregisseur am Würzburger Theater schreibt er:

Doch war mir die Arbeit an einer Bühne, wie jede andere, immer nur eine erste Stufe, eine bloße Vorbereitung zu meinem wirklichen Lebensziel: ein Schriftsteller zu werden. Diesem Ziel sich zu nähern, war in den Jahren der Arbeitslosig­keit mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Die Mittel zum Leben waren kaum zu erringen. Es fehlte mir an jeder fördernden Beziehung, und die Redaktionen schickten mir meine Einsendungen, oft ungelesen, zurück […]. Ich übte die verschiedensten Tätig­keiten aus. Dies war für einen werdenden Schriftsteller im Grunde keine schlechte Lehre.[52]

Natürlich verschweigt er die Jahre des Exils und den Schreibort von Die Mauer schwankt, bestätigt allerdings ausdrücklich die autobiographische Dimension seines zwei­ten Romans: „In ihm habe ich Erinnerungen an die Kriegszeit in einer kleinen ostpreu­ßischen Stadt zu gestalten versucht.“ Am Schluss gibt er der Hoffnung Ausdruck, bei sei­nem neuen Verlag Universitas mit weiteren Büchern herauskommen zu können.

Zu seiner Rückmeldung in die reichsdeutsche Presselandschaft wurde ein literarischer Text, den Koeppen einige Monate später, am 26.5.1939, im Feuilleton der Frankfurter Zeitung veröffentlichte: Ein Fremdenheim. Phantasie[53]. Von diesem Text ist paradoxerweise oft die Rede gewesen, ohne das er be­kannt war. Koeppen kam in Interviews immer wieder auf seine „Gespenstergeschichte“[54] zu sprechen, weil sie den Zorn seiner Exil-Bekanntschaft Erika Mann herausgefordert hätte, die es als Verrat empfand, dass er in einem Feuilleton Nazi-Deutschlands veröffent­lichte. Die Koeppen-Forschung hat seither den Text deshalb nicht finden können, weil Koeppen ihn – ob wissentlich oder nicht – falsch datierte und somit seine Bibliographen auf eine falsche Fährte gesetzt hat: Er gab ihn als Exilarbeit aus, die er noch von Holland aus der Frankfurter Zeitung angeboten hätte. In Wahrheit war Koeppen bei Erscheinen des Textes längst wieder Mitglied der Reichsschrifttumskammer und verdiente sein erstes Geld als Autor beim deutschen Film. Insofern ist es wahrscheinlich, dass sich der Verrats­vorwurf Erika Manns weniger auf die „Gespenstergeschichte“ als solche bezogen hat, sondern vielmehr auf die Tatsache, dass Koeppen überhaupt nach Deutschland zurückge­kehrt war.

Bezeichnend ist, dass Koeppens erster Text nach der Rückkehr auch eine An­kunftsgeschichte erzählt. Dabei bedient er sich eines betont unwirkli­chen Sujets, einer Atmosphäre des Obskuranten und (Pseudo-)Mythologischen, um in verdeckter Form seine eigene Beklemmung und die Schuldgefühle zu thematisieren, die mit der Rückkehr nach Nazi-Deutschland und dem Eintritt in die privilegierte Welt des Film-Geschäftes verbunden waren. Insofern greift Ein Fremdenheim indirekt auch den Verratsvorwurf auf, der gegen ihn als abtrünnigen Exilanten erhoben worden war.

Zu Beginn nähert sich ein Ich-Erzähler, ein Angekommener auf der Suche nach einer Bleibe, einer Pension, die seine Freunde ihm empfohlen haben. Die Erwähnung der Freunde verweist darauf, dass er zwar neu in der Stadt, aber kein gänzlich Fremder sein kann, vielleicht einer, der vorübergehend abwesend war, ein Rückkehrer. Das Fremden­heim strahlt sofort eine unheimliche, beklemmende Atmosphäre aus: „Ich betrachtete die Klingel; ein Dämonengesicht, dem man in die Zähne greifen mußte […]. Ich stand und wartete. Nichts regte sich hinter dem breiten Haupttor aus schwerem massiven Holz. Doch eine Stimme rief mich von unten, wie aus einem Abgrund. Ich sollte in den Keller kommen.“ Die Ankunft in dem Haus, das ihm empfohlen wurde, entpuppt sich als be­drohliche Unternehmung – ein Griff ins Maul des Dämonen, der unfreiwillige Kellergang, der an eine Unterweltsreise erinnert. Und der Mythomane Koeppen verstärkt noch diese Katabasis-Assoziation. Denn die Stiege führt den Erzähler hinab in eine Suppenküche, in der ein schwer atmendes, dralles Mädchen „scharf riechende Knollen wie Sellerie oder Rote Beete in einem großen Kupferkessel brühte.“ Der Stoff ihres Kleides zeigt „ein Mu­ster aus Zwiebel und Mohrrübenkraut […]. Es bedurfte keiner Vorstellung, um zu wissen, daß es Gäa war. Und Gäa sagte: ‚Das Bett ist schon gemacht.“‚

Der Sinn dieser Hexenküchen-Mythologie liegt auf der Hand: Die Ankunft entwic­kelt sich als Verführungsgeschichte. Dem Erzähler scheint eine Vermählung mit dem Elementaren bevorzustehen; erwartet von der sinnlich-derben Muttergöttin, die ihm das Bett schon angerichtet hat, im Kessel die brodelnden Erdfrüchte, die auch ihr Brautkleid zieren, „die verschrumpelten, uralten, ach wie schmerzverzerrten Zwergengesichter der gequollenen Knollen […], von schäumenden Wellen getragen, denen die Blutfarbe vom Saft der Roten Beete kam.“ – Kurzum: ein schauriger Alptraum aus Mythos und deut­schem Volksmärchen.

Die Arbeit beim NS-Film zwang Koeppen in die Niederungen von Kolportage- und Trivialstoffen, von völkischem Kitsch und Schauerromantik. Gleichwohl stellte sie unbe­streitbar eine Verlockung dar: Sie bot finanzielle Sicherheit, in der ihr eigenen Hermetik von Studiogemeinschaften auch einen gewissen Schonraum, zudem in Kriegszeiten den ‚Unabkömmlichkeitsbescheid‘ – die Rettung vor dem Frontschicksal. Dennoch mag er sich beim real existierenden NS-Film bisweilen so vorgekommen sein wie in der Suppen­küche der Volksgemeinschaft. Im Fremdenheim sagt der Erzähler: „‚Ein Zimmer‘, sagte ich, ‚nur ein Zimmer möchte ich‘; und verwirrt, wie ich jetzt geworden war, schien mir das Bett, das schon gemacht war, zuviel und mehr als nur ein Zimmer zu sein.“ Die Angst des Erzählers vor Verführung im Fremdenheim könnte zugleich Koeppens Beklemmung zum Ausdruck bringen, als er, aus Holland zurückgekehrt, den verlockenden Abgründen der deutschen Filmindustrie ins Auge sah.

Der Gäa entkommt zwar der Ich-Erzähler, aber nur mit Hilfe eines weiteren, nicht minder anziehenden Mädchens. Ihr folgt er, eine Wendeltreppe hinaufeilend, durch lange Flure und Zimmerfluchten, „sie wie ein Motor, der mich zog.“ Sehr schnell stellt sich heraus, dass das Fremdenheim überbelegt ist. Jemand muss für ihn weichen, wenn er ein­ziehen soll, und dem Ich-Erzähler bereitet dies einiges Unbehagen. Das Zimmer, das ihm gezeigt wird, ist noch bewohnt, nichts deutet auf ein Pensionszimmer hin, so wohnlich ist es hergerichtet und seine Bewohner, drei Herren, sind anwesend. Dem Erzähler kommt sein ‚Einbruch‘ wie eine grobe Taktlosigkeit vor: „Ich verneigte mich und bat die Herren, meinen Eintritt in ihre Wohnung zu entschuldigen.“ Weil er aus Scham zögert, das Zim­mer zu nehmen, zieht er die Verachtung des Mädchens auf sich: „Nun müssen wir ins kleine Kämmerlein“, rief sie höhnisch. Während er nun in der Halle wartet, dass ihm die Kammer gezeigt wird, kommt eine Dame die Treppe hinunter gelaufen, „sie lief so schnell, daß man nicht wissen konnte, ob sie von oben her gestoßen worden war, oder ob die Last ihres Koffers sie so abwärts zog. Es war ein nicht zu großer Koffer aus schlecht imitiertem Leder, wie man ihn in den billigen Geschäften kaufen kann.“ Natürlich ent­puppt sich die Dame, eine blasse und mitleiderweckende Erscheinung, als diejenige, die für ihn ihr Zimmer zu räumen hat. Sie sieht ihn mit einem erwartenden Blick an, doch ihm fällt in seiner Beklemmung kein „einziges der Situation angemessenes Wort“ ein, und er muss mitansehen, wie sich das Haustor öffnet und „die Dame, fast durch den Luftzug schon, hinausgetrieben wurde.“ Als er in die für ihn freigemachte Kammer eintritt, findet er „das Feldbett […] noch warm und die Kissen wie von Tränen naß.“ Er stürzt zum Fen­ster, reißt es auf und sieht eben noch – das einzige wirklich phantastische, gespensterhafte Element der Erzählung – die Dame mit ihrem billigen Lederkofferimitat davonfliegen. „Sie blickte mich, ein kleines Vogelgesicht, mit ihrer letzten Menschlichkeit, einem grau­sigen, wehen Mitleid an, und dann gesellte sie sich zu den anderen Vögeln, die über dem Flußlauf davonflogen.“ Die Schlussmetamorphose der Hinausgejagten in einen Vogel, der Umschlag der Geschichte ins Phantastische, kommt einem wie die Wunschprojektion des Ich-Erzählers vor, der, von seinem Schuldbewusstsein entlastet, jetzt fast selber wie ein Alleingelassener, Zurückgebliebener erscheint, von dem man sich grausend und mitleidig abwendet.

Auch diese Exil- und Vertreibungsparabel, in der Ein Fremdenheim ausklingt, ist si­cher kein Stück subtiler Erzählkunst, aber sie fügt sich unserer Interpretation von der verdeckten Selbstthematisierung des Autors. Koeppen war sich bewusst, dass die große Nachfrage nach Filmautoren, die ihm die Rückkehr nach Deutschland erst ermöglichte, letztlich dem Exodus vieler jüdischer Filmschaffender geschuldet war, die vom NS ins Exil getrieben worden waren. Die Erzählung nun verdichtet dieses Bedingungsverhältnis, indem sie Opfer und Profiteur sich begegnen lässt; dem Angekommenen wird buchstäb­lich vor Augen geführt, wie man Platz für ihn schafft. Obwohl er bescheiden bleiben will, das wohnliche Zimmer ausschließt (und dafür noch verhöhnt wird von der Verführerin, die die Räumung verantwortet), als unbedeutender Ankömmling sich mit einer Kammer begnügen würde, legt er sich dennoch ins noch warme, eben erst verlassene, tränennasse Bett. Trotz seines Schuldgefühls profitiert er von der Vertreibung, ungewollt zwar, aber ebenso unfähig, das Geschehen abzuwenden, etwa dadurch, dass er das Fremdenheim wie­der verließe. Dafür ist die verführerische Kraft zu stark, der er willenlos zu folgen scheint: „wie ein Motor, der mich zog.“

Was aber heißt es, wenn Koeppen seinem Schuldgefühl nach der Rückkehr ein ins Mythisch-Pathetisch überformtes Bild der Verführung gegenüberstellt?

V

 Koeppen hatte in allen Interviews für sich in Anspruch genommen, dass keines der Drehbücher, an denen er in seiner Zeit beim NS-Film mitgeschrieben hat, je gedreht worden wäre. Und in der Tat ist sein Name in keiner der einschlägigen Filmographien verzeichnet. Ein Drehbuch-Fund im Schriftgutarchiv der Deutschen Kinemathek belegt jedoch, dass Koeppen sich, vornehm gesagt, falsch erinnerte. Die Geschichte des Films, der aus diesem Drehbuch hervorging, sei hier kurz erzählt:

Romeo und Julia auf dem Dorfe. Ein Film nach Motiven aus der Novelle von Gottfried Keller war ein Projekt, das die Tobis-Filmgesellschaft/Berlin ursprünglich für die Spielzeit 41/42 annonciert hatte. Regisseur dieser Literaturverfilmung sollte Paul Verhoeven sein – wiederum jener Verhoeven also, der Koeppen 1938 den Weg ins Filmgeschäft geebnet hatte –; für das Drehbuch wurde ein ganzes Team von Autoren verpflichtet: Harald Bratt, ein routinierter Filmautor des NS, der u.a. an dem antibritischen Propagandafilm Ohm Krüger mitgeschrieben hatte; Hans Kyser, ein Spezialist für Literaturverfilmungen, und eben Wolfgang Koeppen. Als Hauptdarstellerin war ursprünglich die als „Geierwally“ berühmt gewordene Heidemarie Hatheyer vorgesehen.

Der Film, der aus dieser Ausgangsplanung hervorgehen sollte, hat eine relativ kom­plizierte Vorgeschichte, die aber dennoch hier zur Sprache kommen soll, weil sie für die Produktionsumstände dieser Zeit nicht untypisch ist; zudem erklärt sie, warum Koeppen in den credits des Films nie auftauchte.

Die Vorbereitungen zu Romeo und Julia auf dem Dorfe waren 1941/42 eigentlich abgeschlossen – das Drehbuch lag vor, die Filmtheater hatten bereits das Ankündigungsmaterial erhalten; dann aber wurde die Produktion kurzfristig auf Eis gelegt, weil man den Film für wichtig genug befand, ihn als Farbfilm zu realisieren. Dieses Verfahren kam in Deutschland erst seit 1938sporadisch zur Anwendung und war immer noch recht teuer. Für die Tobis machte diese Änderung des Produktionsplans eine neue Kalkulation erforderlich – und am Ende war das ehrgeizige Projekt vermutlich zu teuer geworden. Als jedenfalls im August 1943die Dreharbeiten endlich beginnen konnten, hatten nicht nur der Regisseur und der Filmtitel gewechselt, sondern man war auch zum ursprünglichen s/w-Material zurückgekehrt.

Doch zurück zur Ausgangskonzeption von 41/42, an der Koeppen beteiligt war. In dem Ankündigungstext für die Kinobesitzer wird der Film folgendermaßen beschrieben:

Mit diesem Vorhaben wird die Tobis die Reihe künstlerisch hochwertiger Darstel­lungen aus dem Lebenskreis der Ostmark fortsetzen, die mit ‚Geierwally‘ und ‚Meineid­bauer‘ so erfolgreich begonnen wurde. Gottfried Kellers bekannte Novelle von der Ge­schichte einer jungen Liebe, die durch den Haß der Eltern nicht in Erfüllung gehen kann, ist der Vorwurf für diesen Film. Im Gegensatz zu Kellers Novelle findet er jedoch eine le­bensbejahende Lösung. Vor dem Hintergrund eines deutschen Alpendorfes spielt die starke dramatische Handlung, in der zwei junge Menschen mit der Kraft ihrer alles überwindenden Liebe in schwerem Kampf Haß und Unfrieden überwinden.[55]

Was der Ankündigungstext verschweigt: Neben dem Kellerschen Text gab es noch ei­ne zweite Vorlage, von der das Tobis-Projekt sich absetzen musste: den Schweizer Film Romeo und Julia auf dem Lande von 1939, eine sehr textgetreue (und zudem wirklich ge­lungene) Verfilmung der Novelle durch den Regisseur Valerien Schmiedely. Dieser Film war äußerst erfolgreich gewesen; und ein deutsches Remake zwei Jahre später mit dem Titel Romeo und Julia auf dem Dorfe konnte nur als ausdrückliche Konkurrenz dazu ver­standen werden. Vielleicht hatte man auch nur deshalb eine Farbfilmversion in Erwägung gezogen, um die Schweizer s/w-Verfilmung zu übertrumpfen. Später jedoch sollte die allzu deutliche Anspielung auf Schmiedelys Film im Titel getilgt werden: Jugendliebe hieß schließlich die abgedrehte Tobis-Fassung – sicher auch, weil die von Koeppen/ Bratt/Kyser vorgenommenen Änderungen an der Novelle ohnehin den Hinweis auf Gottfried Keller kaum mehr rechtfertigten.

Diese komplizierte Ausgangslage macht es erforderlich, vier Textebenen voneinander zu unterscheiden: 1) die Kellersche Vorlage, 2) die Schweizer Verfilmung Romeo und Julia auf dem Lande, 3) Koeppen/Bratt/Kysers Dreh­buch Romeo und Julia auf dem Dorfe von 41/42 und 4) den Film Jugendliebe, so wie er 1943 schließlich realisiert wurde. Für die Regie zeichnete statt Verhoeven Eduard von Borsody verantwortlich, der im übrigen in den credits auch als alleiniger Drehbuchautor geführt wird: kein Hinweis mehr auf Koeppen/Bratt/Kyser. Wenn man nun 3) und 4) miteinander vergleicht, so wird man feststellen, dass v.Borsody zwar einige Änderungen vorgenommen hat, aber die ‚Bearbeitungsschicht‘ des Drehbuches, an der Koeppen betei­ligt war, noch deutlich erkennbar ist. Deshalb kann mit Recht Koeppen als Mitautor des Films Jugendliebe bezeichnet werden.

Was nun unterscheidet Schmiedelys Schweizer Verfilmung des Kellerschen Stoffes von der Version der Tobis? Wie schon angedeutet, verfährt Schmiedely sehr vorlagenge­treu: Wie in der Novelle gehen am Ende des Films Vreni und Sali, die beiden Liebenden, die nicht zusammenkommen können, weil ihre Väter sich über einen Acker zerstritten haben, gemeinsam ins Wasser; nach einer symbolischen Trauung im Kreise der Landstrei­cher und einem wilden, bacchantischen Hochzeitszug durch die Nacht setzen die beiden sich ab, lieben sich – und wählen den Freitod.

Die deutsche Version der Tobis nun forderte, wie der Produktionsankündigung zu entnehmen war, eine „lebensbejahende Lösung“, d.h. der Geschichte dieser unglücklich Liebenden musste mit Gewalt ihr tragisches Ende ausgetrieben werden. Bei Koep­pen/Bratt/Kyser dürfen Vreni und Sali nicht gemeinsam sterben (zudem muss Sali Friedel heißen; Sali als Koseform von Salomon wird zu jüdisch geklungen haben), sie werden ge­rettet; zudem verurteilt die Dorfgemeinschaft ausdrücklich die Selbstmordabsicht der bei­den. Ihr Retter, ein (übrigens gleichaltriger) Bauer lässt sie wissen: „Ich habe auch manch­mal nicht gewußt, wie es weitergehen sollte. Aber ich habe mich dagegen gestemmt und dann ist es gegangen. Wenn ich damals ins Wasser gegangen wäre, hätte ich nichts besser gemacht.“[56] Ihr Überleben und künftiges Liebesglück soll sie demnach auch dazu anhal­ten, Nützliches im Sinne der Gemeinschaft zu leisten. Insofern ist die „lebensbejahende Lösung“, die den beiden ihr Recht auf ihren ganz persönlichen Fatalismus bestreitet, zu­gleich eine antiindividualistische Lösung.

Zudem wird der Ausgangskonflikt der Novelle in der Tobis-Drehbuchfassung deut­lich politisiert. Koeppen/Bratt/Kyser erreichen dies durch die Einführung einer zusätzli­chen Figur, die extrem negativ konnotiert ist: Der reiche Gastwirt Paust, der als Stören­fried von außen in die Dorfgemeinschaft eindringt, als Geldverleiher tätig wird, den Bau­ern das Land abkauft (obwohl er nichts davon versteht, wie die Bauern sich empören: „Die Erd‘ ist mehr als eine Ware“), ist es auch, der das Zerwürfnis der beiden Väter von Vreni und Friedel vorantreibt. Er kann sogar als Mitbewerber um Vreni auftreten, weil er ihren verschuldeten Vater gefügig gemacht hat. Paust ist sozusagen das Zerrbild des kapitalistischen Zersetzers im volkstümlichen Gewande: dumpf und jovial, geldgierig und triebbestimmt; sogar vor einer versuchten Vergewaltigung Vrenis schreckt er nicht zurück. Nur durch Erpressung sichert er sich ihr Eheversprechen, weil er im Verborge­nen beobachtet hat, wie Vrenis Vater beim Handgemenge mit Friedel ums Leben kommt. Vreni muss Paust heiraten, sonst würde er Friedel des Mordes bezichtigen. Dies ist der – denkt man an Keller – kaum mehr wiedererkennbare Ausgangskonflikt vor dem (vermeintlich) letzten Abend von Vreni und Friedel: Zwar kauft Friedel ebenfalls Tanz­schuhe vom letzten Geld, und auf dem Weg zu der fremden Kirchweih‘ werden sie auch in der Tobis-Fassung für ein richtiges Brautpaar gehalten; aber die anrüchige Landstrei­cherversammlung darf es nicht geben, ebensowenig den nächtlichen Hochzeitsumzug. Man könnte auch sagen, der Kellersche Stoff wird verbiedert. Statt dessen wird ihm noch eine zusätzliche Dramatisierung aufgebürdet: Denn wenn Vreni und Friedel beschließen, gemeinsam zu sterben, dann nicht nur, weil sie sich dies als einzig mögliche Erfüllung ih­res Vereinigungswunsches vorstellen können, sondern weil Friedel anderenfalls eine Mordanklage zu erwarten hätte.

Das Happy-End rettet nicht nur die Liebenden, sondern befreit auch die Dorfgemein­schaft von dem Kapitalisten; Paust, der die beiden verfolgen wollte, kommt bei einer halsbrecherischen Kutschfahrt ums Leben. Einem Schicksalsschlag also bleibt es vorbehal­ten, die Verhältnisse zu verändern; selbsttätig sind die Volksgenossen dazu – vorerst – nicht in der Lage. Die Zeit ist noch nicht reif dafür. Das scheinen die zwei Bauern zu wis­sen, die schon anfangs bedauernd feststellen: „mir zwei werdens nicht ändern, aber es kommt vielleicht auch mal eine andere Zeit.“ Die Kinobesucher 1943 wussten ohne Zwei­fel, welche Zeit damit gemeint war.

Soweit zu einem Film, an dessen Drehbuch Koeppen beteiligt war (wenngleich un­klar bleibt, zu welchen Anteilen). Zur Bewertung dieser Mitautorschaft lässt sich wenig­stens soviel sagen: dass, selbst wenn es sich bei Jugendliebe um eine harmlosere Sorte von Tendenzfilm handelte, auch Koeppen – wie wahrscheinlich alle damals im Filmgeschäft Tätigen – um bestimmte Konzessionen an die Reichsfilmkammer nicht herum kam.

Im Wissen darum und aus Angst vor dem Opportunismus-Verdacht, der ihn als zor­nigen Autor der fünfziger Jahre unglaubwürdig gemacht hätte, wird Koeppen diese Film­arbeit(en) nachträglich verschwiegen haben. Seine ganz persönliche ‚Wiedergutma­chungsleistung‘ hatte er längst erbracht, anonym und unerkannt bis 1992: Er, der im Dritten Reich ein Eulenspiegel gewesen sein wollte, machte sich 1946 zum Sprachrohr ei­nes überlebenden Juden und schrieb auf, was dieser nicht sagen konnte: Jakob Littners Aufzeichnungen … Es war eine der ersten Darstellungen der Shoah durch einen deutschen Autor.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag basiert auf: „Eulenspiegel schreibt Gespenstergeschichten. Wolfgang Koeppen im Dritten Reich“, in: Christiane Caemmerer/Walter Delabar (Hg.): Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933-1945, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 97-118. Wiederabgedruckt in: Jürgen Egyptien (Hg.): Wolfgang Koeppen. Neue Wege der Forschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S. 103-129. Umfassender hat sich Jörg Döring mit dem Thema auseinandergesetzt in seiner Monographie: „Ich stellte mich unter, ich machte mich klein…“ – Wolfgang Koeppen 1933-1948, Basel/Frankfurt/M.: Stroemfeld 2001 (Taschenbuch-Ausgabe: Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003). Spätere Einsichten in den Problemkomplex, die Döring als Herausgeber von Wolfgang Koeppen: Die Mauer schwankt, Wolfgang Koeppen Werke Band 2, Berlin: Suhrkamp 2011, gewonnen hat, sind in diesen Beitrag mit eingegangen.

 Anmerkungen

[1] Vgl. Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-1945. München 1981, S. 7-71.

[2] Vgl. Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfel­der. Frankfurt/M. 1993.

[3] Vgl. Karl Prümm: Zwiespältiges auf schwankendem Grund. Bemerkungen zur Neuauflage von Wolfgang Koeppens frühem Roman „Die Mauer schwankt“ (1935). In: Schreibheft (1982) Nr. 20, S. 51. Und ders.: Am­bivalenz. In: Die Zeit, 21.2.1992.

[4] Selten zeigte sich Koeppen in Interviews so empört wie diesen Vorwürfen gegenüber. Vgl. Wolfgang Koep­pen im Gespräch mit André Müller: „Ich riskiere den Wahnsinn.“ In: Die Zeit, 15.11.1991; ders.: Wider­spruch. In: Die Zeit, 21.2.1992 und ders.: Ohne Absicht. Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki in der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“. Göttingen 1994, S. 104-109.

[5] „Davon konnte ich sehr gut leben. Ich konnte dieses Geld gar nicht ausgeben.“ In: Ohne Absicht (wie Anm. 4), S. 118.

[6] Wolfgang Koeppen: Umwege zum Ziel. Eine autobiographische Skizze. In: Wolfgang Koeppen: Gesam­melte Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel (nachfolgend abgekürzt: W.K.: GW). Band 5, Berichte und Skizzen II, Frank­furt/M. 1990, S. 252.

[7] Koeppen im Gespräch mit Erhard Schütz und Karl Prümm: „Die Situation war schizophren.“ Zuerst in: Schreibheft (1983) Nr. 21, S. 8. Wiederabgedruckt in: Wolfgang Koeppen: Einer der schreibt. Gespräche und Interviews. Herausgegeben von Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt/M. 1995, S. 155-166.

[8] Koeppen im Gespräch mit Mechthild Curtius. In: W.K.: Einer der schreibt (wie Anm. 7), S. 222.

[9] Berlin – zwei Schritte abseits. In: W.K.: GW 5, S. 21-24.

[10] Dionysos. Gefangen unter der Friedrichstraße in tausend Fässern. In: W.K.: GW 5, S. 51-53.

[11] Berlin schickt Götter in die Welt. In: W.K.: GW 5, S. 66-68.

[12] Habent sua fata… Berliner Autos und ihre Schicksale. In: WK.: GW 5, S. 105-107.

[13] Die Lust, in Berlin früh aufzustehen. In: W.K.: GW 5, S. 79. Und: „Frühstück am Lehniner Platz“. In: W.K.: GW 5, S. 102-104.

[14] In: W.K.: GW 5, S. 72-78.

[15] Friedrich Sieburg: Persönliches und etwas mehr. Von den Pflichten eines Auslandsdeutschen. In: Frank­furter Zeitung, 9.4.1933. Auf diesen Text hat mich dankenswerterweise Erhard Schütz aufmerksam gemacht.

[16] Zitiert nach: Gundolf S. Freyermuth: Reise in die Verlorengegangenheit. Auf den Spuren deutscher Emi­granten. Hamburg 1990, S. 221.

[17] Vgl. Koeppen: Widerspruch (wie Anm. 4).

[18] W.K.: GW 5, S. 84-87.

[19] W.K.: GW 6, S. 57-60.

[20] Vgl. Karl Prümm: Ambivalenz (wie Anm. 3).

[21] Alfred Rosenberg: Revolution in der bildenden Kunst. In: Völkischer Beobachter, 7.7.1933. Zitiert nach: Joseph Wulf: Die bildenden Künste im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Frankfurt/M., Berlin 1989, S. 48.

[22] Gottfried Benn: Bekenntnis zum Expressionismus. In: Deutsche Zukunft, 5.11.1933, S. 15-17. Zitiert nach: Expressionismus. Der Kampf um eine literarische Bewegung. Hrsg. von Paul Raabe. München 1965, S. 235-246.

[23] Börries v. Münchhausen: Die neue Dichtung. Erstdruck in: Deutscher Almanach auf das Jahr 1934. Leip­zig 1933, S. 28-36.

[24] G. Benn (wie Anm. 22), S. 243.

[25] G. Benn (wie Anm. 22), S. 245.

[26] W.K.: GW 6, S. 58.

[27] W.K.: GW 6, ebd.

[28] W.K.: GW 6, S. 57.

[29] Karl Prümm: Ambivalenz (wie Anm. 3).

[30] W.K.: GW 6, S. 46-49.

[31] W.K.: GW 6, S. 48f.

[32] W.K.: GW 6, S. 49.

[33] Vgl. Personalakte Koeppen im Bundesarchiv, Außenstelle Zehlendorf (ehemals Berlin Document Center).

[34] Vgl. W.K.: Einer der schreibt (wie Anm. 7), S. 229.

[35] Ihering-Nachlaß (2324), Akademie der Künste Berlin.

[36] Vgl. z.B. W.K.: Es war einmal in Masuren. Frankfurt/M. 1991.

[37] In Koeppens Nachlass hat sich ein Brief gefunden, in dem der Autor dem Nennonkel gegenüber wortreich zu rechtfertigen versucht, wieso er ihn zur literarischen Figur gemacht hatte: „Sehr verehrter und lieber Herr Baurat! (…) Der Umstand, dass der Held des Romans ein Baumeister ist, gibt den Anlass zu einer Erklärung (…) Schon im ersten Teil des Romans wird in der Figur des Herrn von Süde die Erfindung Ihnen offenbar werden; im zweiten oder dritten aber könnten Sie, so fürchte ich nun manchmal, von einigen Umständen des Ortes und der Zeit zu dem Irrtum einer Identifizierung verführt werden. Ich gebe zu, dass für diese Teile das äussere Bild mir aus meiner Erinnerung an Ortelsburg, das ich nicht nenne, gekommen ist, und dass ich den Eindruck, den bestimmte Vorgänge in der Welt der äusseren Erscheinung auf mich gemacht haben (seinerzeit gemacht haben), in meiner Weise wiedergegeben habe.“ (Koeppen an Theodor Wille v. 18.8.1935; alle Unterstreichungen im Originaltyposkript; J.D.) Dem Vorwurf, Schlüsselromane zu schreiben, war Koeppen im weiteren Verlauf seiner Werkentwicklung noch des öfteren ausgesetzt. Hier adressiert Koeppen den Onkel in dem Bewusstsein, dass sein Roman auch eine Beziehungsgeschichte zwischen nahen Angehörigen erzählt, die fortan in Konkurrenz zum Familiengedächtnis treten wird. Und er tut das nicht ohne Beklemmung. Zudem ist in dem Brief mitprotokolliert, wie distanziert Koeppens Verhältnis zu Theodor Wille, dem Vorbild seiner Romanfigur, zeitlebens gewesen sein muss.

[38] W.K.: GW 1, S. 179.

[39] Ortelsburg war in der gesamten Geschichte des Ersten Weltkriegs die einzige zerstörte Stadt auf deutschem Boden geblieben. Die Kriegshandlungen, die dazu geführt hatten, sind Teil der Tannenberg-Schlacht von 1914, die einen zentralen Erinnerungsort und den einzigen deutschen Siegesmythos des Ersten Weltkriegs bezeichnet. Partnerstädte für Ortelsburg, in denen damals für den Wiederaufbau der Stadt geworben und gesammelt wurde, waren keine geringeren als Berlin und Wien. Insofern wird der zeitgenössische Leser von 1935 Die Mauer schwankt auch als politischen Zeitroman über den Ersten Weltkrieg gelesen haben – zumal auch die NSDAP den Tannenberg-Mythos für ihre propagandistischen Zwecke zu instrumentalisieren versuchte. Koeppen selber hatte seine Erinnerungen an die Zerstörung von Ortelsburg auch in einem langen Feuilleton für den Berliner Börsen-Courier festgehalten (W.K.: „Masuren, August 1914. Die Zerstörung der Stadt Ortelsburg, die Russenflucht und der Sieg von Tannenberg“, in: Berliner Börsen-Courier v. 11.8.1933.) Vgl. dazu: Jörg Döring: „Kommentar (Entstehungsgeschichte, Rezeption, Druckgeschichte)“, in: Wolfgang Koeppen: Die Mauer schwankt. Werke Bd. 2, Hg. v. Jörg Döring, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 295-421.

[40] Karl Prümm: Zwiespältiges auf schwankendem Grund (wie Anm. 3), S. 49.

[41] W.K.: GW 1, S. 419.

[42] Karl Prümm: Zwiespältiges auf schwankendem Grund (wie Anm. 3), S. 50.

[43] Karl Prümm: Zwiespältiges auf schwankendem Grund (wie Anm. 3), S. 51.

[44] W.K.: GW 1, S. 320.

[45] W.K.: GW 1, S. 411. 

[46] W.K.: GW 1, S. 415f.

[47] W.K.: GW 1, S. 165.

[48] Ihering-Nachlaß (2321).

[49] Karl Prümm: Zwiespältiges auf schwankendem Grund (wie Anm. 3), S. 47.

[50] Wie Anm. 48.

[51] Ihering-Nachlaß (2323).

[52] Koeppen-Personalakte im BA, Außenstelle Zehlendorf (wie Anm. 33).

[53] W.K.: Ein Fremdenheim. Phantasie. In: Frankfurter Zeitung, 26.5.1939.

[54] Vgl. W.K.: Einer der schreibt (wie Anm. 7), S. 159.

[55] Diese Produktionsankündigung findet sich als Teil des Bavaria-Nachlasses im Archiv der Hochschule für Film und Fernsehen, München.

[56] Zitiert nach: Drehbuch-Original im Schriftgutarchiv der Deutschen Kinemathek, Berlin.