Verkappte Verdrängung

Zwei Dokumentationen und Diskussionsbeiträge zur Mahnmal-Debatte

Von Barbara WelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Welzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die öffentliche Debatte um die Errichtung eines "Denkmals für die ermordeten Juden Europas" gehört - darauf ist verschiedentlich hingewiesen worden - zu den wichtigsten intellektuellen und gesellschaftlichen Ereignissen der letzten Jahre in der Bundesrepublik. Weite Teile dieser Debatte wurden in der Tagespresse ausgetragen. Es ist daher außerordentlich zu begrüßen, daß Hauptlinien der Diskussion jetzt in zwei Sammelbänden nachvollziehbar sind. Die beiden Bände sind vergleichsweise unterschiedlich ausgefallen, ohne daß jedoch einem der Vorzug zu geben wäre. Während Cullen ein wohlfeiles Taschenbuch mit 32 Beiträgen, einer Chronik, einem Vorwort von Wolfgang Thierse und einem Anhang mit Informationen zu den Wettbewerben vorlegt, präsentiert Jeismann eine Auswahl etwa doppelt so vieler Texte mit einem perspektivierenden Einleitungsessay und kann dem Band Abbildungen beigeben. Insgesamt spannt Jeismann einen größeren Horizont, wenn er die Auswahl mit Stellungnahmen zur Neuen Wache beginnen läßt und diese Denkmalsetzung in seiner Einleitung "Zeichenlehre. Vom nationalen Kriegsgedenken zum kulturellen Gedächtnis" noch einmal in einen größeren Zusammenhang stellt. Das etwas spätere Erscheinungsdatum ermöglichte auch, die Walser-Bubis-Debatte mit einzubeziehen, die Cullen nur noch in die angehängte Dokumentation einarbeiten konnte.

Die Diskussion um das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" ist spätestens seit dem ersten Wettbewerb 1995 in bemerkenswerter Breite und Engagiertheit geführt worden: Cullen gibt an, seine 32 Texte aus einer Dokumentation von ca. 1500 Stellungnahmen ausgewählt zu haben. Es kann daher auch kaum verwundern, daß nur sechs Stellungnahmen in beiden Bänden zu finden sind. Gleichwohl ist das Gesamtbild, das beide Textsammlungen evozieren durchaus ähnlich. Beiden gelingt es, die Geschichte des Projektes, seine Transformationen, die kontroversen Argumente und die nicht ausgeräumten Probleme, aber auch die Stärken und Fehlstellen der Debatte darzustellen. Die wenigen Einschränkungen seien nicht verschwiegen. Weder Cullen noch Jeismann geben als Ausschreibungstext des ersten Wettbewerbs den von der Senatsbehörde ausgegebenen Text wieder, Cullen zitiert einen später vom Senat publizierten Auszug, Jeismann einen Anzeigentext: Hier dürfen die Leser präzisere Nachweise erwarten. Und man wird auch fragen dürfen, ob die teilweise polemischen und keiner Sachargumentation mehr verpflichteten Ausfälle gegen die Inititiatorin Lea Rosh wirklich in einer Dokumentation noch einmal hätten reproduziert werden müssen. Erwähnung hätten schließlich die wichtigen Diskussionsbeiträge finden müssen, die die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst bereits im September 1995 publiziert hat: "Der Wettbewerb für das 'Denkmal für die ermordeten Juden Europas'. Eine Streitschrift".

In der Rückschau ist die mehrfache Verschiebung des Projektes in seiner gesellschaftlichen Verortung von entscheidender Bedeutung. Die erste Phase ist seit 1988/89 eine Initiative eines privaten Fördervereins in der alten Bundesrepublik für das alte West-Berlin. Initiatoren waren - das ist hinlänglich bekannt - Lea Rosh und Eberhard Jäckel. Sie wiesen auf den Mißstand hin, daß im Land der Täter kein zentrales "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" existierte. Als Ursprungserlebnis nannten sie einen Besuch in Yad Vashem, der zentralen Gedenkstätte des Staates Israel. Mit dieser Referenz begann eine Vielzahl symptomatischer Unschärfen, die im Laufe der folgenden 10 Jahre regelmäßig von vielen Seiten angesprochen wurden, aber - so wird man wohl konstatieren müssen - bis heute nicht wirklich ausgeräumt sind. Als erster Ort war das Gelände der "Topographie des Terrors" vorgesehen. An diesem 'Ort der Täter' wurde jedoch eine Einschränkung auf nur eine Gruppe der Verfolgten zurückgewiesen. Eine zweite Phase trat nach Maueröffnung und Wiedervereinigung ein, als die Bundesregierung ein riesiges Gelände bei den ehemaligen Ministergärten zur Verfügung stellte. Auch der Status des Projektes hatte sich jetzt geändert, die private Initiative wurde von der Bundesregierung und vom Land Berlin unterstützt. Die Beteiligung der Regierung, namentlich des Bundeskanzlers, ist regelmäßig in Zusammenhang gebracht worden mit den Problemen, die mit der zentralen Gedenkstätte in der Neuen Wache entstanden waren. Hier war 1993 die "Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland" eingeweiht und "Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft" gewidmet worden. Als Symbolisierung dieses Gedenkens erhielt bekanntlich eine vergrößerte Replik der Skulptur "Mutter mit totem Sohn" von Käthe Kollwitz Aufstellung. Ungehört verhallten die von vielen Seiten begründet vorgetragenen Kritikpunkte. Jeismann druckt in seinem Band noch einmal den engagierten Beitrag von Koselleck, "Stellen uns die Toten einen Termin?" ab, der - wie viele andere Äußerungen - nichts an Deutlichkeit vermissen läßt: "Nicht die überlebende Mutter kann die zentrale Figur unserer zentralen Gedenkstätte sein - es sind die Witwen, Frauen und Mütter, die selbst umgekommen sind, ohne oder mit ihren Kindern, in den Luftschutzkellern, auf der Flucht, in den Gruben der Exekutionen und in den Todesfabriken. [...] Wessen wir auch zu gedenken haben, sind die toten Frauen selbst. Sie werden von der Pietà, als Kriegerdenkmal, ausgeschlossen." Und weiter wird daran erinnert, daß die Pietà ein christliches Bild und ein Hoffnungszeichen für christliche Erlösung ist. "[...] sollen auch die - überlebenden - Juden genötigt werden, im toten Sohn ihren Erlöser zu finden? Es ist das zwingende Gebot unserer - wie auch immer zu deutenden - gemeinsamen Geschichte, kein Denkmal zu setzen, das einen Ursprung des Antisemitismus, und insoweit auch der Judenmorde, christlich ausblendet. Die Pietà bleibt ein christliches Denkmal, kein Denkmal, das auch nur andeutungsweise versucht, die vernichteten Juden einzubeziehen." Es war daher wohl nur konsequent, daß über ein von diesem Gedenkort unabhängiges Denkmal für die ermordeten Juden zunehmend nachgedacht wurde.

Die folgende Phase des Denkmalprojektes war ein öffentlicher Wettbewerb (1994/95), der - in seltsam ungeklärtem Status des Projektes als Initiative eines privaten Fördervereins oder als staatlich getragenes Denkmal - die Nutzung als repräsentative, protokollarische Gedenkstätte in der Aufgabenstellung voraussetzte. Nach der Veröffentlichung des Wettbewerbsergebnisses und der Ausstellung der über 500 eingereichten Entwürfe, setzte dann die breite öffentliche Kontroverse ein. Man erinnert sich, daß die Jury zwei erste Preise vergab; den einen für den später bevorzugten Entwurf von Christine Jackob-Marks u.a., der eine monumentale, ansteigende Betonplatte vorsah, auf der Steine aus Massada verstreut liegen und die Namen der getöteten Juden sukzessive eingetragen werden sollten. Der andere Entwurf stammte von Simon Ungers und sah ein Geviert aus vier, an Eisenbahnschienen gemahnenden Eisenträgern vor, in die Namen von Konzentrationslagern eingeschnitten sein sollten, so daß man sie im Innern des eingegrenzten Raums lesen könnte. Erst scharfe Kritik deckte die eingebauten "Fehlleistungen" der prämierten Entwürfe auf (vgl. neben den in die beiden Sammelbänden aufgenommenen Stellungnahmen insbesondere auch Henryk M. Broders "Deutschmeister des Trauerns", Der Spiegel 16/1995 und Silke Wenks "Ein Ort wie kein anderer. Zur Kontroverse über das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in der Mitte Berlins", Frankfurter Rundschau, 14. Oktober 1995). So zielt der Verweis auf Massada auf einen kollektiven Selbstmord von Juden; so schafft der Denkmalsentwurf von Ungers so etwas wie einen umgrenzten, beinah heiligen Raum, in dem der Besucher den Namen der Vernichtungslager als Lichtzeichen begegnet und greift damit in das große, aber nicht angemessene Arsenal ästhetischer Sinnstiftung. Gegen die Nennung der Namen von verstorbenen Juden sind viele Einwände geltend gemacht worden, die von dem Hinweis auf die fehlende Vollständigkeit unseres Wissens über alle Ermordeten, bis hin zu rechtlichen Vorbehalten des Datenschutzes reichten. Leider ist in keinen der beiden Sammelbände der wichtige Beitrag von Michal Bodemann "Der Kern des Unbehagens" (Der Tagesspiegel, 1. November 1997) aufgenommen: "Aber welches sind denn die Namen der 'ermordeten Juden Europas'? Diejenigen, die nach jüdischer Definition Juden sind? Das kann nicht gemeint sein. Zählen wir also zu den ermordeten Juden alle diejenigen hinzu, die erst dann wußten, daß sie 'Juden' waren, als die Gestapo vor der Tür stand? Oder diejenigen, die es weit von sich gewiesen hätten, sich als Juden zu identifizieren? [...] Und die von den Nazis kreierten 'Mischlinge' und 'Geltungsjuden'? [...] Wissen wir genau, ob sie als 'Juden' ermordet wurden, oder ob die, denen ihr Name zurückgegeben werden soll, nicht als Sozialdemokraten, Kommunisten, als Homosexuelle, als in irgendeinem europäischen Untergrund Kämpfende erschossen wurden oder in Lagern starben? Der Begriff der 'ermordeten Juden Europas' bezieht sich auf Mitglieder der jüdischen Religionsgemeinschaft - oder er folgt, kaschiert, der nationalsozialistischen Definition der Juden als Rasse. Beide Varianten sind unerträglich: die erste, weil sie eine große Gruppe Ermordeter ausschließen würde; die zweite, weil sie die rassische Definition legitimiert."

Die beiden Sammelbände spiegeln in ihrer Textauswahl die weitgehende Einengung der öffentlichen Diskussion auf die beiden prämierten Projekte. Es gehört zu den folgenreichen Versäumnissen der damaligen Diskussion, daß keine breite Debatte über andere Entwürfe, andere Denkmalkonzepte, andere Symbolisierungen stattfand. Immerhin hatte die Jury insgesamt 17 Entwürfe mit Auszeichnungen bedacht, und man wird vermuten dürfen, daß die folgende Kontroverse anders und wohl auch fundierter verlaufen wäre, wenn eine breite Öffentlichkeit die Gelegenheit erhalten hätte, mindestens diese 17 Entwürfe in Abbildungen und Analysen kennenzulernen.

Die vierte Phase begann mit einem Veto des Bundeskanzlers gegen den zur Realisierung bestimmten Entwurf (1995) - ein Eingriff in ein formal geregeltes Verfahren, der zwar in seiner Konsequenz vielerorts Erleichterung hervorrief, jedoch keine nachvollziehbare Legitimation vorweisen konnte. Es folgten Anhörungskolloquien (1997), bei denen die Veranstalter alle kritischen Anmerkungen abbügelten und einmal mehr demokratische Entscheidungsfindungsformen autoritativ zurückwiesen, um am Ende doch von den zunächst für unverrückbar erklärten Vorgaben abzuweichen.

Als fünfte Phase folgte eine zweite, eingeschränkte Ausschreibung (1997), bei der sich die Findungskommission jedoch nicht auf einen ersten Platz festlegte, sondern vier Entwürfe, von denen die Projekte von Eisenman/Serra und Gesine Weinmiller einen bevorzugten Rang zugesprochen bekamen, zur Diskussion stellte (November 1997). Doch dieser öffentlichen Debatte kam wiederum eine Stellungnahme des Bundeskanzlers zuvor, die - in seltsamer Verkennung demokratischer Entscheidungsformen - von weiten Teilen der Presse als Vorentscheidung behandelt wurde. Vielleicht hätte man sich daher doch die Aufnahme von Klaus Böllings eindringlichem Appell "Kein Machtwort, bitte!" (Die ZEIT, 5. Februar 1998) in einen der beiden Sammelbände gewünscht. Beide Textzusammenstellungen spiegeln, wie sehr sich die Diskussion beinahe von Anfang an auf den Entwurf von Eisenman/Serra konzentrierte. Die anderen drei Projekte von Gesine Weinmiller, Jochen Gerz und Daniel Libeskind wurden in der Presse nur nachgeordnet behandelt, und das heißt: der breiteren Öffentlichkeit weitgehend unterschlagen. Die beiden Sammelbände drucken auch für diese Phase der Diskussion keinen einzigen Beitrag ab, der sich einem anderen Entwurf als demjenigen von Serra/Eisenman widmet und zementieren damit eine ohnehin schon verengte Perspektive. Deutlich machen allerdings bereits die abgedruckten Stellungnahmen, wie groß generell die Vorbehalte sind, sich mit der ästhetischen Sprache von öffentlichen Symbolen und Denkmalen fundiert auseinanderzusetzen. So brechen sich noch immer die das ganze 20. Jahrhundert durchziehenden Debatten um Gegenständlichkeit und Abstraktion Bahn - und das zuweilen in einer Aktualität, als seien sie jetzt erstmals zu verhandeln und als hätten - darauf hat etwa Tilmann Buddensieg hingewiesen - nicht einzelne Argumente und Formulierungen ein historisches Gepäck, das zur Vorsicht beim Umgang mahnen sollte. Nicht minder groß sind die Vorbehalte gegenüber visuellen, ästhetischen Symbolisierungen überhaupt. In gelegentlich verquaster Gemengelage wird dann etwa die Nichtdarstellbarkeit des Unbegreiflichen mit der Ablehnung der künstlerischen Gestaltung eines Denkmals kurzgeschlossen. Insgesamt ist ablesbar, wie groß das Mißtrauen gegenüber jeder Art von 'Staatsästhetik' ist. Doch auch die vorgetragenen Stellungnahmen zu dem Entwurf von Eisenman/Serra bzw. der überarbeiteten Version von Eisenman lassen entscheidende Fragen offen. Von den Befürwortern wird zuweilen enthusiastisch hervorgehoben, daß in dem Stelenwald die Besucher nur als einzelne gedenken können, ja sogar, daß der Entwurf zunächst das staatliche Gedenken verweigerte. Hier spiegeln sich einmal mehr die unscharfen Vorstellungen von individuellem und kollektivem Gedächtnis. Indem sich das Denkmal paradigmatisch auf einzelne und auf individuelles Gedenken zurückziehen will, werden gleichermaßen kollektive Erinnerungsakte ausgeschlossen, wie aber auch die Erinnerung an kollektive Verantwortung. Ein solches Denkmal läuft Gefahr, verkappte Verdrängung zu leisten, weil es die Verantwortung staatlicher Instanzen und staatlicher Bürokratie, institutionelle Schuld oder Mitschuld, wirtschaftlichen und finanziellen Gewinn aus der Judenvernichtung etc. hinter individueller Betroffenheit unsichtbar macht, wenn es als einzige Reflektionsinstanz das Individuum zuläßt.

Die nächste Phase begann im Bundestagswahlkampf im Sommer 1998. Mit dem Regierungswechsel wurde festgeschrieben, daß eine Entscheidung über das Denkmal im Deutschen Bundestag, und zwar, wie es inzwischen heißt, ohne Fraktionszwang in persönlicher Abstimmung erfolgen wird. Zuvor hatte allerdings der neue Staatsminister für Kultur - gewissermaßen in Fortsetzung der anmaßenden Eingriffe des geschiedenen Bundeskanzlers - wiederum außerhalb der vorgesehenen Verfahrenswege in die Gestaltung des Projektes hineingeredet. Forciert wird hier die Integration eines Museums und einer Forschungsstätte, gewissermaßen als Ausweg aus einem symbolischen, nicht aber explizit didaktischen Ort.

Mit der Übergabe der Entscheidung an den Bundestag hat sich der Status des Projektes, das als private Initiative begonnen hat, noch einmal grundsätzlich geändert. Jetzt ist das Denkmal ein offizielles Projekt der Bundesrepublik Deutschland. Mit diesem neuen Status aber gewinnen eine Reihe von Fragen, deren Klärung während der gesamten Debatte regelmäßig angemahnt wurde, eine aktuelle, nicht mehr aufschiebbare Dringlichkeit. Ungeklärt geblieben ist - seit der Referenz auf Yad Vashem ganz am Beginn des Projektes -, ob das geplante Denkmal als Denkmal an die Opfer oder aber als Denkmal gegen die Täter und die Taten fungieren soll. Niemand kann dies doch ernsthaft nach der Neuen Wache noch einmal durcheinander mischen wollen. Und nicht immer klar ist auch, ob denn dieses Denkmal, wenn es ein Denkmal an die Opfer sein soll, ein Ort ist, an dem die Juden ihrer Toten gedenken sollen, oder aber an dem nichtjüdische Deutsche der jüdischen Toten oder vielleicht auch des Verlustes für die eigene Kultur - der entstandenen Leere, wie es regelmäßig heißt - gedenken möchten. Doch auch die Positionierung des Denkmals in der Geschichte ist nicht geklärt. Soll es ein Denkmal ausschließlich des gedenkenden Rückblicks sein, wie gerade von Verteidigern des Standorts in den ehemaligen Ministergärten vorgetragen wird? Oder ist der Ort des Gedenkens in der politischen Gegenwart nicht stärker im Sinne gegenwärtiger (nationaler) Identität, die sich die Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch einschreibt, zu suchen? Dann wird aber eher ein Standort im unmittelbaren Zusammenhang aktueller politischer Topographie angemahnt, etwa am Reichstag oder bei der Neuen Wache. Doch greift dieser Konflikt nicht nur räumlich, sondern auch in der zeitlichen Verortung des Denkmals. Soll es zunächst einmal eine Gestaltung in und für die eigene Gegenwart sein? Oder ist es - wie in manchen Beiträgen explizit eingerechnet und gefordert - ein Denkmal für die nächsten 50 bis 100, oder gar für mehrere hundert Jahre? Sucht also eine Gesellschaft nach gegenwärtiger Selbstverständigung oder will eine Generation ihren Appell, aber auch ihre Lesart der deutschen Geschichte und des Holocaust nachfolgenden Generationen aufdrücken? Doch damit nicht genug. Mit dem Status des Denkmals als einem offiziell, vom Parlament eingesetzten Denkmal wird es "zum legitimierenden Zeichenkanon dieser Republik gehören". Dann aber wird die Eingrenzung auf nur eine der Gruppen von Opfern und Verfolgten zu einem politischen Problem ersten Ranges. Konrad Schuller erinnert entsprechend an die Grundartikel des Grundgesetzes: "Der Staat aber sollte den Verdacht vermeiden, er mache Unterschiede zwischen politischen Verfolgten und Getöteten. Er darf niemanden 'wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauung' zurücksetzen. Wenn der Bundestag daher ein Denkmal für die Juden bestimmt, wird die Forderung entstehen, auch anderen Gruppen ein Zeichen gleichen Gewichts zuzugestehen." Schon vorher war in ausgezeichneten Stellungnahmen auf dieses Problem verwiesen worden, so etwa in dem zurecht in beide Textsammlungen aufgenommenen Beitrag von Reinhard Koselleck, "Die falsche Ungeduld. Wer darf vergessen werden?": "Aus einem Denkmal nur für die Juden allein folgt zwingend, daß wir für alle anderen Opfergruppen entsprechende Denkmäler errichten müssen. [...] Jede Lösung unterhalb dieser Vielfalt von Denkmälern wäre verlogen. Doch bisher ist es nur bei Lippenbekenntnissen zur Toleranz geblieben. Für keine der anderen Opfergruppen gibt es eine staatliche Initiative oder private Pressure-groups, als seien ihre Toten Tote minderen Ranges, die eher der Vergessenheit anheimgegeben werden dürfen. Es ist die makabere Ironie dieser [...] Lösung, daß wir uns weiterhin an die Häftlingskategorien der SS halten, die in den Konzentrationslagern alle so oder so definierten Gruppen gegeneinander ausspielte. Akzeptieren wir einmal das Denkmal nur für die Juden, dann erhebt sich daraus unentrinnbar jene oft zitierte Denkmalshierarchie, die je nach Zahl der Ermordeten und je nach Einfluß der Überlebenden die nazistischen Tötungskategorien festschreibt und in unterschiedlichen Größenordnungen versteinert. Es stellt sich als Frage, ob wir als Nation der Täter diese Folgelasten gutheißen können." Jeismann bilanziert denn auch in seinem Einleitungsessay die verfahrene Diskussion folgendermaßen: "Das Denkmal von Serra/Eisenman allen Verfolgten, Gequälten und Ermordeten zu widmen, was im Land der Täter angemessen wäre, wird kaum mehr möglich sein. Denn das hieße, ein Denkmal für die Juden nicht zu bauen. Daß man es soweit hat kommen lassen, ist der eigentliche Skandal."

Der gesellschaftlich-politische Kontext des geplanten Mahnmals hat sich in den letzten Wochen mit dem Beginn der Nato-Luftangriffe gegen Serbien und Milosevics und der Beteiligung der Bundeswehr an diesem militärischen Einsatz noch einmal - und bisher kaum reflektiert - grundlegend geändert. Mindestens die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte sowie das vereinigte Deutschland und ihr in historischer Abgrenzung gegen das Dritte Reich rückversichertes Selbstverständnis waren parteienübergreifend bestimmt von dem Konsens, sich nicht an militärischen Kampfhandlungen zu beteiligen. Es ist jedoch (mehr oder minder explizit) der abgrenzend legitimatorische Rückbezug auf ein und dieselbe historische Epoche, der jetzt einen Krieg rechtfertigt, um Völkermord zu verhindern. Gewissermaßen hinter dem Rücken des Denkmals haben sich in solcher Art veränderter politischer Situation jedoch - ohne daß auch nur ein einziger der ohnehin schon gewichtigen Vorbehalte entkräftet wäre - der Gegenwartsbezug, das symbolische Kapital in der Selbstverständigung gegenwärtiger Politik und damit eben auch die Bedeutung des "Denkmals für die ermordeten Juden Europas" in der neuzubeziehenden Hauptstadt Berlin noch ein weiteres Mal grundlegend gewandelt.

Titelbild

Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.): Der Wettbewerb für das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas". Eine Streitschrift.
Verlag der Kunst, Berlin 1995.
195 Seiten, 8,20 EUR.
ISBN-10: 3364003629

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Titelbild

Michael S. Cullen: Das Holocaust-Mahnmal.
Pendo Verlag, Zürich 1999.
297 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3858425192

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Titelbild

Michael Jeismann: Mahnmal Mitte. Eine Kontroverse.
DuMont Buchverlag, Köln 1999.
220 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3770148207

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